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Frankensteins Monster
ОглавлениеDie Straßenbahnfahrt war eine einzige Tortur – anscheinend ist mein Verfolgungswahn jetzt notorisch. Immerhin weiß ich nicht, ob Henry noch hinter mir her ist.
Womöglich ist es ja nun vorbei und ich mache mir umsonst Sorgen. „Oder Henry vollendet das, was Ben angefangen hat“, meldet sich die böse Stimme in meinem Kopf zurück. Irgendwie ein bedrückender Gedanke und wieder mal absolut typisch für mein verkorkstes Leben. Okay sorry, da brach gerade ein Hauch Melodramatik durch.
War fast schlimmer, als der Versuch, meinen BH über den Verband zu legen. Kurz habe ich mit dem Gedanken gespielt, ohne ihn aus dem Haus zu gehen, doch ihn gleich wieder verworfen und die Zähne zusammengebissen. Ich bin bereits eine Abhängige. Ohne ihn fühle ich mich nackt. Wer hat eigentlich diese Brustfessel erfunden? Da sag ich doch vielen Dank nochmal.
Ganz zu schweigen von meinem Körper, dessen Anblick ich im Moment kaum ertragen kann. Ich wusste nicht, dass so viele unterschiedliche Farbnuancen von blauen Flecken an einem einzigen Organismus schillern können. Ich sollte meinen Körper für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung stellen.
Meine schwarze Stoffhose und die dunkelgrüne, hochgeschlossene Weste mit den langen Ärmeln, unter denen meine Verbände und die aufgeschürften Hände verschwinden, waren da weniger das Problem.
Mit einem Seidentuch, das für diese Jahreszeit absolut zu warm ist, habe ich die Würgemale an meinem Hals verdeckt, die mich ständig an das erinnern, was passiert ist.
Heute Morgen vor dem Spiegel haben sich erschreckende Ähnlichkeiten zu Frankensteins Monster aufgetan.
Ich habe versucht, mit Make-up zu retten, was noch zu retten ist. Wohl mit minderem Erfolg, was mir die Spiegelung meiner selbst in der Eingangstür der Firma verrät. Eins ist klar, diese Augenringe sind Schatten kranker Taten.
Dementsprechend froh bin ich, endlich durch die Labortüre schlüpfen zu können.
Teddy ist bereits da und grinst mich an.
„Hi Charlie, geht’s dir besser? Das muss ja eine mördermäßige Migräne gewesen sein, wenn du sogar im Krankenhaus warst.“ Ah, Louis hat anscheinend den wahren Grund meiner Abwesenheit mit einem Schwindel getarnt. Bin ich froh.
„Tja, was tut man nicht alles für ein paar freie Tage“, spotte ich. Es lebe der Sarkasmus.
Mein Rücken protestiert gewaltig, als ich mich an meinen Sessel lehnen will. Ich stoße Luft aus, um den Schmerz zu kompensieren, was ich mit einem gekünstelten Husten zu vertuschen versuche.
Krampfhaft klammere ich mich an meinem Tisch fest, bis das Gröbste abgeklungen ist. Schätze, da muss ich jetzt durch, aber ich wär keine Sekunde länger zu Hause geblieben. Da gibt es definitiv zu viel Zeit, um zu grübeln. Ich brauch jetzt dringend Ablenkung.
Anscheinend hat sich einiges an Arbeit angehäuft. Mein BlackBerry spuckt gerade 202 Anrufe in Abwesenheit aus und kriegt sich vor lauter Brummen nicht mehr ein. Ganz ruhig, Kumpel. Die haben mir meine Tasche im Krankenhaus ausgehändigt. Die hab ich wohl im Eingangsbereich der Galerie verloren, als mich Ben überwältigt hat. Bei dem Gedanken stellen sich mir die Nackenhaare auf.
Okay, reicht mir Arbeit.
In der Liste der Anrufe in Abwesenheit sind auch zahlreiche von Damian und William zu finden. Scheiße, ich sollte sie zurückrufen. Die machen sich sicher Sorgen. Aber irgendwie hab ich dazu jetzt keine Kraft.
Teddy verlässt das Labor. Beim Geräusch der ins Schloss fallenden Türe fahre ich erschrocken hoch. Okay, leichte Schreckhaftigkeit – Phase 1 einer sich anbahnenden Psychose.
Das Klingeln meines BlackBerrys führt erneut zu einem akuten Herzstolpern. Ich presse die Faust an meine Stirn und gehe ran.
„Jones.“
„Charlie. Ich war bei dir zu Hause, aber niemand macht auf. Wo bist du?“ Damian. Er klingt aufgebracht.
Keine Angst, ich stürz mich nicht gleich vom nächsten Wolkenkratzer. Suizidgefahr besteht erst ab Phase 10, außerdem hab ich Höhenangst. Okay, das war makaber, selbst für meine Verhältnisse.
„In der Arbeit“, antworte ich.
Stille.
„Wie … wie geht es dir?“ Stammelt er etwa gerade? Da muss ich erst entführt werden, um den Mann aus der Ruhe zu bringen.
