Читать книгу Ich glaub, mich knutscht ein Frosch - Marie Lu Pera - Страница 5

Sei kein Frosch

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Ich blinzle verschlafen und blicke in ein Blätterdach über mir. Jetzt sag nicht, der Sturm hat das Dach weggefegt.

Moment.

Energisch fahre ich hoch, fasse mir an die pochende Birne und stöhne, weil das so wehgetan hat.

„Die schlafende Göttin ist erwacht“, lässt mich zusammenzucken. Okay. Vogelscheuche. Wald. Bleicher Kerl. Warte mal.

Ich rapple mich hoch und wanke zurück. „Ich hatte einen Traum“, stoße ich irritiert aus.

„Ich hoffe, ich kam darin vor … nackt“, erwidert die Vogelscheuche.

„Sie sagte Traum, nicht Alptraum“, motzt ihn der bleiche Typ an.

Ich drehe mich im Kreis und verlange: „Wo bin ich?“

„Mitten in Blairwitch-Project II, heißer Feger“, zwinkert mir die Vogelscheuche zu.

„Ich hab Wahnvorstellungen und dreh durch“, sage ich mehr zu mir selbst als zu ihnen und raufe mir die Haare.

Plötzlich taucht jemand zwischen den Bäumen auf – besser gesagt – etwas. Ein junger Mann, aber er ist übersät mit schwarzen Haaren, wie einer dieser Wolfsmenschen. Neben ihm schlendert der süße Typ aus meinem Traum, dessen nackter Oberkörper akutes Herzstolpern in mir auslöst.

„Was ist passiert? Wie komm ich hierher?“, sind mal die drängendsten Fragen.

Ich greife mir an die geschwollenen Lippen, unfähig, das Bilderwirrwarr in meinem Kopf zu ordnen, das über mich einprasselt wie ein warmer Sommerregen.

Sag mal, haben wir uns geküsst?

Bruchstückhaft erinnere ich mich an die Lancesters, die mich holen wollten und an den Kerl, der mich befreit hat.

Das war also kein Traum.

Er ist zur Hälfte Lancester und wir haben wahrscheinlich die ganze Nacht lang geknutscht, weil ich mich schon viel besser fühle.

Ich brauche also ihre Küsse – na wunderbar.

Die zwei herannahenden Kerle halten inne, als sie mich sehen, da bekomme ich Panik, stolpere zurück und pralle an die Vogelscheuche.

„Uh, Körperkontakt“, stellt das Ding fest und lässt den Blick ziemlich offensichtlich über meinen Körper schweifen. „Da gibt es etwas, das du über mich wissen solltest. Mit Belästigung muss jederzeit gerechnet werden, also tu dir keinen Zwang an.“

Fear“, tadelt ihn der halbnackte Kerl.

„Hey“, verteidigt sich dieser, „Eigentlich wurde ich sehr gut erzogen. Keine Ahnung, was dann passiert ist.“

„Ich hab irgendwie ein Blackout“, gebe ich zu.

„Keine Angst, Dorothy. Wir hatten die Nacht unseres Lebens“, schwärmt dieser Fear.

„Wer ist Dorothy?“, will ich wissen.

„Kannst du dich an letzte Nacht erinnern?“, fragt mich der Kerl, der sich gerade ein hautenges, schwarzes T-Shirt überstreift, was nicht gerade zu meiner Beruhigung beiträgt.

„Irgendwie schon“, gebe ich zu.

„Und du?“, fragt die Vogelscheuche den Kerl, der glaub ich Neil heißt, der ihn mit bösen Blicken straft.

„Hey“, verteidigt sich Fear abermals. „Kuck mich nicht in diesem Ton an. Da ging ja ganz schön die Post ab.“ Sag mal, haben wir noch was anderes gemacht, als geknutscht? Ich erinnere mich nicht. „Aber ich bereue nichts. Du kannst mich übrigens weiterhin ‚Oh Gott‘ nennen, wie du es letzte Nacht getan hast und nur, weil du dich nicht erinnern kannst, bedeutet es nicht, dass es nicht passiert ist“, meint Fear zwinkernd und erntet einen erbosten Blick von Neil.

„Helft mir mal. Was ist gestern Nacht passiert?“, fordere ich.

