Читать книгу Ich glaub, mich knutscht ein Frosch - Marie Lu Pera - Страница 3

Im freien Froschfall

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Es ist nur zu deinem Besten.

Ich beginne, diesen Satz zu hassen, der sich quälend langsam durch meine Gedanken windet. Er lässt mich nicht mehr los – verfolgt mich unaufhörlich. Wenn ich im Bad Zähne putze oder meinen Krempel von einem Eck ins andere räume – in der Hoffnung, Ordnung würde sich mal zur Abwechslung in meinem Zimmer breitmachen.

Vergeblich. Es müllt sich ständig wie aus Geisterhand von selbst zu.

Und dabei hatte alles so gut angefangen: Sechzehn. Endlich war mein Geburtstag zum Greifen nahe. Der Tag, an dem ich eine richtige Hexe werde – korrigiere: werden sollte – aber heute weiß ich, dass ich mir das an den Hut stecken kann.

Weder meine Grandma noch eine meiner zwei Tanten haben meine Kräfte an meinem gestrigen Geburtstag geweckt, da – und jetzt kommts – so ein Hexen-Jack-the-Ripper aufgetaucht ist und sich genau die nähere Umgebung meiner Heimatstadt ausgesucht hat, um sein Unwesen zu treiben.

Er hat sich erneut eine Hexe geholt – erzählt zumindest Mister Pix, der den Tante-Emma-Laden unserer Kleinstadt betreibt. Diesmal am helllichten Tag. Gerüchten zufolge lässt er von seinen Opfern nur ihre abgeschnittenen Haare zurück, in die er Lavendel bindet. Ist wohl sein krankes Markenzeichen.

Wenn du mich fragst, ist das nur Panikmache, damit Mister Pix sein Ladenhüter-Alarmanlagenequipment an den Mann bringt, denn normalerweise sperren wir unsere Haustüren nicht mal ab.

Hier passiert sowieso so gut wie nie etwas. Typisches Kleinstadt-Syndrom, würde ich sagen.

Bei dem Gedanken, dass nur ein Fünkchen Wahrheit in seinen Informationen lodern könnte, und er keiner dieser Trittbrettfahrer ist, die sich an solchen Stories bereichern wollen, beschleicht mich ein mulmiges Gefühl.

Indem ich ein „Normalo“ bleibe, will mich meine Grandma davor schützen, dass ich die Nächste bin, die er sich holt. Jetzt bin ich einerseits froh, dass ich nicht mehr auf seiner Abschussliste stehe, andererseits bedeutet das, dass ich weiterhin das Leben eines kaputten Reifens friste.

So fühl ich mich: Man könnte damit fahren, aber keiner würds tun.

Seine Kräfte nicht mit sechzehn zu erlangen ist gesellschaftlicher Selbstmord – zumindest in der Hexengesellschaft. Man könnte mir genauso gut ein Schild mit der Aufschrift: „Hier könnte eine richtige Hexe stehen … oder ihre Werbung“ an die Birne nageln.

Wie sieht das denn aus? Jeder in dieser Stadt wird mit sechzehn geweckt.

Jeder. Ausnahmslos.

Naja, außer mir. Bestimmt wissen es bereits alle. So was verbreitet sich wie ein Lauffeuer – wobei wir wieder beim Kleinstadt-Syndrom wären. Wenn es Mister Pix weiß, sowieso – gegen ihn ist Twitter ein Scheißdreck. Man muss sich in unserer Stadt zwar nicht ausgesprochen unauffällig benehmen, um hier zu überleben, aber es erleichtert die Sache ungemein.

Und das absolut Schlimmste ist: Die Tallville-Hexen gehören sozusagen den Elite-Hexen-Familien an und haben die Lancester-Hexer gebeten, in unsere Kleinstadt zu kommen, um sie zu beschützen.

Man munkelt, die Lancesters bringen nur männliche Hexer hervor, die zu den stärksten unserer Art gehören. Zumindest reden die jüngsten Tallville-Schwestern seit Wochen von nichts anderem. Die Zwillinge sind – wie kann es auch anders sein – vor einer Woche sechzehn geworden. Mit Kräften wohlgemerkt.

Ihre Eltern sind wohl nicht solche Schisser.

Immerhin sind die Zwillinge felsenfest davon überzeugt, dass sie bei einem von den sechs Zwillingsbrüdern landen können. Das ist echt der pure Wahnsinn. Sechslinge. Die Hebamme ist sicher nachher ins Burnout geschlittert. Zusammen mit ihrer Mum.

Das muss man sich mal vorstellen. Da kommen sechs potenziell knackige achtzehnjährige Hexengötter in unsere Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, was einem – nur so nebenbei – ganz schön auf den Keks gehen kann. Und dann ziehen sie noch in das leer stehende Haus ein, das direkt an unser Grundstück angrenzt.

Nur ein paar Meter Luftlinie Entfernung: Meine erste, unerwiderte Liebe wär zum Greifen nahe … und ich bin ein Normalo.

Wir gehören natürlich keinem altehrwürdigen Hexen-Geschlecht an. Meine Familie ist – sagen wir mal so – etwas speziell.

Da hätten wir meine Grandma: Alte, absonderliche Kräuterhexe trifft auf sie erschreckenderweise total gut zu.

Meine Tante Liz: Marke Kleinstadt-Lehrerin mit Dutt, Brille und Strickweste, die leicht neurotisch ist. Im Klartext: Sie fürchtet sich vor allem, was nicht bei drei auf einem Baum ist. Hat daher schon jahrelang nicht mehr das Haus verlassen.

Und – zu guter Letzt: Ihre große Schwester, Tante Eve, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Nur so viel dazu: Sie hat bei Mister Pix Hausverbot – und das schaffen nur einige wenige fein säuberlich auserwählte Spezialisten.

Wir sind eine ganz schön skurrile Truppe, aber es ist ein wundervolles Zuhause, in dem immer was los ist.

Meine Eltern sind gestorben, als ich klein war. Grandma sagt, ich hätte die braunen, langen Locken, die dunklen Augen und die Sommersprossen von meiner Mum. Den Hang zum Träumen hingegen von meinem Dad.