„Gut.“ Das kam jetzt nicht sehr überzeugend rüber, Lügnerin.
„Was hat er …“ Zögern. „Ich … ich muss dich sehen.“ Ich weiß Damian, aber ich bin noch etwas aus dem Häuschen.
„Lass mir etwas Zeit … okay?“, bitte ich ihn. Luft entweicht lautstark aus seinen Lungen, als hätten ihm meine Worte beinahe körperliche Schmerzen zugefügt.
„Okay“, erwidert er gepresst. Er musste sich wohl zu dem Wort zwingen.
„Machs gut, Damian.“
„Charlie?“
„Ja.“
Zögernde Stille.
„Du kannst mich jederzeit anrufen. Jederzeit“, bietet er an.
„Ich weiß.“ Ich habe bereits aufgelegt und hämmere mein Telefon an meinen Schädel.
Phase 2 wurde soeben erreicht: Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben. Na toll. Wenn das so weiter geht, bin ich in ein paar Stunden ein psychisches Wrack.
Ein weiteres Klingeln reißt mich fast vom Bürosessel. Ich frage mich, ob der aufkommende Wahnsinn wohl von Dauer ist.
„Jones.“
„Charlie, ich bins William. Wo bist du? Ich wollte nach dir sehen“, erklärt er.
„In der Arbeit.“
„Wie fühlst du dich? Ist alles in Ordnung? Sie wollten mir nicht sagen, was passiert ist“, plappert er einfach drauflos.
„Es geht mir gut.“ Lügnerin.
„Können wir uns treffen? Ich will mich selbst davon überzeugen.“ Mann, irgendwie kommt mir dieses Telefongespräch bekannt vor. Haben die sich vielleicht abgesprochen?
„Lass mir etwas Zeit … okay?“, wiederhole ich die Worte von vorhin.
„Charlie ich … es macht mich fertig nicht zu wissen … Hat dir dieser Ben etwas …“ Ich lege auf, denn Schnappatmung hat beim Klang seines Namens eingesetzt. Okay, scheiße Panikattacke – Phase 3.
Schwindel setzt ein und ich kralle mich in meinen Schreibtisch, um nicht vom Stuhl zu kippen. Meine Hände zittern. Nach drei tiefen Atemzügen hab ich mich wieder halbwegs im Griff.
Wie besessen schüttle ich meinen Kopf und will die Erinnerungsfetzen aus meinem Kopf vertreiben. Okay, jetzt nichts wie an die Arbeit – ich muss mich ablenken, bevor ich noch durchdrehe.
Der Tag vergeht wie im Flug.
Ich bin noch keine zehn Sekunden aus der Firma raus, da klingelt mein Telefon erneut. Wer hat dieses geißelnde Instrument eigentlich erfunden? Dem würd ich gern das Teil über die Rübe ziehen. Jederzeit erreichbar – dass ich nicht lache.
„Jones.“
„Wo bist du? Du hattest versprochen, jeden Tag ins Krankenhaus zu kommen.“ Der ehrenwerte Mister Überfürsorglich: Elijah. Ich rolle mit den Augen.
„Ja, jedoch haben wir das Wann nicht näher spezifiziert. Ich habe also noch ganze … fünf Stunden, einundzwanzig Minuten und fünfundvierzig Sekunden Zeit, bevor dieser Tag sich dem Ende neigt. Außerdem bin ich bereits auf dem Weg zu dir“, verteidige ich mich. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, denn sein Ton wird milder.
„Ach so, dann bis gleich“, lenkt er ein.
Ich lege auf und überfliege meine neuesten Mails, während ich gen Straßenbahn eile. Beinahe knalle ich frontal in einen Anzugträger, was meine Herzfrequenz gefährlich erhöht.
Dem ersten Schreck weicht Gräuel, denn da steht dieser Schnüffler Ethan Connor vor mir.
„Ich habe Sie doch nicht erschreckt?“, meint er scheinheilig.
Was mich erschreckt, ist dein dekadenter, maßgeschneiderter Anzug und dein selbstgefälliges Lächeln.
„Mister Connor. Ich will nicht unhöflich sein, doch ich muss meine Straßenbahn kriegen“, sollte so viel heißen wie: „Verpiss dich, neugieriger Bulle.“
„Ah, dann begleite ich Sie ein Stück. Sie haben doch nichts dagegen?“ Suggestivfrage, toll.
Doch. „Das ist ein freies Land“, stelle ich fest. Er grinst überrascht.
Als er wie angewurzelt stehenbleibt, umrunde ich ihn und mache mich auf den Weg zur Haltestelle. Er dackelt mir natürlich so richtig schön hinterher.
Er stößt ein „Ungewöhnlich“ aus und mustert mich mit zusammengekniffenen Augen, während er mich schnellen Schrittes flankiert. Was soll das denn heißen?
Als ich ihn verwirrt anstarre ergänzt er: „Ich bin schon einige Jahre in dem Job, doch Sie sind das erste Entführungsopfer“, wie bitte – er hat mich doch jetzt nicht gerade laut als Opfer bezeichnet, „das am nächsten Tag wieder zur Arbeit geht, als wäre nichts geschehen.“
„Nun, es gibt für alles das erste Mal“, kontere ich.