„Wenn du wüsstest, was ich im Traum schon alles Ungezogenes mit dir angestellt hab“, macht mich Fear erneut an.

„Du hast im Fieberwahn phantasiert“, informiert mich der bleiche Typ – Shadow. „Wie heißt du nochmal?“, will er wissen.

„Aimee“, antworte ich.

„Wie komm ich nochmal hierher?“, frage ich in die Runde.

„Ich bin mit dir hierher gesprungen“, antwortet Neil, als wär es das Normalste der Welt einfach so mitten in den Wald zu springen. Aha. Er ist also ein Hexer. Blitze tauchen wieder in meiner Erinnerung auf.

„Und du bist nochmal?“, hinterfrage ich.

„Neil.“

„Nein, deinen Namen weiß ich noch. Wer bist du? Wieso hilfst du mir?“

„Dazu später. Wir müssen jetzt von hier fort. Sie werden uns sicher folgen“, speist er mich einfach so ab.

„Ähm, kurze Zwischenfrage. Wieso folgen die uns? Ich meine, die sind doch wegen dem Ripper in der Stadt. Bin ich halt abgehauen. Die haben doch sicher genug Sklaven.“ Sie tauschen Blicke aus, die ich nicht deuten kann, daraufhin verwischt Neil mit einer Handbewegung die Spuren unseres Nachtlagers und kommt auf mich zu.

„Lass uns zuerst von hier verschwinden. Bist du bereit?“, fragt er mich.

„Bereit wofür?“

„Zu springen.“

„Okay, ähm, ein klares Nein“, gebe ich zu.

Er ignoriert mich. „Halt dich an mir fest.“ Total überfordert komme ich auf ihn zu und klammere mich an seine Brust wie eins dieser Plüschklammeräffchen mit den Klettverschlüssen an den Handflächen.

Ich komm grad nicht mit dem Körperkontakt klar. Immerhin haben wir uns geküsst. Irgendwie ist er total … anziehend, aber er sieht mich distanziert an, so als würde er nur hier sein, weil es ihm jemand befohlen hat. Ja natürlich, so muss es sein. Jemand hat ihn geschickt. Wie es in dem Brief angekündigt wurde.

„Wir haben doch nicht – ich meine“, stammle ich und weiche seinem Blick aus.

„Wir haben doch nicht was?“, fordert er einen Tick zu unfreundlich für meinen Geschmack.

Ich beiße mir auf die Lippen, da scheint ihn Erkenntnis zu erfassen. „Natürlich nicht!“, blafft er mich an.

Ooookkkaaayyy. Kein Grund gleich an die Decke zu gehen.

Neil hält mich an der Taille fest und trommelt die Jungs zusammen. Im nächsten Moment werde ich wieder von der Waschmaschine durchgeschleudert.

Neil presst mich an sich, weil meine Knie wie Wackelpudding sind. „Alles okay?“, fragt er mich, aber seinem Tonfall entnehme ich, dass es ihn nicht sonderlich interessiert. Aus welcher Richtung seine Stimme gekommen ist, könnt ich grad echt nicht sagen.

Ich spüre, wie er meinen Kopf am Kinn hochhebt, da öffne ich die Augen. Wir sind in einem heruntergekommenen Hotelzimmer gelandet. Fear lässt sich soeben aufs Bett fallen und streckt sich ordentlich durch.

„Wie machst du das?“, frage ich ihn.

„Magie“, antwortet er, aber so verführerisch und auch gleichzeitig abschätzig, dass ich gleich wieder weiche Knie bekomme. Halleluja, mich hats voll erwischt. Der Kerl ist aber auch verboten sexy.

Das mit dem Springen meinte ich eigentlich gar nicht. Ich hab gehört, dass starke Hexer das können. Die Frage ist mir rausgerutscht. Eigentlich habe ich laut gedacht und wollte wissen, wie er es schafft, mir so den Kopf zu verdrehen, wo er doch gleichzeitig kühl wie ein Fisch ist.

Was ist denn nur mit mir los? Ich steh doch sonst nicht auf die Bad-Boys. Oder? Naja, zumindest bin ich bis jetzt noch keinem begegnet.