Sie fehlen mir, obwohl ich sie nicht gekannt habe. Besonders jetzt, wo alle scheinbar verrücktspielen. Viele haben Angst, das Haus zu verlassen. Die einst belebten Straßen, in denen Nachbarn an den Gartenzäunen die Köpfe zusammengesteckt haben, um sich auf den neuesten Stand der Gerüchteküche zu bringen, sind neuerdings wie leergefegt. Ich habe aber gehört, dass viele erleichtert sind, die Lancester-Hexer bald in der Stadt zu wissen. Naja, ich auch …

Einziger Wermutstropfen: Tante Eve sagt, es gäbe eine Klassengesellschaft unter den Hexen und wir würden noch eine Stufe unter der letzten Stufe stehen.

So viel dazu.

Die Lancester-Hexer gehören natürlich auch der Elite an, also ist es wahrscheinlich sowieso egal, ob ich Kräfte habe oder nicht – die würden mich nicht mal wahrnehmen, wenn ich ein blinkendes Neonschild auf dem Kopf tragen würde.

Naja, die sollen morgen hier ankommen, also hab ich noch Schonfrist, bevor ich mich frisieren muss, wenn ich in den Garten gehe. Ja, zugegebenermaßen hab ich mich in letzter Zeit etwas gehenlassen. Immerhin sind Ferien und hier kann man nicht viel machen, da es weit und breit nur Wälder gibt. Naja, irgendwo müssen die Hexen ja wohnen, um unter den Normalos nicht aufzufallen.

Wir haben sogar einen König und eine Königin – wobei die ziemlich zurückgezogen leben. Man erfährt eigentlich nie etwas aus Klatschpressen und Fotos gibt’s schon mal aus Prinzip nicht. Die bleiben wohl lieber unter sich.

Kann ich gut verstehen.

Es gibt ein paar Hexenhochburgen hier in Großbritannien, wo es niemanden groß in Verwunderung versetzt, wenn mal ein Briefkasten vorbeifliegt oder die Rasenmäher unbemannt ihre Arbeit verrichten.

Nur äußerst selten verlaufen sich Normalos in die Abgeschiedenheit dieses magischen Ortes. Meist sind es Rucksacktouris, die aber – nachdem man sie eingefangen hat – einen Spezial-Vergessenscocktail eingeflößt kriegen, um dann wieder in nichtmagische Bereiche ausgesetzt zu werden. Es ist aber auf jeden Fall immer ein Highlight mitanzusehen, wie sie die Beine in die Hand nehmen und brüllend durch die Straßen jagen.

Das dämliche Grinsen vergeht mir beim nächsten Gedanken gewaltig: Was, wenn sie den Hexen-Ripper nicht bald finden? Muss ich dann rüber zu den Normalos ziehen? Erschreckenderweise macht mir der Gedanke von hier fortzugehen neuerdings Angst, obwohl das mein Plan ist, seitdem ich nicht mehr aufs Töpfchen gehe. Naja, zumindest hab ich es schon ewig vor, mit achtzehn von hier rauszukommen.

Mein Kopfkino wirft sich in dem Moment an. Ich sehe einen riesigen, roten Stiefel, der mich vor die Stadtgrenze befördert.

Schnell verdränge ich die Gedanken wieder und krame in unserer Werkzeugkiste nach dem Hammer. Die losen Dachschindeln wollte ich eigentlich mit meinen Superkräften festnageln, aber so wies aussieht, werd ich wohl noch länger ein kaputter Reifen bleiben.

Ich stoße ein verbittertes „Es ist nur zu deinem Besten“ aus. Da war er wieder, dieser verdammte Satz.

Eigentlich könnte ich magische Hilfe bei der Reparatur brauchen, aber Grandma ist zu alt – der Zauber würde sie zu sehr anstrengen – und meine Tanten sind beide nicht so gut im Hexen. Dafür kennen sie sich mit Kräutern aus.

Naja, mehr oder weniger.

Tante Liz hat außerdem Höhenangst und Tante Eve wartet nach eigenen Aussagen darauf, dass ich einen Kerl heimbringe, der das übernehmen kann.

Was soll ich sagen – ich mach den Scheiß jetzt selbst.

Bedauerlicherweise steht meine Hexentaufe im direkten Zusammenhang mit meinen Chancen am Heiratsmarkt, die seit gestern gegen Null gegangen sind.

Das mit dem Hexen-Heiratsmarkt ist übrigens kein Scherz, den gibt’s wirklich. Tante Eve hat mir davon erzählt (es besteht aber auch die Möglichkeit, dass sie mich verarschen wollte – damit muss man bei ihr jederzeit rechnen). Oder es gibt tatsächlich etwas Flohmarkt-Ähnliches, wo man eine Bude mieten kann, damit die weiblichen Hexen im heiratsfähigen Alter mittels mittelalterlichen Marktschreiern angepriesen werden können.

Ich hör schon Tante Eve, wie sie mich auf einer runden Käseplatte der Menge präsentiert, während sie – mich im Kreis drehend – schmettert: „Treten Sie näher. Staunen Sie.Ich will ja nicht angeben, aber sie schwimmt schon ohne Schwimmflügel und sie ist wach – mehr möchte ich zu ihrem derzeitigen Zustand nicht sagen. Übrigens ist alles, was Sie hier sehen, vom Rückgaberecht ausgeschlossen.“

Sie ist kaputt“, beanstandet ein süßer Interessent in meiner Phantasie die „Ware“.

Aber sie hat doch irgendwie das gewisse Nichts“, handelt mich meine Tante runter.

Naja, auch andere Mütter haben schöne Töchter … oder sehen gar selbst ganz gut aus“, macht er sie augenzwinkernd an.

Tja, das ist jetzt blöd – du bist zu alt für mich. Zurück zu ihr. Es war nur zu ihrem Besten, aber mit ein bisschen Phantasie, Glitzer und einer Rohrzange schält sie dir Smarties, wenn es dich nach Schokolade gelüstet. Und wenn du gleich zugreifst, bekommst du dieses Schnibbelwerkzeug, das du bestimmt nie im Leben brauchen wirst, gratis dazu.

Jetzt mal im Ernst. Mit Jungs und mir ist das so eine Sache. Eigentlich bin ich – und das ist mein voller Ernst – nicht so der optische Bringer.

Oder mit den Worten meiner Tante Eve ausgedrückt, als sie mal versucht hat, meine abstehenden Ohren mit einem Zauber zu korrigieren: „Wer das nicht aushält, hat dich gestylt auch nicht verdient“. Danach hat sie mir seufzend auf die Schulter geklopft.

Was immer das auch bedeuten mag.