Ich passe wohl nicht ins Muster deiner lehrbuchmäßigen Entführungsopfer-Profile.
Er lächelt gekünstelt. „Ich nehme an, Ihre Erinnerung ist noch nicht zurückgekehrt“, mutmaßt er. Jetzt fängt er wieder damit an. Arroganter Schnösel.
„Was führt Sie zu dem Schluss?“, verlange ich gelangweilt.
„Ihre …“, er sucht nach dem passenden Ausdruck, „ … Gelassenheit.“ Ist alles Tarnung. Du willst nicht wissen, wie viel Chaos gerade in mir herrscht.
„Sie meinen den Umstand, dass ich nicht schluchzend in einer Ecke kauere. Wenn Sie das erwartet hatten, muss ich Sie enttäuschen, Mister Connor“, erwidere ich emotionslos.
„Ich hatte es nicht erwartet, doch es wäre mir lieber.“ Was soll das denn bedeuten? Deutlich angefressen besteige ich die Straßenbahn.
Zu meinem Ärgernis folgt er mir und nimmt neben mir Platz. Okay, definitiv zu viel Nähe zu einem hohen Exekutivbeamten.
Als er meinen Gram bemerkt, lenkt er ein: „Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen, doch meine Erfahrung sagt mir, dass es nichts bringt, die Erinnerungen zu verdrängen. Sie holen einen immer wieder ein. Und dann meist brutaler als hätte man sich ihnen gleich gestellt. Manchmal ist es befreiend, sich alles von der Seele zu reden.“ Was du nicht sagst. War das ein Auszug aus dem Kurs: „Psychologie für Anfänger“.
Sein Blick ist so intensiv, dass mir Röte ins Gesicht steigt. Habe ich schon erwähnt, dass er verboten gut aussieht. Reiß dich am Riemen, Charlie. Du wurdest gerade entführt und bist verwirrt.
„Wollen Sie damit andeuten, ich verschweige Ihnen absichtlich etwas?“, stelle ich ihn zur Rede. Was absolut der Wahrheit entspricht. Ein herausforderndes Kinnvorschieben soll dieser Aussage Nachdruck verleihen.
„So etwas würde ich Ihnen niemals unterstellen. Sie sollten nur wissen, dass Sie mir alles sagen können. Diskretion steht bei mir an oberster Stelle.“ Ja genau, und ich bin der Weihnachtsmann.
Kann die Straßenbahn nicht schneller fahren? Ich will nicht mehr länger neben ihm sitzen.
„Darf ich Sie zum Essen einladen?“, fragt er aus heiterem Himmel. Was? Nein. Wieso?
„Ich muss zum Krankenhaus“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Sonst killt mich ein gewisser Oberarzt.
„Dann begleite ich Sie und wir gehen hinterher“, schlägt er vor. Das klang jetzt nicht wie ein Vorschlag, sondern fast wie ein Befehl.
Das ist ja ein teuflischer Plan, du penetranter Schnüffler. Kein Bedarf, Mann. Na warte, an mir haben sich schon einige die Zähne ausgebissen. Naja, so viele auch wieder nicht.
„Mal sehen“, erwidere ich schulterzuckend. Ich weiß jetzt schon, dass es mir hinterher ziemlich schlecht gehen wird. Wer weiß, was Elijah mit mir vorhat. Naja, zumindest werde ich es so aussehen lassen.
Am Krankenhaus steigen wir aus. Elijah empfängt mich bereits am Flur vor seinem Büro. Sein Blick wird eisig, als er Ethan entdeckt.
„Belästigt der Kerl dich etwa, Charlize?“ Das hat er jetzt hoffentlich nicht gehört, zumindest tut er so. Ich will nicht, dass Elijah wegen Beamtenbeleidigung verhaftet wird.
Ja. „Nein“, antworte ich.
In seinem Büro Schrägstrich Zimmer der Schmerzen ziehe ich – laut seiner Anweisung – meine Bluse und den BH aus, was mir komischerweise ziemlich unangenehm ist. Hey, er hat bereits alles gesehen, also woher die Scheu?
Keine Ahnung, er ist gerade wieder voll der Arzt und ich hab keine Lust auf diese Doktorspielchen. Außerdem bin ich noch ziemlich durch den Wind.
Als er den Verband runterzieht, kann ich ein Stöhnen nicht unterdrücken. Scheiße, tut das weh. Meine Fingernägel krallen sich in die gepolsterte Liege und ich atme schnell.
„Das wird jetzt etwas wehtun“, lässt mich dann doch die Augen entsetzt aufreißen. Was? Das Verband Abmachen tat ja schon voll weh. Mein Körper krampft sich automatisch zusammen.
„Nimm meine Hand. Du kannst ruhig fest zudrücken“, bietet er an.
Ich befürchte, es wird meine Schmach nur minimalst lindern, aber es ist ein netter Zug. Dankbar ergreife ich die mir dargebotene Hand.