„Du hast noch Fieber“, stellt total unterkühlt fest. Nein, das ist die lodernde Hitze der Leidenschaft der vergangenen Nacht, die mir noch in den Knochen steckt. „Soll ich …“, haucht er und sieht verstohlen zur Seite, da bekomm ich dann doch irgendwie Muffensausen und löse mich von ihm. Hat er gerade angedeutet, ob er mich wieder küssen soll?

„Das ist irgendwie … beängstigend“, gebe ich zu.

„Von mir geküsst zu werden?“, mutmaßt er überheblich.

„Von deiner Bereitschaft abhängig zu sein, dass du mir deine Küsse gewährst“, berichtige ich ihn. Schließlich bin ich nicht scharf drauf einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. „Oder muss ich dafür auch dein Sklave sein?“, stelle ich ihn zur Rede.

Er zieht die Augenbrauen hoch. „Natürlich nicht!“, zischt er und sieht etwas vor den Kopf gestoßen aus.

Gleichzeitig lassen wir den Blick zu dem seufzenden Fear schwenken, der mit in die Hände gestemmten Kopf im Schneidersitz dasitzt und uns beobachtet.

„Wow, ganz großes Kino. Popcorn wär noch gut“, erklärt er grinsend.

„Ich hol uns etwas zu essen“, bietet Shadow an und verlässt das Zimmer.

„Ich begleite dich“, erklärt Neil.

„Warte“, halte ich Neil zurück und reibe mir angestrengt über die Stirn. „Wir sollten darüber reden. Ich …“ „Das kann warten“, unterbricht er mich forsch.

Dass seine Worte keinen Platz für Widerreden lassen, ist auch so klar. Ich mustere ihn intensiv, was mein Herz verrücktspielen lässt. Wow, seit wann steh ich auf Typen, die mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe? Und seit wann lass ich mir das gefallen? Ich weiß auch nicht. Ist das dieses Beschützer-Ding, das er voll draufhat oder … er macht es schon wieder. Dazu braucht er mich nur anzusehen, um mir das Gehirn aufzuweichen.

„Pass auf sie auf, Fear“, verlangt Neil.

Wieso hab ich das Gefühl, dass er mir absichtlich aus dem Weg geht? Was total schräg ist, da wir ja irgendwie … voneinander abhängig sind.

Nein, nur du bist von ihm abhängig“, macht mich die fiese Stimme in meinem Kopf auf das Offensichtliche aufmerksam.

„Warte“, halte ich Neil erneut am Arm zurück. „Du … du lässt mich mit ihm allein?“, flüstere ich mit verstohlenem Blick auf die Vogelscheuche, die mir absolut nicht geheuer ist.

„Du kannst dich an jeden meiner Strohhalme klammern, Puppe. Und darüber hinaus bin ich auch als Schmusedecke zertifiziert. Ich hab den Faserschmeichler und war sogar Testsieger. Mal ausprobieren?“, stößt Fear mit stolzgeschwellter Brust aus.

Ich lächle gequält, weil er irgendwie witzig aussieht, mit dem Strohhut, den Knopfaugen, der Jeans und dem Flanellhemd. Ich frage mich, ob er das Ergebnis eines schiefgegangenen Zaubers ist.

Neils „Wir sind bald zurück“, sollte wohl meiner Beruhigung dienen. Tatsächlich klingt es aus seinem Munde wie eine dunkle Vorsehung.

Der Wolfsmensch folgt ihnen wortlos. Ihn kann ich am allerwenigsten einschätzen.

„Ähm, wegen Wulf“, klärt mich Fear auf, als sie weg sind. „Mach dir da keine Gedanken. Der spricht nicht mit Weibchen. So ein Revierding. Hat was mit Unterwerfung zu tun.“ Unterwerfung? Wo bin ich denn hier reingeraten?

Obwohl ich froh bin, nicht das Leben als Sklave der Lancesters zu fristen, beschleicht mich dennoch das dumpfe Gefühl, dass das hier alles viel zu schnell geht. Besonders das mit Neil und mir. Was auch immer das krankes sein mag.

Besonders, wenn ich mir Fear hier ansehe, der gerade das Kissen aufgerissen hat und genüsslich die Federn mampft.