Ihre Aktion war – wie man sich schon denken kann – nicht gerade von Erfolg gekrönt. Naja, zumindest kuckt jetzt keiner mehr auf die Zahnlücke zwischen meinen Hasen-Schneidezähnen, seitdem ich die Monobraue habe. Aber seitdem fällt es gar nicht mehr so auf, dass meine Augen einen Tick zu weit voneinander entfernt stehen.

Und selbst wenn ich Verehrer gehabt hätte, irgendwie sind die Kleinstadt-Jungs, mit denen man schon nackt im See gebadet hat, als man sechs war, nicht sehr reizvoll. Ich hab da irgendwie eine gedankliche Barriere. Die Erkenntnis, dass es einen gravierenderen Unterschied zwischen Mädchen und Jungs gibt als blaue und rosa Söckchen kann einen echt runterziehen. Zumindest solange man Jungs noch doof findet. Aus dem Alter bin ich mittlerweile auch raus.

Es ist nur zu deinem Besten“, murmle ich durch zusammengebissene Zähne, während ich beherzt die Leiter hochsteige.

Ein Grinsen macht sich bei meinem nächsten Gedanken breit. Die ängstliche Tante Liz würde ausrasten, wenn sie mich hier oben sehen könnte und nicht gerade ihr Mittagsschläfchen halten würde. Ich kann sie förmlich hören wie sie ausrastet: „Ich bin sowieso schon mit den Nerven am Ende, da brauchst du nicht auch noch einen auf King Kong machen.

Ihre Schwester würde sie anschnauzen: „Würd sie jetzt noch wie Naomi Watts aussehen, bräuchten wir mehr als Bananen, um die Verehrer wieder von unserem Dach runterzulocken“. Tante Eve ist, zusammen mit meiner Grandma, ausgeflogen – also jetzt nicht mit Besen.

Schade eigentlich. Egal, sie sind am Kräutermarkt, um ihre Ausbeute der heurigen, recht bescheidenen Ernte unseres Kräutergartens zu verkaufen.

Ich bin ganz froh darüber, dass sie nicht da sind. Immerhin steckt mir unser gestriger Zoff noch in den Knochen. Naja, ich wollte nicht kampflos hinnehmen, dass sie mir meine Kräfte vorenthalten.

Auf die Frage hin, wann sie denn meine Kräfte wecken würden, meinte meine Grandma nur: „Wenn die Gefahr gebannt ist.“ Toll. Das kann ja noch ewig dauern.

Alles endete damit, dass ich mich schmollend in mein Zimmer verzogen habe, nachdem ich meinen Ärger an der unschuldigen Zimmertür ausgelassen habe, die seither nur noch am seidenen Faden einer Türangel hängt. Tante Eves‘ Kommentar: „Hey, noch ein Punkt auf deiner Reparaturliste“, hätte sie ruhig steckenlassen können.

Seitdem gehen wir uns aus dem Weg.

Ich seufze und steige immer höher hinauf, bis ich auf der ersten Zwischenetage angelangt bin und das letzte Stück über das Vordach raufklettere.

Ich liebe unser Haus. Es ist total runtergekommen, aber genauso wie man sich ein echtes Hexenhaus vorstellt. Das volle Programm: Mit Efeu verwachsen und kleinem Türmchen, in dem ich mein Zimmer habe. Ja okay, die Bezeichnung „Zimmer“ ist vielleicht etwas übertrieben. Es ist eher eine Rumpelkammer von der Größe eines Mäuselochs, aber der Ausblick ist grandios. Manche zahlen für so etwas.

Hier oben hat der letzte Sturm echt einiges angerichtet. Es regnet auch schon rein. Obwohl ich das melodiöse Spiel von Regentropfen, die auf unterschiedlich gefüllte Eimer treffen, mag, steh ich dann doch nicht so drauf, bei jedem Gewitter in der Wohnung mit Gummistiefeln rumzulaufen.

Ich hab ein Fenster offengelassen, aus dem Radio-Musik strömt. Da geht die Arbeit doch gleich viel leichter von der Hand.

Ich liebe diesen Song „All About That Bass“ von Meghan Trainor. Der Moderator des lokalen Radiosenders wohl nicht so. Immerhin kündigt er das Lied als „den Sommerhit, bei dem ich jedes Mal versucht bin, alles hinzuschmeißen oder mich mit dem Mikrokabel zu strangulieren, wenn ich ihn nochmal hören muss“ an.

Hm, vielleicht sollte ich bei Gelegenheit den Radiosender wechseln. „Tingletangle Bob“ – der Radiomoderator – scheint mir zurzeit etwas labil zu sein. Aber weder er, dieser Ripper noch die brütende Hitze können mir meine gute Laune verderben, also wippe ich mit den Hüften, hole die Nägel aus meiner Tasche und hämmere im Takt der Musik drauflos, während ich aus Leibeskräften: „Yeah, my momma she told me don't worry about your size She says, boys they like a little more booty to hold at night You know I won't be no stick-figure, silicone Barbie doll So, if that's what's you're into Then go ahead and move along“ schmettere.

Wow. Hab grad den Fehler gemacht, runterzukucken. Ich rutsche sogar ab. Eine Dachschindel löst sich und schlägt unten auf. Sie bricht entzwei, was grad nicht zu meiner Arbeitsmotivation beiträgt. Das ist echt ziemlich hoch. Hätt ich Kräfte, würde sich das hier weniger mulmig anfühlen. Glaub ich zumindest.

Und könnte die fiese Stimme in meinem Kopf, die unentwegt ein „Das hättest du sein können“ säuselt, mal die Klappe halten?

Was ist denn bloß los mit mir? Konzentrier dich.

Oh nein, vielleicht werd ich im Alter auch so wie Tante Liz? Das hätte mir gerade noch gefehlt. Höhenangst wär jetzt nicht so prickelnd.

Ich schüttle energisch den Kopf und stehe auf, um den Platz zu wechseln. Plötzlich kommt Wind auf. Oh nein. Ich wanke sogar schon.

„Tante Liz“, stoße ich in meiner Panik und mit rudernden Händen aus, obwohl ich weiß, dass sie mich hier oben nicht hören kann und sie sich eher vor einen fahrenden Zug werfen würde als hier hochzukommen.

Ich spüre, wie ich mehr und mehr die Kontrolle über meinen Körper verliere und zur Seite über den Abgrund kippe.

Und das Letzte, was mir im Kopf herumgeistert, bevor ich spüre, wie es mir den Magen aushebt, sind die Worte meiner Grandma: „Es ist nur zu deinem Besten.“

Nach dem freien Fall, den ich irgendwie wahrnehme, als wär ich neben der Spur, hatte ich einen schmerzhaften Aufprall erwartet, aber stattdessen fühl ich mich, als wär ich geradewegs in Watte gefallen und würde über dem Boden schweben – zumindest bevor die Schwerkraft wieder einsetzt und ich so richtig schön auf die Erde knalle.