Eine kühle Flüssigkeit wird im nächsten Moment auf meinen Rücken gesprüht.
Ah, eigentlich gar nicht schlimm – ist irgendwie angenehm. Warte mal …
„AAAAAHhhhhhh.“ Feuer.
Ich winde mich vor Schmerz, als die Türe aufgerissen wird und ein alarmierter Ethan hereinstürmt. Korrigiere: Ein alarmierter, auf meine Brüste glotzender Ethan.
Reflexartig bedecke ich meine Blöße und knalle ihm das Erstbeste, was ich in die Finger kriegen kann, entgegen.
Ein zusammengerollter Verband befindet sich gerade in einer Wurfparabel und prallt an ihm ab, ohne Schaden anzurichten. Ein mir auf der Zunge liegendes „Raus hier“ nimmt mir Elijah aus dem Munde.
Wie kann er es wagen, hier reinzuplatzen und dann noch auf meine Brüste zu starren. Okay, ich bezweifle, dass er die Mikrobrüste aus der Entfernung überhaupt sehen konnte, aber das ist eine andere Baustelle. Hier geht’s wieder mal ums Prinzip.
Das brennt immer noch wie Feuer. Schnappatmend versuche ich krampfhaft, nicht umzukippen.
Die Schmerzgrenze ist schon in Reichweite und meine Hand drückt immer noch die von Elijah. Eins ist klar – er hat jetzt ein paar gröbere Quetschungen davongetragen.
„Du hast es gleich hinter dir“, macht er mir Mut. Ja, du hast leicht reden. Dein Rücken brennt ja nicht gerade lichterloh.
Ich spüre, wie er erneut Pflaster auf meinen Rücken platziert. Schön langsam lässt auch der Schmerz nach.
„Ich gebe dir ein paar Schmerztabletten mit nach Hause“, erklärt er. Bleib mir bloß mit deinen Psychopharmaka vom Leib.
Elijah hilft mir beim Anziehen und setzt sich dann auf seinen Hocker mir gegenüber.
„Geht’s wieder?“, tastet er an.
Nein. „Ja.“ Das kam allerdings etwas gequält rüber. Er hält mich sicher für eine absolute Memme.
„Geht’s dir wirklich gut, Charlize?“, fragt er mit einem Hauch Besorgnis im Blick.
Nein. „Ja.“
„Dieser aalglatte Polizist da draußen wollte mir nicht sagen, was passiert ist. Aber es sieht so aus, als hätte dich jemand aus…“ „Bitte“, falle ich ihm ins Wort. Gerade merke ich, dass ich sogar laut geworden bin.
Der Mann hat ein Feingefühl wie ein Trampeltier. Meine Hände zittern, als die Bilder in meinem Kopf lebendig werden.
„Verzeih mir, Charlize. Du stehst sicher noch unter Schock. Ich wollte dich nicht bedrängen.“ Jetzt komm mir nicht so.
Ich weiß nicht, wie lange ich ins Leere blicke, doch als sich Elijah bewegt, stoße ich ein „Ich muss jetzt los“ aus.
„Charlize, ich kann mir frei nehmen. Für dich da sein“, ergänzt er.
„Danke, Elijah. Doch das musst du nicht. Lass mir etwas Zeit … okay?“ Scheiße, den Spruch knall ich heute jedem vor den Latz.
Er nickt etwas enttäuscht. „Sehen wir uns dann morgen?“
Ich nicke und verlasse den Raum.
Im Flur kommt mir der Spanner bereits entgegen. Ich belege ihn mit einem Leg-dich-nicht-mit-einer-menstruationswütigen-Furie-an-Blick.
Er hats nicht kapiert, versperrt mir sogar den Weg. Das Ganze scheint ihm sichtlich unangenehm zu sein.
„Miss Jones, ich …“
Als wäre er nur ein Wasserspender, weiche ich großräumig aus und bin an ihm vorbei, bevor er eine weitere Silbe ausstoßen kann.
„Miss Jones, warten Sie …“ Der Typ macht mich wahnsinnig. Der ist ja schlimmer als eine Motte im Licht.
Zu allem Übel greift er auch noch nach meinem Arm. Die Berührung trifft mich wie ein elektrischer Schlag. Bilder vom Wald und Ben, der mich gewaltsam hinter sich her zerrt, blitzen auf.
Reflexartig stoße ich ihn mit voller Wucht gefolgt von einem entsetzten Laut von mir, sodass er mit einem dumpfen Knall an die Flurwand prallt.
Einen Augenblick lang starren wir uns nur ungläubig an. Wenn ich es mir genau überlege, habe ich in dem Moment mehr Angst vor mir selbst als vor ihm.
Phase 4 wurde erreicht: Ausbruch unter Einsatz von roher, körperlicher Gewalt.
Was ist nur in mich gefahren? Das war ja die übertriebenste Reaktion des Jahrhunderts.
Ein Zittern erfasst mich und ich balle die Fäuste, um es zu unterdrücken. Schwindel setzt ein. Nein. Nein. Nein. Atme. Atme. Kipp jetzt ja nicht vor ihm aus den Latschen, Charlie. Die Genugtuung gebe ich ihm nicht. Oh nein. Scheinbar doch. Knie werden bereits weich.