Das Badezimmer, in das ich mich verzogen habe, ist total heruntergekommen, aber ich brauch dringend eine Dusche. Ein Klopfen ertönt, da hab ich mir grad das T-Shirt hochgezogen. „Da drin wärs schöner, wenn ich dabei wär“, meint Fear vor der Tür.

Verschwinde!“, rufe ich ärgerlich.

„Du weißt ja, wie es heißt: Spart Wasser – duscht in Gruppen“, trällert er.

„Du weißt ja, wie es heißt: Trockenes Stroh brennt gut“, kontere ich. Er kuckt sicher durchs Schlüsselloch, also kralle ich mir ein paar Papiertücher und stopfe es zu.

„Habs kapiert, Baby“, stößt er eingeschüchtert aus. „Und nur fürs Protokoll. Ich hab gar nicht durchs Schlüsselloch gesehen“, verteidigt er sich, was mich lächeln lässt.

Das kühle Wasser tut gut auf meiner verschwitzten Haut, aber je mehr ich einen kühlen Kopf bekomme, desto eher realisiere ich die vergangenen Stunden und deren volle Tragweite.

Okay, da haben wir eine Vogelscheuche, die mich nach Strich und Faden angräbt. Einen bleichen Vielleicht-Vampir, der mich immer so komisch ansieht, als wär ich ein Erdnussbuttersandwich, auf dem die Grütze fehlt, einen Wolfsmenschen, der nicht mit mir spricht und mich eigentlich total ignoriert.

Und wer ist dieser geheimnisvolle Kerl, der die Schmetterlinge in meinem Bauch verrücktspielen lässt und mit dem ich auf diese total bizarre Art und Weise verbunden bin? Ein halber Lancester also. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat oder wo er mich hinbringt.

Einerseits finde ich das, was da zwischen uns ist, total aufregend, aber es macht mir auch unsagbare Angst.

Was, wenn er mal sauer auf mich ist oder einfach nicht mehr die Wiederbelebungsmaschine spielen will? Oder schlimmer – was, wenn er eine Freundin hat? Das wär ja eine total kranke Dreiecksbeziehung.

Aber so wie er mich behandelt, weiß ich jetzt schon, dass das auf Dauer nicht gutgehen kann. Er scheint distanziert und abgebrüht zu sein. Sieht das hier wohl als eine lästige Pflicht an, die er hinter sich bringen will – wie Sozialdienst.

Ich streiche den Dampf vom Spiegel. Also eins weiß ich genau, ich bin absolut kein heißer Feger. Heute seh ich sogar noch einen Tick mieser aus als sonst. Ich kann Neil verstehen, dass ihm das hier absolut kein Vergnügen bereitet, das hässliche Entlein zu küssen.

Ich fange an zu begreifen, dass ich nicht mehr nach Hause kann und jetzt von Typen gejagt werde, die mich versklaven wollen. Darüber hinaus bleibe ich ein Leben lang ein Normalo. Aus mir wird nie eine richtige Hexe werden. Ferner noch, ich bin an einen Kerl gefesselt, der mir aus Mitleid oder durch einen Befehl seine Küsse schenkt. Mit schier übermenschlicher Kraft dränge ich die Tränen zurück, die meine Augen zu fluten versuchen.

Total niedergeschlagen trete ich aus dem Badezimmer. Fear schnarcht vor der Glotze – inmitten eines Meeres an Daunen, die er im Takt seiner Atmung einsaugt und auspustet. Zumindest bis er eine davon einatmet und krampfhaft zu husten beginnt. Ich sehe alarmiert hoch, doch da kriegt er sich auch schon wieder ein, ohne überhaupt aufgewacht zu sein.

Niedergeschlagen setze ich mich ans Fensterbrett, ziehe die Beine an meinen Körper und weine stille Tränen in meine Knie.

Die Tatsache, dass ich schon wieder leichten Schüttelfrost bekomme und eigentlich nie von einem Typen – egal wie heiß er ist – abhängig sein wollte (schon gar nicht von einem arroganten Kerl), macht das alles auch nicht grad besser. Aber das ist es, was ich bin. Abhängig. Ich fühl mich wie ein absoluter Schmarotzerpilz, der an ihm festklebt.