Autsch.

Als ich vor Schmerz keuchend die Augen öffne, sehe ich alles wie durch Milchglas hindurch. Ich blinzle angestrengt, da taucht über mir jemand auf, dessen Lippen sich zwar bewegen, ich aber nicht verstehen kann, was er sagt.

Mein Oberkörper wird etwas angehoben, da fällt mir mein Kopf haltlos in den Nacken. Ich rieche einen betörenden Duft, der mich benommen macht. Hmmmm, das ist frisch geschnittenes Gras mit Zitronen.

Mein Blick wird im nächsten Moment klarer und ich erkenne den jungen Mann über mir, der mich im Arm hält.

Ich fasse mal zusammen: Dunkle Augen, in denen man zu versinken droht. Aristokratische, feine Züge. Schwarzes Strubbelhaar, das so gar nicht zu seinem perfekt gebügelten, schwarzen Hemd passt. Warte mal. Perfekt gebügelt? Entweder das ist so ein Muttersöhnchen oder … er ist schwul. Er könnte es aber auch frisch aus der Reinigung haben. Sag mal, was fasle ich da eigentlich?

Moment mal. Solche Kerle laufen Normalos wie mir nicht einfach so über den Weg. Zumindest nicht in dieser Kleinstadt.

Es sei denn, er ist der Ripper“, meldet sich die böse Stimme in meinem Kopf zu Wort. „Oder er ist der Tod, der dich geradewegs in die Hölle verfrachtet.

„Du bist doch nicht tot oder?“, plappere ich wirres Zeug. Meine Zunge fühlt sich taub und geschwollen an, deshalb kamen meine Worte irgendwie mit einem Hauch charakteristischem Zahnspangen-Flutschen raus.

Er sieht überrascht aus, wendet aber schnell ein absolut glaubwürdiges „Nein“ ein.

Ich schüttle meinen Kopf. „Ich meine, ich bin doch nicht tot, oder?“, korrigiere ich meine Frage von vorhin.

„Nein“, erwidert er mit dieser Wahnsinns-Intensität, die seine Augen ausstrahlen. Darin sind Sorge und Angestrengtheit gleichermaßen verwoben.

„Oooooookay“, fasse ich zusammen, um ihn noch ein bisschen länger anzuschmachten, bevor mir wieder einfällt: „Du bist doch nicht der Stripper, oder?“ Dabei ist mir sogar ein bisschen Sabber aus dem Mundwinkel gelaufen, den er voll abgekriegt hat, als ich geklungen habe wie Duffy Duck – mit Überbiss wohlgemerkt. Er hat aber zumindest den Anstand, nur die Augen zu schließen und sich die Spucke nicht gleich von der Backe zu wischen. Verdammt, was ist denn bloß mit meiner Zunge los? Müssen innere Schwellungen sein.

Er legt die Stirn in Falten. „Wie bitte?“

„Der Ripper – meine ich“, darauf bedacht, die Worte klar und deutlich auszusprechen, ohne ihm neuerlich eine Munddusche zu verpassen.

„Nein. Ich bin Alaric Lancester“, stellt er sich vor.

„Wer?“, hinterfrage ich seine Worte, während ich unbeholfen versuche, meine Haare hinter ein Ohr zu streichen, bevor mir wieder einfällt, dass er ja so meine Dumbo-Ohren sehen kann und ich schnell versuche, alles wieder rückgängig zu machen, wobei die verklebten Strähnen an meinen Händen hängenbleiben und ich mir die Matte so direkt ins Gesicht ziehe, als wären die Zotteln ein Spinnennetz.

Erneut macht sich Verwunderung in seinen Zügen breit – zumindest war es das, was ich erkannt habe, bevor ich mich erfolgreich entwirren konnte. „Alaric Lancester“, wiederholt er. Warte mal Lancester. Da klingelt leider was.

Ein Ruck geht im nächsten Moment durch meinen Körper und mein dämliches Grinsen gefriert mir schlagartig auf den Backen. Etwa die Elite-Lancester-Hexenfamilie, die erst morgen eintreffen sollte?

Neeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnnnnnnnnn. Der Ripper wär mir glaub ich grad lieber gewesen. Was zum Teufel machen die heute schon hier?

Meine Fresse. Das ist der süßeste Typ, dem ich jemals begegnet bin, und für mich genauso unerreichbar wie der Mond, wenn ich die Hand danach ausstrecke, was mir in dem Moment schmerzlich klar wird. Warte, nein, das ist mein Schädel, der pocht. Mir ist auch komisch heiß, aber das hält mich nicht davon ab, mich aus seinem Griff zu winden und auf Abstand zu gehen. Als ich mich aufrichte, wanke ich erneut. Was ist denn heute bloß los mit mir? Sonst bin ich doch auch nicht so ein Mädchen.

Der junge Mann, den ich jetzt irgendwie mit anderen Augen sehe, sieht mir mit erhobenen Augenbrauen dabei zu, wie ich einen Kampf mit meinem Gleichgewichtssinn ausfechte, den ich eigentlich nicht gewinnen kann. Die erste Runde geht schon mal an die Schwerkraft, denn ich hab schwer Schlagseite.

Erneut lande ich in den Armen des Kerls. „Du bist vom Dach gefallen. Mein Zauber hat zwar den Aufprall gedämpft, aber du solltest dich vorsichtshalber hinlegen“, rät er mir.

Was?“, zische ich.

Hab ichs mir doch nicht eingebildet. Jetzt fall ich auch noch vom Dach. Das heißt, er weiß jetzt, dass ich keine Kräfte habe und total unkoordiniert bin. ‘Ne Klasse unter der untersten Klasse halt.

Ich lege den Kopf in den Nacken, blicke zur Absturzstelle hoch und wanke erneut, da verliere ich Bodenkontakt, aber diesmal, weil mich der Kerl hochgehoben hat und zur Veranda trägt, wo er mich auf die Hollywoodschaukel legt.

Das ist auch so schon peinlich genug, da hätte er sein „Du solltest solche Arbeiten jemandem anderen überlassen“ ruhig steckenlassen können. Jemanden, der nicht zwei linke Hände und Füße hat, schwingt in seiner Rede mit.