Im nächsten Moment sacke ich zusammen. Ethan fängt einen Teil des Aufpralls auf den Boden ab.
Ich höre meinen Atem unnatürlich laut in meinem Kopf. Mein Körper fühlt sich komisch an. Irgendwie so als wäre ich in Watte gepackt.
„Atmen Sie. Es ist alles in Ordnung. Ich bin hier. Lassen Sie los. Ich halte Sie“, haucht er mir ins Ohr.
Was ist das denn für ein Psycho-Gefasel? Ist das die Lektion: „Wie beruhige ich ein von Panik attackiertes Opfer?“
Als ich langsam wieder zu mir komme, spüre ich meinen Kopf an seiner Schulter. Wir kauern beide auf dem Boden im Krankenhausflur. Eine seiner Hände hält meinen Nacken, während die andere meine Hand umschließt, mit der ich mich in sein Hemd gekrallt habe.
Mir wird schlagartig bewusst, in welcher Position ich hier stecke, was mich dazu bringt, mich aus seinen Armen zu winden.
Mein Herz schlägt schneller, als er mir diesen obligaten urfilmauslösenden Blick eines paarungsbereiten Männchens zuwirft. Okay, das muss auf der Stelle aufhören.
Ein gehauchtes „Verzeihung“ ist alles, was ich rausbringe, als ich mich aus dieser erniedrigenden Position erhebe. Er folgt mir sogleich und klopft sich die Hosenbeine sauber.
Das geschieht dir ganz recht, wenn du meinen von Leid gebeutelten Körper berührst und das Echo nicht verträgst.
„Ich bin es, der um Verzeihung bitten muss“, wendet er ein. Heißt das, du verklagst mich nicht? Diese Frage verkneife ich mir lieber, ich will ihn ja nicht auf dumme Gedanken bringen.
Peinlich berührt flüchte ich über das Treppenhaus. Er folgt mir nicht, worüber ich unsagbar froh bin.
Und wiederum reiht sich eine neue Szene des Grauens an eine nicht enden wollende Reihe des blanken Wahnsinns.
Ein Taxi bringt mich nach Hause. Für die Bahn hab ich jetzt echt keine Nerven. Außerdem habe ich noch immer Schmerzen, die mir sogar einen leichten Schweißfilm auf die Stirn treiben.
Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass mich dieser Connor verfolgt? Ich bin sicher einer seiner Fälle. Aber wieso interessiert sich Interpol für diese Sache? Ist doch eine normale Entführungsgeschichte. Warum überlassen die der örtlichen Polizei nicht die Ermittlungen? Das sollte ich auf jeden Fall das nächste Mal zur Sprache bringen, wenn ich auf den Schnüffler treffe, was sicher früher geschehen wird als mir lieb ist.
Du bist stark, Charlie – du kommst damit klar, wiederhole ich wie ein Mantra. Überraschenderweise fühle ich mich etwas besser. Seine Umarmung hatte etwas Tröstliches. Ja, ich sollte definitiv öfter umarmt werden.
Bei der Ampel, die gerade auf Rot springt, gibt der Taxifahrer Vollgas und braust über die Kreuzung. Kein Stress, Mann.
Hey … Das ist jetzt nicht wahr.
Der Fahrer ist gerade falsch abgebogen. Du Betrüger. Na warte.
„Sicher gibt es Gründe, über die Maison Street auszuweichen, doch diese sind wohl kaum zu meinem Vorteil“, mache ich meinem Ärger Luft.
Stille.
Hm, vielleicht versteht er mich nicht. Auf seinem Namensschild steht Francesco Graziano. Er scheint Italiener zu sein. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, er trägt eine tiefsitzende Kappe.
„Senta scusi. Questo è il modo spagliato. Voltati per favore“, fordere ich.
Stille.
Sofort. „Immediatamente.“
„Bitte hab keine Angst vor mir, Charlie. Ich kann dir alles erklären.“ Henry. Schnappatmung. Ich kann nicht atmen – Megapanik nimmt überhand. Zu allem Übel sehe ich sein Waffenarsenal vor mir. Die Fotos. Alles kommt hoch.
Ich kann nicht mehr.
Er ist gekommen, um das Werk von Ben zu vollenden – ist mein letzter Gedanke, bevor mein Körper dem emotionalen Druck nicht mehr gewachsen ist und mir die Augen zufallen.
Ich liege auf einer Couch in einer Wohnung, die mir bekannt vorkommt. Es ist Henrys Wohnung.
Aufgeschreckt springe ich auf und erblicke Henry, der gerade mit einem Glas Wasser auf mich zukommt.
„Wage es ja nicht, näherzukommen.“ Meine Knie zittern, genauso wie meine Stimme.
„Geht es dir gut? Du warst ohnmächtig.“ Er klingt besorgt – Lügner.