Im nächsten Moment wird mir schwindlig. Ich falle vom Fensterbrett und knalle auf den Boden. Fear schießt hoch, um mir zur Hilfe zu kommen, doch ich schaffs noch selbst aufzustehen. Toll, jetzt ist er auch noch aufgewacht.

Im nächsten Moment verschwimmt aber mein Blick und bunte Lichter beginnen vor meinen Augen zu tanzen.

Ich kichere. „Das war lustig.“

„Aimee?“, flüstert die Vogelscheuche. „Hast du dir wehgetan?“

„Wer ist Aimee?“, will ich wissen.

„Dorothy“, korrigiert er sich selbst. „Wieso weinstn du?“

Ich streiche mir über die Wangen und mustere die Nässe an meinen Fingern, bevor ich die Schultern hochziehe und „Keine Ahnung“ ausstoße.

Ich kralle mich in meinen Haaren fest und dreh mich im Kreis. „Lass uns tanzen.“

„Ähm, okay“, stimmt er zögerlich zu. „Hey, kann es sein, dass du schon wieder Fieber hast? Du siehst heiß aus.“

„Mir ist heiß“, bestätige ich und ziehe das T-Shirt und die Hose aus.

„Das nenn ich mal einen Body“, schwärmt er.

Ich lache laut auf und beginne, in Unterwäsche zu tanzen. Kurz frage ich mich, wieso zur Hölle ich das mache, aber es ist ein Traum, also kann ich tun und lassen was ich will.

Kurz entweicht mir beim Anblick meiner kleinen Babyspeckschwarte am Bauch, die ich liebevoll „Schwibbelschwabbel“ nenne, ein belustigter Laut – beim Anblick meiner viel zu kleinen Brüste kommt mir sogar ein Kichern aus.

Die Vogelscheuche gibt sich die Show vom Bett aus, während ich einen Song nach dem anderen schmettere.

Ich beginne zu verstehen, dass man im Traum Sachen verarbeitet, die man tagsüber so macht. Wow, das muss echt ein kranker Tag gewesen sein.

Ich wirble meine braune Mähne herum, die langsam trocken wird und fühl mich einfach nur frei.

Plötzlich steht Neil Armstrong mitten im Raum, der mich mit diesem tadelnden Blick straft, bevor er auf mich zukommt und mir seinen Mantel um die Schultern schlägt.

„Wieso ist sie fast nackt?“, stellt er die Vogelscheuche zur Rede.

„War klar, dass du mich zuerst verdächtigst, aber diesmal – und das kann ich selbst kaum glauben – bin ich unschuldig. Sie hat sich die Klamotten förmlich vom Leib gerissen. Da halt ich sie doch nicht auf. Sieh sie dir an. Aber keine Angst, Neil. Sie hat sowieso die ganze Zeit über von dir gesungen.“

Die Vogelscheuche zückt im nächsten Moment ein Smartphone, aus dem „I kissed a girl and I liked it“ von Katie Perry tönt. Grottenschlecht interpretiert wohlgemerkt.

Du hast ein Video von ihr gemacht?“, prustet der Bleiche und will auf die Vogelscheuche zugehen, die ihr Smartphone in ihrer Strohbrust verschwinden lässt und die Arme zur Seite wegstreckt. „Hols dir doch.“

Als Neil an mir vorbeiwill, halte ich ihn fest und schmiege mich an ihn.

Er sieht so heiß aus mit diesem engen, schwarzen T-Shirt, unter dem sich sein Sixpack deutlich abzeichnet. Diese verruchte, sexy Locke scheint er aber nicht bändigen zu können.

Ich kichere und streiche sie ihm erneut aus der Stirn. Er weicht sogar leicht zurück. Korrigiere: Leicht angewidert.

Das hält mich aber nicht davon ab ein: „Du bist wunderschön“, zu hauchen.

Die Vogelscheuche lacht sich hinter mir fast schlapp. „Ich meld dich gleich morgen für den hiesigen Schönheitswettbewerb an. Das rosa Fit-and-Flair-Meerjungfrauenkleidchen mit dem Herzausschnitt solltest du definitiv austragen. Dazu würden die Hello-Kitty Ballerinas perfekt passen, die du so magst.“

Ich liebe es, zu träumen. Man kann alles machen, wozu man sich in der Realität nie getraut hätte. Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, ihm über die Brust zu streichen.