Ich schnaube laut. „Mir sind die Verehrer leider ausgegangen“, murmle ich.

„Wie bitte?“, hakt er erneut nach – so als hätte er es nicht genau gehört.

Warte mal? Wieso bin ich so motzig? Hätte er meinen Fall nicht gesehen, hätt ich mir das Genick brechen können, ist der einzig halbwegs klare Gedanke, der mir – neben Knutschkopfkino, das sich immer wieder mal reinschleicht – im Kopf herumspukt.

Etwas versöhnlicher flüstere ich ein kaum hörbares „Nichts.“ Dabei vermag ich meinen Frust über die Tatsache, dass er sich kaum für mich zu interessieren scheint – sogar ständig hinter sich zum Nachbarhaus blickt, damit er schleunigst von hier wegkommt – nicht zu verbergen.

Was hatte ich erwartet?

„Brauchst du einen Arzt?“, will er wissen. Es ist aber klar, dass er hofft, ich wär unversehrt, damit er sich schnell vom Acker machen kann.

„Nein, lass mich einfach hier liegen. Ich komm schon klar“, verlange ich, mich vor mich hin schämend. Er nickt und verlässt die Veranda über die Stufen.

Einfach so.

Ich bin versucht, ihm hinter seinem Rücken die Zunge rauszustrecken, unterdrücke es aber erfolgreich, da ich heute schon tief genug gesunken – beziehungsweise gefallen – bin.

Hhhhh.

Meine Fresse, hat der einen Knackarsch. Okay, so viel zum Thema tief sinken. Ich könnte jetzt da oben bei den Englein schweben und hab nur Jungs im Kopf. Typischer Teenager halt.

Als er weg ist, fällt mir auf, dass ich mich nicht mal bedankt habe. Ich bin so ein Idiot. Mühevoll setze ich mich auf und fasse mir an die pochende Birne.

Eins ist klar, da kriegen mich keine zehn Pferde mehr hoch.

Ich knalle noch einmal so richtig schön gegen den Türrahmen unserer Eingangstüre mit Fliegengitter, bevor ich mich auf die Couch ins Wohnzimmer rette, um dort still vor mich hinzuleiden.

Peinlicher geht’s eigentlich nicht mehr. Naja, wenn ich mir das ausgewaschene Minions T-Shirt, das ich als mein Arbeitsshirt auserkoren habe, als es vor nicht allzu langer Zeit uncool wurde, und die zerrissene Latzhose, die nur einen Träger hat, so ansehe, revidiere ich meine Aussage von vorhin: Es geht immer noch peinlicher – ich hab nämlich noch meine rosa Crocs an.

Wer steigt denn bitteschön mit rosa Crocs eine Leiter hoch?

Hhhhhh.

**********

Alle sind in hellem Aufruhr, weil sie gestern die Limousinen der Lancester-Hexer vorfahren haben sehen. Sogar einen Tag früher als erwartet.

Nein wirklich!, spotte ich gedanklich.

Mann, kriegt euch wieder ein. Ist ja fast schlimmer als die Blicke meiner Kleinstadtmitbewohner, die mich anstarren, als hätt ich die Pocken.

Bestimmt hat Mister Pix – diese Plaudertasche – alles ausgeplaudert und jetzt weiß jeder, dass ich der kaputte Reifen unter ihnen bin.

Auf dem Weg zurück vom Tante-Emma-Laden fühl ich mich immer noch mies. Die Schwellung an meiner Zunge ist zwar mittlerweile abgeklungen, aber ich glaube, ich brüte eine Grippe aus. Das hat mir gerade noch gefehlt. Hätt ich Kräfte, würd ich mir den sich anbahnenden Schnupfen einfach weghexen und ihn Mister Pix verpassen. Okay, das war gemein, aber immerhin hat er an der Kasse so komisch gekuckt und mir nicht mal einen seiner Schwabbelwackeldackel aus Eigenproduktion, die im Dunkeln leuchten, andrehen wollte.

Sehr verdächtig.

Im nächsten Moment steigt Hitze in mir hoch und ich hab das Gefühl, gleich zusammenzuklappen. Schlagartig tauchen die Bilder von meinem gestrigen Sturzflug wieder auf und mein Magen hebt sich beim blanken Gedanken daran.

Übrigens hab ich den Vorfall vorsichtshalber verschwiegen. Naja, Kunststück, wir reden nicht mehr miteinander – naja, genaugenommen rede ich nicht mehr mit ihnen. Hab die Trotzphase noch nicht überwunden.

Darüber hinaus – ich meine, im Grunde genommen war ja gar nichts. „Außer, dass du fast die Radieschen von unten gesehen hättest“, meldet sich die fiese Stimme in meinem Kopf zu Wort.

Wiedermal.

Mein Kopf pocht bei dem Gedanken. Mit einem gequälten Laut knicken mir auch schon die Knie ein und ich kippe erneut weg. Mit einem dumpfen Knall lande ich mitten auf der Straße, was den gesamten Inhalt meiner Einkaufstüte in alle Winde verstreuen lässt. Zumindest nehme ich das an, weil das Gemüse für das Essen von dieser Woche gerade an mir vorbeizieht.

„Wunderbar“, rufe ich genervt und stoppe einen Apfel, der gerade direkt vor meiner Birne vorbeigerollt ist und drohte, in die Freiheit der Wildnis zu entkommen.

Aus dieser schrägen Perspektive erkenne ich, wie eine schwarze Limousine in den Feldweg einbiegt und vor den kümmerlichen Überresten meines Einkaufes, zwischen denen ich noch liege, stoppt.

Wie kann es auch anders sein?

Die Elite-Hexer in ihrer Prachtkutsche sehen zwar davon ab, mich zu überrollen und bremsen anscheinend auch für Normalos, sie haben aber die Nerven, sogar noch zu hupen.

Der Tag wird immer besser.

Mühevoll und wie ein Rohrspatz in Flüsterlautstärke schimpfend stemme ich mich in eine sitzende Position hoch.

Als dann auch noch drei Jungs in schwarzen Anzügen aussteigen, von denen einer knackiger als der andere ist, bin ich versucht, mich einfach wie ein angefahrenes Gürteltier tot zu stellen. Dafür ist es jetzt allerdings zu spät.

Die Versuchung war nur von kurzer Dauer, denn im nächsten Augenblick rapple ich mich hoch. Als wär die Situation noch nicht beschämend genug, hab ich mich noch nicht ganz im Griff, sodass mir zwei von ihnen zu Hilfe kommen und mich an je einer Seite einklemmen, als ich mir so richtig schön die Flossen an ihrer Motorhaube verbrannt habe, an der ich mich abstützen wollte.