„Ich stelle hier die Fragen!“, herrsche ich ihn an. Okay, ich bin gerade selbst überrascht, dass ich noch die Kraft habe, ihn zur Schnecke zu machen, während ich versuche, mir nicht vor Angst in die Hose zu machen.
„Also gut“, stimmt er zu. Scheiße, was frag ich ihn bloß? Ich bin so durcheinander.
„Bist du Bens Komplize?“, ist auf jeden Fall die dringendste aller Fragen.
Er sieht überrascht aus. „Was? Nein. Ich …“ „Ich glaub dir kein Wort“, unterbreche ich ihn lauthals.
„Charlie …“ Mit einer Geste meiner Hand erzwinge ich Stille: „Wage es ja nicht, mich anzulügen. Ich war in deinem Keller.“
Es scheint, als wäre er darauf nicht gefasst gewesen. Verlegen weicht er meinem Blick aus.
„Ich wollte nicht, dass du das siehst“, gibt er zu.
„Ja. Das kann ich mir vorstellen“, pruste ich.
Es sieht so aus, als schäme er sich dafür. Er ist ein guter Schauspieler – beinahe kauf ich ihm das sogar ab – leider nur beinahe.
Jetzt bin ich so richtig in Rage. „Hat Ben dir gesagt, du sollst mich beobachten? Hat er gesagt, du sollst mit mir schlafen?“ Meine Stimme überschlägt sich fast und Tränen füllen bereits meine Augen.
„Ich habe ihn erschossen“, erklärt er emotionslos. Was? Nein, das kann nicht sein.
Ich schüttle den Kopf. „Ich kann dir nicht vertrauen. Du sagst das nur, um mich zu täuschen.“ Meine Kehle ist so trocken, ich bringe keinen Laut heraus.
„Verdammt nochmal, Charlie“, flucht er, reißt sich wie wild geworden das T-Shirt runter und wendet mir den Rücken zu.
Ich bin so vor den Kopf gestoßen, dass ich ein paar Sekunden brauche, um die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Da ist ein roter Striemen, der sich diagonal über seinen ganzen Rücken zieht. Genauso wie bei meinem Rücken. Das ist zu viel für mich. Ich sinke aufs Sofa und presse die Luft lautstark aus meinen Lungen.
Der Körper an meinem Rücken, die Hände, die mich festhalten, das männliche Stöhnen, Fesseln, die gelöst werden, graue Augen – ich erlebe den Moment gerade erneut.
Das war nicht Josef, das war Henry. Er hat sich schützend über mich gelegt und den Peitschenhieb eingesteckt, der für mich bestimmt war.
Ich pack das grad nicht.
Als ich Henrys Blick suche, hat er sich bereits auf dem Couchtisch niedergelassen und meine zitternden Hände, die ich in meinen Schoß gelegt habe, ergriffen.
„Bei deinem ersten Schrei bin ich ohne Befehl ins Gebäude gestürmt. Ich konnte nicht klar denken.
Du verlierst nie die Kontrolle – das ist der oberste Grundsatz. Ich hab sie verloren, Charlie. Als ich dich dort knien sah … ich …“ Er sieht so aus, als leide er gerade innere Höllenqualen. „… ich habe versagt. Konnte dich nicht davor beschützen“, flüstert er.
Mit voller Wucht boxe ich gegen seinen Oberarm. Er ist so perplex, dass ich lächeln muss, was ihn sogleich ansteckt.
„Sag das nicht nochmal“, rüge ich ihn scharf.
Auf einmal habe ich das Bedürfnis, mich an ihn zu drücken, dem ich sogleich nachgebe. Er schließt mich sofort in seine starken Arme – darauf bedacht, meinen Rücken nicht zu berühren. Das tut so gut, dass mir Tränen in die Augen schießen.
„Wer bist du?“ Meine Stimme ist nur ein Flüstern an seinem Ohr.
Er löst sich langsam von mir und sieht mir tief in die Augen.
„Ich gehöre zu einer Spezialeinheit von Interpol.“ Henry – Polizist? Niemals. „Ich will ehrlich zu dir sein, Charlie. Man nennt uns ‚Die Schatten‘. Überwiegend aus dem Grund, da wir eigentlich nicht existieren – zumindest nicht offiziell. Ich darf dir nicht viel sagen – nur so viel, dass wir alle Ex-Soldaten sind, die nichts zu verlieren haben.“ Das haut mich jetzt echt vom Hocker.
„Warte mal, du warst auf dem Revier – sie hatten dich verhaftet“, wende ich ein. Unsere erste Begegnung erscheint wieder vor meinem geistigen Auge.
„Ja, das war eine Kneipenschlägerei mit der ich nichts zu tun hatte“, gibt er zu. „Die haben mich mitgenommen, weil ich anscheinend nach vorbestraft aussah.“ Tja, das kann man ihnen nicht mal verdenken. „Das war reiner Zufall, dass wir uns dort begegnet sind. Wieso warst du eigentlich dort?“, will er wissen.
„Ähm, geklautes Fahrrad.“ Er nickt verständnisvoll.