„Holst du mir die Sterne vom Himmel, Neil?“, will ich wissen.

„Ja, Neil“, spottet die Vogelscheuche belustigt, „Nimm mir ‘ne Schnuppe mit.“

Neil kneift die Augen zusammen und greift an meine Stirn. „Du bist schon wieder fiebrig heiß.“

Ich lächle und streiche ihm über die Wange, an der ihm schon ein Dreitagebart wächst. Wie männlich ist das denn?

„Küss mich, Neil“, hauche ich ihm ins Ohr.

Sein Blick wird irgendwie gequält, bevor er befiehlt: „Verschwinde Fear. Du hast genug gesehen“, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Ich kann das sowieso nicht mitansehen“, verteidigt er sich. „Immerhin ist das schmutzig, falsch und moralisch höchst verwerflich – bin übrigens dabei, wenn ihr mich für einen flotten Dreier abwerben wollt.“

Mein Atem geht schon schwer, da hat Neil noch nicht mal meinen Nacken in seine Hand genommen, ganz zu schweigen von seinen weichen Lippen, mit denen er mir den Verstand raubt. Als er mich dann auch noch hochhebt und sich mit mir auf dem Bett niederlässt, hat mein Gehirn die Arbeit eingestellt. Meine Hände streicheln über seine harte Brust. Naja, zumindest taten sie es, bis er mich daran gehindert hat.

Obwohl ich nur am Zittern bin, fühl ich mich doch unglaublich wohl in seinen Armen.

„Neil“, hauche ich in sein Ohr.

„Was denn?“

„Wo warst du die ganze Zeit über?“

„Ähm, in London.“

„Neil?“

„Was ist denn noch?“, zischt er.

„Ich will nicht aufwachen“, verlange ich.

„Das ist kein Traum“, beharrt er immer noch.

*********

Aber man wacht immer auf.

„Sagt mir, dass ich nicht in Unterwäsche getanzt habe“, verlange ich von den Jungs, die am Fenster stehen und diskutieren.

„Nein“, aus Fears Mund lässt mich innerlich aufatmen. „Vorher hast du noch ‘ne Burlesque-Show abgezogen und mir alle zehn Pfundscheine aus der Tasche gezogen“, lässt mir die Röte in die Wangen schießen. Ich hab mich ja absolut nicht im Griff.

„Wieso mach ich sowas?“, motze ich haareraufend und ziehe mir die Bettdecke hoch. Ich glaub, ich hab Neils T-Shirt an, was noch nach ihm riecht. Das allein reicht schon aus, mich total aus der Bahn zu werfen.

„War ich betrunken?“, frage ich in die Runde.

„Nein, die Laterne hatte dich was gefragt“, bestätigt Fear. „Okay, aber wenn uns meine Mutter gleich abholen kommt, versuch gerade zu laufen und reiß dich zusammen!“

Neils Mutmaßung „Das Fieber bewirkt wohl eine Art Rauschzustand“, beruhigt mich jetzt nicht wirklich.

Super“, motze ich und flüchte ins Badezimmer, wo ich erstmal unter die Dusche gehe. Wenig später streiche ich den Dampf vom Spiegel.

Fehler, sag ich nur.

Meine Haare sind vom gestrigen Waschen zu einer Löwenmähne mutiert. Wenn ich sie nicht föhne, werden die Locken unzähmbar. Ich schlage meine Hände über meine Brüste, für die ich mich ein bisschen schäme, „Und die gestern jeder gesehen hat“, ergänzt die fiese Stimme in meinem Kopf.

Ein energisches Klopfen ertönt. „Aimee. Du bist jetzt fertig“, ruft Neil. Was soll das denn bitteschön heißen? Er ist ja schlimmer als einer dieser Machos, die in den protzigen Karren sinnlos ihre Runden ziehen.

„Wenn du es sagst, Gebieter“, flüstere ich mürrisch, schlüpfe in meine Klamotten und schließe die Tür auf, während ich versuche, meine Zotteln zu plätten.

Vergeblich.