„Bist du hingefallen?“, will ein blonder Engel mit den süßesten, männlichen Grübchen, die ich jemals bei einem Mann gesehen habe, total freundlich, wissen. Wow, warte mal, ich dachte, die wären Sechslinge. Dafür sehen sie sich aber nicht wirklich ähnlich. Hm.

„Nein, ich mach hier bloß hautnahe Untersuchungen der Bodenbeschaffenheit“, schnauze ich ihn an, was mir im nächsten Moment auch schon wieder leidtut.

Die Jungs, unter denen auch dieser Alaric ist, der mich vor meinem Sturz vom Dach gerettet hat, und der nun Auslöser für meine Hormonausschüttung ist, die mein Herz beinahe schmerzhaft gegen meine Brust pochen lässt, tauschen verwunderte Blicke aus. Der dritte Bruder im Bunde starrt mich nur mit kaltherzigem Blick an, der einem die Gänsehaut aufziehen lässt.

„Du solltest nicht alleine auf die Straße gehen“, rät mir Alaric, der meine Sachen mit Magie zusammensammelt und mir die Tüte überreicht, die ich ihm etwas zu forsch aus den Händen reiße – zumindest für meinen Geschmack – und an meine Brust presse.

Und jetzt versucht mal, damit klarzukommen, dass jeder gesehen hat, dass da auch ein paar Mädchenhygieneartikel und ein PEZ-Spender drunter waren.

„Siehst du doch, dass ich nicht in sein Beuteschema passe“, knalle ich ihm murmelnd und mit hochrotem Schädel hin, reibe mir erschöpft die Stirn, krame Reste meiner guten Kinderstube hervor (Tante Eves Einfluss mal außen vor gelassen) und sage deutlich sanfter: „Danke nochmal wegen gestern.“

„Was war denn gestern?“, fragt der blonde Engel neugierig.

„Sie ist vom Dach gefallen“, verrät er mich volle Breitseite. Das sieht jetzt absolut nicht so aus, als wär ich ein Tollpatsch. Besonders nicht nach dieser Aktion.

„Was habt ihr denn zusammen auf dem Dach gemacht?“, hakt das Engelchen sichtlich amüsiert nach. „Ihr Kätzchen gerettet?“, mutmaßt er schelmisch grinsend und schlägt Alaric den Ellbogen in die Rippen.

„Wie lange bist du darüber?“, reißt uns plötzlich ein älterer Mann, der scheinbar mittlerweile auch ausgestiegen ist, als ich von den Traumtypen hier abgelenkt war, aus unserer Konversation. Sein Anzug ist wie der der Jungs schwarz mit schwarzem Hemd. Sein schwarzes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt, ist an den Schläfen bereits deutlich ergraut und sein Blick ist mehr als autoritär. Diese Hakennase verleiht ihm einen Hauch Aristokratie, die er der nächsten Generation weitergegeben hat. Ihr Dad, prima.

„Worüber denn drüber?“, will ich wissen.

„Über deinem sechzehnten Geburtstag“, meint er beinahe selbstverständlich. Woher weiß er das, verdammt nochmal? Ah, Mister Pix, durchfließt mich die Erkenntnis. Die waren wohl auch einkaufen. Naja – davon abgesehen – mein jämmerlicher Zustand spricht eigentlich für mich.

Die Köpfe der Jungs schnellen zu mir rüber. An ihren fassungslosen Blicken erkennt man mal wieder, wie absonderlich mein gesellschaftlicher Status gerade ist.

Ich sollte ein Selfie mit ihnen machen und es Grandma als Beweis vorlegen, um ihr Argument: „Das ist doch alles halb so wild, ob du jetzt oder später deine Kräfte bekommst“ zu entkräften.

„Ich muss jetzt los“, schiebe ich als Ausrede vor und will Leine ziehen, da hält mich ihr Dad mit den Worten: „Du hast meine Frage nicht beantwortet“ zurück.

Ja, das war Absicht.

„Es ist nur zu meinem Besten“, rutscht es mir raus. Ich fass es nicht, jetzt kling ich schon wie Grandma.

„Der Ripper hat auch bereits junge Hexen ohne geweckte Kräfte angegriffen“, klärt mich Mister Lancester auf.

Erinnere mich daran, dass ich mit Grandma ein Hühnchen rupfe. Oder auch zwei. Sie sagte doch, so wär ich für den Mörder nicht interessant. Und ich hab mich schon in Sicherheit gewiegt – sogar Gedanken-Späßchen über meine vermeintliche Immunität gemacht. Mit stolz geschwellter Brust hab ich den Müll rausgebracht als es schon dunkel war, obwohl sie eine Ausgangssperre verhängt haben, sobald die Sonne untergegangen ist.

Und dann holt er sich auch Normalos.

„Komm doch mit deiner Familie zum Abendessen zu uns“, reißen mich Mister Lancesters Worte aus meinem unbehaglichen Grübeln. „Sagen wir heute Abend. Sechs Uhr. Das macht man doch so unter Nachbarn.“

Wieso klingt das irgendwie absolut nicht einladend?

**********

Ich bin so schnell nach Hause gelaufen, dass ich total abgehetzt das Verandafliegengitter aufschlage und erstmal wie ein asthmatisches Schweinchen keuchend nach Luft schnappe, bevor ich durch die Eingangstür trete und mitten in den fünf Uhr Tee meiner Tanten platze, die bei meinem Anblick mit dem klackernden Rühren ihrer Teelöffel innehalten.

„Er holt sich auch die Normalos“, werfe ich meiner Grandma vor.

„Wer?“, ruft Tante Liz aufgebracht und springt hoch, sodass ihr die Tasse vom Schoß kippt.

„Mister Pix?“, mutmaßt Tante Eve. „Ich sollte auch mal wieder einkaufen gehen. Da scheint ja richtig was los zu sein. Zumindest deutlich mehr als mit euch zwei alten Schachteln rumzuhängen.“

„Ich kann dir nicht folgen“, erklärt meine Grandma total ruhig, streift ihren Löffel gemächlich am Tassenrand ab und legt ihn auf ihrer Untertasse ab.

„Der Ripper – er holt sich auch die Hexen, deren Kräfte noch nicht geweckt wurden“, stelle ich klar.