„Am selben Abend habe ich den Auftrag bekommen, Ben Lyonell unter die Lupe zu nehmen. Im Krankenhaus sah ich ihn mit einem Kerl – Louis – in einer Ecke knutschen“ Aha, das ist also geschehen, während ich in meiner gespielten Ohnmacht ärztlich versorgt wurde. „und dachte, ich seh mich mal bei seinem Freund um. Also wurde aus mir der Hausmeister. Du glaubst ja nicht, wie überrascht ich war, dich dort anzutreffen. Naja, du warst ziemlich geschockt.“ Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts.
„Dann läufst du mir noch am selben Abend in die Arme und da ist dieser Kerl, der dich verfolgt. Und dann diese Nacht.“ Er rauft sich verlegen die Haare. „Ich habe mich vollkommen gehenlassen – hab gegen ein Dutzend Regeln verstoßen und es war mir scheißegal.
Ich wollte gleich verschwinden, nachdem wir miteinander geschlafen haben, doch ich konnte es nicht. Du hast mich verzaubert, Charlie.
Aber dann wurde mir klar, wenn du wüsstest, wer ich wirklich bin, würdest du Angst vor mir bekommen und so entschied ich, wieder aus deinem Leben zu verschwinden.“
„Was bedeutet die Kette?“ Ich muss das einfach fragen. Es ist wie ein fehlendes Puzzlestück.
„Manchmal spiele ich so viele Rollen, dass ich das Gefühl habe, mich selbst zu verlieren. Doch in deiner Nähe war mir zum ersten Mal nicht alles egal.
Ich konnte ich sein, auch wenn ich es nicht war. Die Kette gehört mir, sie trägt meinen richtigen Namen. Ich dachte, du könntest meine Identität bewahren – für irgendwann.“ Das ist so romantisch. Ich schmachte förmlich dahin.
„Wieder ein Verstoß gegen die Regeln: Gib nie deinen richtigen Namen preis“, erklärt er.
„Ich beschattete Ben weiter und fand in seiner Kreditkartenabrechnung die Zahlung für die Galeriekarten. Da wurde aus mir der Türsteher.
Abermals war ich überrascht, dich dort anzutreffen. Als er dich angefasst hat, konnte ich mich kaum zurückhalten. Wäre mir der Typ, der ihn k. o. geschlagen hat,“ Damian „nicht zuvorgekommen, ich hätte meine Tarnung aufgegeben und hätte die Kontrolle verloren.
Du sahst so atemberaubend aus, ich konnte dich nicht gehenlassen. Als du mir dann sagtest, du übernachtest bei einer Freundin und ich deine Verletzungen sah, war ich fuchsteufelswild. Ich hatte gleich den Verdacht, dass er das war, aber ich konnte nichts beweisen.
Du wolltest mir nicht sagen, was los war, so sehr ich dich auch dazu gedrängt habe – aus dir war einfach nichts rauszukriegen.
Und dann dieser Anruf von dir, bei dem du gleich wieder auflegst. Ich wusste gleich, dass da etwas nicht stimmt.“
„Wie hast du mich gefunden, Henry?“, frage ich neugierig.
„Satellitenüberwachung – ein GPS-Sender, den ich in deinen BlackBerry eingebaut habe. Nach unserer ersten Nacht – als du schliefst.“ Ich wusste es. Okay, das erklärt einiges.
„Ich sollte recht behalten, denn der Typ, der dich mit dem Messer bedroht hat, war von Ben engagiert.“ Was? „Übrigens auch der Kerl, der dich verfolgt hat, als du mir vor deinem Haus in die Arme gelaufen bist.
Und dann verschwindest du einfach – dein BlackBerry liegt auf dem Grund des Flusses“ Ups. Ruhe in Frieden BlackBerry Nummer 1. „und du bist auf der Fahndungsliste der Polizei.
Als ich das mit dem blutigen Skalpell erfuhr, wusste ich sofort, dass er dich bedroht. Und dann schickst du mir meine Kette. Okay, da du meinen Keller gesehen hast, verstehe ich nun warum.
Ein paar Tage bist du wie vom Erdboden verschluckt“ Paris „und dann erfahre ich, dass du verschleppt wurdest. Die Videoüberwachung von der Galerie hat dann Ben als deinen Entführer identifiziert. Er trug zwar eine Kapuze, doch Gummihandschuhe, wie sie Ärzte tragen. Da hatte sich der Verdacht erhärtet.
Ich wusste nicht, wo er mit dir hin ist. Da du ja deinen BlackBerry nicht dabei hattest, konnte ich dich nicht mal orten.“ Ups. „Von Louis kam dann der entscheidende Hinweis, denn Ben hatte ihm gegenüber eine Villa auf dem Land erwähnt und er konnte sich an einen Ort, der sich in der Nähe befindet, erinnern.“
War sein Blick bisher starr nach vorne gerichtet, so intensiviert er sich nun. „Scheiße Charlie, wieso hast du mir nicht gesagt, dass er dich bedroht?“ Keine Ahnung. Angst. Dummheit. Verdrängung.
Meine Selbstbeherrschung bricht weg. Instinktiv presse ich meine Lippen auf die seinen. So etwas hat noch nie jemand für mich getan.