Der Ripper“, ruft Tante Liz entsetzt. „Ist er hier? Hast du ihn gesehen?“ Sie steht kurz vorm Hyperventilieren, da wende ich ein: „Nein, er ist nicht hier. Grandma, wieso hast du mich angelogen? Du sagtest doch, du würdest meine Kräfte zu meinem Schutz nicht wecken. Jetzt erfahr ich, dass das gar nichts bringt.“

„Sags ihr“, verlangt Tante Eve von ihrer Mutter. „Sie kriegts sowieso raus.“

„Was soll sie mir sagen?“, fordere ich, doch keiner rückt mit der Sprache raus.

„Okay, dann will ich jetzt meine Kräfte. Auf der Stelle“, fordere ich, nachdem nach ein paar Sekunden immer noch keine Reaktion von ihnen kommt. Ich breite sogar die Hände zu beiden Seiten aus, als würd ich allzeit bereit sein, sie mit offenen Armen zu empfangen.

Da sie mich nur anstarren, als hätt ich sie nicht mehr alle, mache ich das, was jeder in dieser Situation gemacht hätte – ich lasse die Flossen wieder fallen, zicke was das Zeug hält und stampfe ein paar Mal auf den Boden.

„SEID IHR SCHWERHÖRIG?“, brülle ich, sodass Tante Liz sogar einen schrillen Schrei loslässt.

„Jetzt schon“, antwortet Tante Eve und pult in ihrem Ohr herum.

Und dann gibt mir meine Grandma mit den Worten: „Es ist nur zu deinem Besten“ den Rest.

Fuchsteufelswild raufe ich mir die Haare. „Okay, dann frage ich unsere neuen Nachbarn. Vielleicht holen die meine Kräfte, damit ich mich zumindest verteidigen kann, falls mich der Ripper holen kommt“, appelliere ich an sie.

„Kräfte können nur durch direkte Blutsverwandte geholt werden“, weist mich Grandma auf das Offensichtliche hin. Das wusste ich natürlich. Jeder weiß das.

Und genau darin liegt mein Problem.

„Ich entscheide allein, wann dies der Fall ist“, ergänzt sie. Meine Grandma hat diesen Die-Diskussion-ist-hiermit-beendet-Blick drauf, den ich nur allzu gut kenne. Naja, zumindest hat sie sich ihm schon lange nicht mehr bedient, da ich seit ein paar Jahren freiwillig ins Bett gehe und das Schlagzeug abgehakt habe, das sie mir bis heute verwehrt haben.

Aus Mangel an weiteren stichhaltigen Argumenten, die ich nicht schon bei unserer ersten Diskussion an meinem Geburtstag gebraucht habe, greife ich weiter in die Trickkiste kindlichen Verhaltens und versuche, die drei gegeneinander auszuspielen.

„Tante Eve“, fordere ich mit Unschuldsblick.

Sie hebt die Hände abweisend hoch. „Tut mir leid, Liebes. Ich hab Schiss vor deiner Grandma. Aber brauchst du Mitleid? Ich könnte mal schnell welches vortäuschen.“

Dass diese Strategie noch nie zuvor geklappt hat, wird mir gerade eben wieder bewusst, als Tante Liz sich hinter der Tür in Sicherheit bringt, um sich der Konfrontation mit mir zu entziehen.

So viel dazu.

*********

Unglaublich, dass weder meine Grandma noch eine meiner Tanten mit rüber zu unseren Nachbarn kommen wollte. So steh ich hier alleine vor dem Spukschloss, dessen Vorgarten so zugewachsen ist, dass ich immer noch damit beschäftigt bin, mir das Unkraut aus den Haaren zu ziehen, bevor ich mit dem Türhaken auf mich aufmerksam mache, während ich innerlich am Brodeln bin.

Wie können sie sich bis jetzt noch weigern, mir meine Kräfte zu geben? Ich hatte eindeutig die besseren Argumente.

Als wär das nicht schon demütigend genug, bin ich immer noch nicht wieder auf dem Dampfer. Ein leichter Schweißfilm überzieht meinen Körper, den nicht mal die kalte Dusche vertreiben konnte, die ich mir vorhin gegönnt habe. Doch ich hatte schon zugesagt zu kommen.

Naja, eigentlich hatte ich gar nichts erwidert, als mich Mister Lancester eingeladen hat und es wär doch echt unhöflich, wenn keiner von uns aufkreuzen würde. Ja – ich gebs zu – vielleicht bin ich auch neugierig auf die anderen Jungs. Das ist doch die Gelegenheit mal mit Elite-Hexern abzuhängen.

Oder dich bis auf die Knochen zu blamieren“, ergänzt die fiese Stimme in meinem Kopf.

Ein Gruselbutler mit Stiernacken, dem ich sofort den kleinen Geschenkkorb in die Hand drücke, nachdem er mir die Tür geöffnet hat, führt mich in einen Salon, in dem bereits die sechs Jungs, ihr Dad, eine ältere, blonde Frau – wohl ihre Mum – und vier weitere Butler warten.

„Willkommen. Wie war nochmal dein Name?“, empfängt mich die Frau, die ein schwarzes, bodenlanges Kleid trägt, irgendwie starke Ähnlichkeit mit Morticia aus der Addams Familie hat, und mir unentwegt die Hand tätschelt, bevor ich sie ihr aus der Flosse ziehe und ihr stattdessen den kleinen Geschenkkorb überreiche, den ich dem Butler wieder abnehme.

Dabei versuche ich, mir nicht vorzustellen, wie sie mit sechs Jungs gleichzeitig schwanger war. Das hat sicher Spuren der Verwüstung hinterlassen.

„Aimee“, erkläre ich und winke in die Runde der Jungs. Hm, hier haben sich also all die heißen Junggesellen verkrochen. Ich hab mich schon gefragt, wo die alle hin sind.

„Setz dich doch“, bietet Morticia an und ich nehme an der langen Tafel Platz.

„Das sind unsere Söhne. Duncan, Raik, Alaric, Niclas, Elijah und Alex“, stellt Mister Lancester alle vor. Die Brüder sehen sich echt kein bisschen ähnlich – naja, bis auf ihre Nasen. Sie haben sogar alle unterschiedliche Haarfarben.

„Wo ist denn deine Familie?“, fragt mich Mister Lancester.

„Ähm, tja, also Tante Liz hat Angst vor Fremden, meine Grandma hatte nichts anzuziehen und Tante Eve sagte mir, die Planetenkonstellation sei erst wieder in dreißig Jahren so ideal wie heute, um Kräuter gegen Darmbeschwerden zu pflanzen.

Den Moment kann man nicht vorbeiziehen lassen. Das würden Sie verstehen, wenn Sie schon einmal eins der Makadamia-Plätzchen meiner Grandma gekostet hätten. Also nur so viel – wären Sie ein Vampir, würden Sie sich hinterher das Sonnenlicht herbeisehnen. Die pfeifen durch wie nichts.“ Hab ich das grad echt laut gesagt? „In dem Geschenkkorb sind übrigens welche. Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Die Kräuter sind aber … unbedenklich. Größtenteils.“ Ich sollte jetzt lieber die Klappe halten.

Die Jungs verbergen ihr Grinsen hinter vorgehaltener Hand. Zumindest ein paar von ihnen. Ich rede Blödsinn, wenn ich mich in die Enge gedrängt fühle.

Und so fühl ich mich gerade eben.

„Ich habe erfahren, dass du vom Dach gefallen bist. Was hast du denn dort oben gemacht?“, will ihre Mum wissen.

„Reparaturarbeiten“, stoße ich schulterzuckend aus, nachdem der erste Gang – Kürbissuppe – serviert wurde. Wow, hier ist alles piekfein. Die haben sogar Silberbesteck.

„Das ist doch ein Haus voller Hexen. Ein Zauberspruch und es wäre erledigt“, wendet ihr Dad ein und erkennt sofort unseren Schwachpunkt.

„Ich wollts einfach selber machen“, rede ich mich raus und fixiere den gegrillten Fisch, den mir einer der Butler soeben vor die Nase setzt.

Die brauchen ja nicht zu wissen, dass wir total talentfrei sind.

Die restliche Zeit des Essens schweigen wir uns an. Ich mustere die Jungs verstohlen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – zumindest für Zwillingsbrüder.

Ob es stimmt, was ich gehört habe, dass alle nur jeweils eine ausgeprägte Charaktereigenschaft geerbt haben? Einer soll freundlich sein, einer mürrisch, einer heldenhaft, einer gemein, einer verträumt und einer grausam. Alaric ist sicher heldenhaft und der blonde Engel – Niclas – ist freundlich. Duncan sieht verträumt aus. Gemein, grausam und mürrisch sind schwer auseinanderzuhalten. Raik, Elijah und Alex sehen alle drei nicht sehr sympathisch aus.

„Hast du keinen Hunger?“, reißt mich Misses Lancester aus meinen Gedanken. Wie lange stochere ich eigentlich schon in meinem Essen rum?

„Ähm, nein, ich mag es nur nicht, wenn mich mein Essen … anstarrt“, gebe ich zu und ziehe die Aufmerksamkeit des Tisches wieder auf mich.

„Wo sind denn deine Eltern, Liebes?“, fragt mich Misses Lancester. „Wohnen sie außerhalb?“

„Irgendwie schon. Sie sind gestorben, als ich klein war“, gebe ich zu.

„Wie schrecklich“, heuchelt sie Anteilnahme.

Ich lüfte unbemerkt mein T-Shirt, weil es hier drin so heiß ist. „Ist dir nicht gut, Liebes?“, fragt mich seine Mum mütterlich. „Du bist blass.“

„Sie hat das Fieber“, antwortet Mister Lancester für mich. Quatsch, das ist doch kein Fieber. Oder?

„Ist nur ‘ne Erkältung“, spiele ich alles runter.

„Wieso hat man deine Kräfte nicht mit sechzehn gerufen?“, fällt Mister Lancester gleich mit der Tür ins Haus und löst ein tischweites Schnauben aus. Zumindest bei denen, für denen die Info neu war. Muss er das denn schon wieder durchkauen?

Misses Lancester schlägt sich empört die Hand vor den Mund. Ja, ich weiß – so viel zum gesellschaftlichen Selbstmord. Das war grad der Todesstoß.

„Ich ziehe das Leben eines Menschen der Bekanntschaft mit einem Meuchelmörder vor“, kontere ich und werfe das Glas um, nachdem ich soeben theatralisch greifen wollte, weil mein Blick immer wieder verschwimmt.

„So etwas ist wider unserer Natur als Hexen“, ruft sie empört. Ganz meine Rede. „In diesem Zustand solltest du kein Dach mehr besteigen. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, hätte Alaric deinen Sturz nicht abgefangen“, tritt Misses Lancester die Geschichte breit. „Am besten, du bewegst dich gar nicht mehr.“

„Spitzenidee“, spotte ich. „Ich fang gleich damit an, wenn ich zu Hause bin. Ich sollte jetzt sowieso gehen.“ Mir ist nämlich echt übel, wenn ich mir meinen Kumpel – den zerstocherten Buntbarsch so ansehe.

Ich springe hoch, wanke ein paar Mal, drücke ein kaum hörbares „Danke für das“ gruslige „Abendessen“ hervor und mache auf dem Absatz kehrt.

„Aimee Dacourt“, hält mich Mister Lancester in der Tür zurück.

„Mein Name ist Allester“, berichtige ich ihn. „Es steht auch auf unserem Briefkasten“, sollte sowas wie ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, falls er mich gleich wieder vergisst, sollte ich zur Tür raus sein.

„Das ist nicht dein Ernst, Vater. Sieh sie dir doch an“, stellt Alex mürrisch fest. Was soll das denn bitte heißen?

Niclas sieht erneut belustigt aus. Alaric mustert mich so intensiv, dass ich schlucken muss.

„Du hast da ein schönes Amulett um den Hals, Aimee. Legst du es für mich ab?“, verlangt Mister Lancester.

Und das Beste ist: Das war gar keine Bitte – eher ein Befehl. Was will er denn jetzt mit der Kette?

„Ähm, nein“, widersetze ich mich. Der Typ ist echt eigenartig.

„Ich begleite dich zur Tür“, bietet Niclas an. Wie nett – passend zu seinem Charakter.

„Schon gut, ich finde alleine raus“, winke ich ab.

Sollte ich ihnen sagen, dass sie lieber nicht mit einer Gegeneinladung rechnen sollen? Lieber nicht – das Essen war so schon eigenartig genug.

Wie abartig war das denn? Auf der Veranda stolpere ich unkoordiniert die Treppen runter und sehe zu, dass ich schleunigst nach Hause komme.

Immerhin könnte hier überall der Ripper lauern – und ich fühl mich, als hätt ich eins von den Makadamia-Plätzchen meiner Grandma erwischt.

Oder auch zwei.


Ich glaub, mich knutscht ein Frosch

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