Henry lächelt mich an, als wir uns voneinander lösen.
„Genaugenommen breche ich bereits erneut so etwa zwanzig Regeln, denn ich dürfte mich dir gar nicht nähern, geschweige denn mit dir reden. Mein Boss hat nun den Fall übernommen“, informiert er mich.
Alarmiert reiße ich die Augen auf. „Ethan Connor“, stelle ich fest.
Überrascht mustert mich Henry: „Er ist also schon aufgetaucht. Er bedrängt dich doch nicht etwa, oder?“
Ja. „Nein. Henry, wieso ist das noch ein Fall – ich meine, Ben ist … weg und du hast mich gerettet, also wozu das alles noch?“
„Das darf ich dir leider nicht sagen. Nur so viel, wir beobachteten Ben – das ist übrigens nicht sein richtiger Name – schon einige Zeitlang.
Er war ein gefährlicher Mann, der ziemlich viel noch nicht nachweisbaren Dreck am Stecken hat. Wir glauben, du könntest entscheidende Hinweise liefern, um Klarheit zu schaffen.“ Deshalb auch Connors Druck gegen mein Erinnerungsvermögen.
„Wieso darfst du dich mir nicht nähern?“, will ich wissen.
„Ich hab dir doch von den Schatten erzählt. Kein Kontakt zur Außenwelt – es sei denn, er ist autorisiert. Und du bist eine Hauptzeugin – also vollkommen Tabu“, erklärt er.
„Und wieso tust du es dennoch – die Regeln brechen meine ich“, hinterfrage ich seine Worte.
Sein Blick wird urfilmauslösend.
„Weil du mir vollkommen den Kopf verdreht hast. Zum ersten Mal will ich kein Schatten mehr sein – ich will ins Licht – zu dir.“
Ich lächle. „Ich kann ziemlich verschwiegen sein, wenn ich will.“
Er erwidert es und streicht mir übers Haar. Das hatte ich nicht kommen sehen, daher zucke ich etwas zusammen. Hoffentlich hat er es nicht bemerkt.
Sein Blick wird besorgt: „Er hat dich doch nicht – ich meine …“ vergewaltigt. „Nein“, rufe ich und ergänze ein deutlich gedämpfteres „Nein.“
Sichtlich erleichtert nimmt er mich wieder in den Arm.
Nach einer weiteren Taxifahrt, diesmal mit dem Fahrer, der auch auf dem Ausweis abgebildet ist – ich hab extra nachgesehen, schließe ich die Wohnungstüre auf.
Im Flur ertönt bereits ein lautes „Ain’t no sunshine when she’s gone“ von Bill Withers. Louis. Besoffen. Korrigiere: Sternhagelvoll.
Auf dem Küchenboden erhärtet sich dann der erste Verdacht und das Corpus Delicti, eine Tequila-Flasche, die er an seine Brust presst, als hinge sein Leben davon ab, lässt dann keinen Zweifel mehr.
„AAAhhhh Sonnenschein, ich trinke auf dich“, prostet er mir zu.
Ohne zu überlegen, gehe ich zu ihm rüber und entreiße ihm die Flasche, was er mit lautem Protest kundtut, der aber sogleich abflaut, als mir schon ein großer Schluck die Kehle runterläuft, während ich auf den Boden neben ihm sacke.
Mann, tut das gut.
„Ich dachte, wir machen uns ein schönes, verlängertes Wochenende – Ben und ich“, beginnt er. Oh, oh. Louis’ Stimme klingt belegt.
Meine Hand drückt die seine – als Zeichen, dass ich ihm beistehe.
„Er hat ständig auf die Uhr gesehen. Plötzlich war er wie ein Fremder. Hat mich ausgelacht. Er sagte, er hatte Spaß, dir Angst einzujagen und er würde sich nun das holen, was ihm gehört – dich.
Als ich auf ihn los bin, hat er mir etwas über die Rübe gezogen. Als ich aufgewacht bin, war er auf und davon. Ich hatte solche Angst um dich. Bin losgelaufen wie ein Irrer. Irgendwann hab ich in dieser scheiß Einöde dann doch Zivilisation gefunden und die Bullen gerufen. Zurück in der Stadt, hatten sie dich immer noch nicht gefunden und es hieß, jemand hat dich entführt. Das konnte ja nur Ben sein.
Da fiel mir ein, dass er mal mit einer Villa auf dem Land angegeben hatte. Dort haben sie dich dann gefunden. Sie wollten mir nicht sagen, was los ist und meinten nur, du lebst und seist im Krankenhaus.“ Schluchzend beginnen Tränen über seine Wangen zu laufen, da drücke ich ihn fest an mich.
„Es tut mir so leid, Charlie – ich wollte das alles nicht“, schluchzt er.
„Hey, es ist nicht deine Schuld, was passiert ist. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Gib mir lieber die Flasche rüber.“
Lächelnd reicht er mir den Alkohol.
Stolz erhebe ich sie für einen Trinkspruch. „Auf den Wahnsinn.“