„Komm, wir springen wieder“, meint er und hält mir die ausgestreckte Hand hin, die ich etwas widerwillig ergreife.

Bevor ich mich an ihn klammere, muss ich aber noch was loswerden: „Ich red doch keinen Blödsinn, wenn ich, naja, im Fieberwahn bin.“

„Mach dir darüber keine Sorgen“, war kein eindeutiges Nein, was so viel wie ja bedeutet. Hoffentlich hab ich nicht ausgeplaudert, dass ich in ihn verliebt bin.

Warte mal.

„Stopp“, hab ich jetzt leider laut gesagt, da mich alle im Raum erwartungsvoll ansehen.

Unglaublich, ich hab nur grobe Erinnerungsfetzen an letzte Nacht, aber ich kann immer noch seine Lippen auf den meinen spüren. (Müssen Phantomschmerzen sein.) Und ich hab grad in meinen Gedanken zugegeben, in ihn verliebt zu sein.

Aber er ist … total arrogant.

Und ungefähr so interessiert an dir wie eine Krabbe an einem Stück im Meer schwimmenden Plastik“, ergänzt die fiese Stimme in meinem Hinterkopf.

„Das muss aufhören“, hauche ich, als ich näher an ihn heranrücke.

„Wir müssen ständig in Bewegung bleiben. Nur so haben wir eine Chance, sie abzuhängen. Wir sind schon viel zu lange am selben Ort“, erklärt Neil beinahe gelangweilt.

„Nein, das … das meine ich nicht. Wir … wir müssen darüber reden. Ich …“, stammle ich wie ein absoluter Vollidiot.

Als dieses abartige Magengefühl ausbleibt, seh ich zu Neil hoch, der zögert und nach ein paar Sekunden mit der Sprache rausrückt: „Hör zu, wir sollten uns öfter am Tag küssen, damit es gar nicht erst so weit kommt, dass das Fieber ansteigt. Außerdem halt ich das auf Dauer nicht durch, dich die ganze Nacht durchzuküssen.“ Mir steht der Mund offen. Wir haben die ganze Nacht geknutscht?

„Deine Probleme will ich haben, Mann“, kommentiert Fear die Situation.

Ich schnappe entrüstet nach Luft. Er tut ja beinahe so, als wär ich unersättlich. Warte mal, bin ich unersättlich?

Es bleibt keine Zeit, mir das vorzustellen, denn Neil zieht mich besitzergreifend an sich und ich rutsche ins Schleuderprogramm ab.

*********

Als ich halbwegs wieder auf dem Damm bin, befinden wir uns in einer Art feuchten Weinkeller. Es riecht modrig und ist ganz schön kalt.

„Wir sind in Londons Katakomben“, flüstert Neil, an dem ich mich immer noch geklammert halte. „Nur noch eine Nacht, um unsere Spuren zu verwischen, dann bringe ich dich zu ihnen.“

„Zu wem denn?“, hake ich nach.

„Hab noch ein bisschen Geduld. Es wird sich alles aufklären, Aimee.“ Die Art und Weise wie mein Name aus seiner Kehle klingt, zieht mir die Gänsehaut auf. Das ist wieder so ein Moment, bevor er mich küsst. Sein Blick wird immer so verwegen, bevor er die lästige Distanz zwischen uns überbrückt, was gerade passiert.

Seine Lippen verbrennen die meinen beinahe. Sehnsüchtig empfange ich seinen Kuss, der viel zu schnell vorbei ist. Einige Sekunden bin ich noch in seinem Blick gefangen, bevor er ihn abwendet und mich stehenlässt.

Einfach so.

Dass er sich so plötzlich von mir abwendet, als würde er hier nur mal eben einen Punkt auf einer Liste abhaken, lässt mich schwer schlucken. Ach ja, ich vergaß, ich bin ja die Zecke, die keine Ansprüche stellen kann.

„Neil, warte. Können wir mal darüber reden“, verlange ich, da hat er mir bereits den Rücken zugewendet.

Die Jungs sitzen auf Weinfässern und geben sich unsere Szene als würden sie sich einen Streifen im Kino reinziehen.

„Worüber?“, hinterfragt er, nachdem er sich etwas widerwillig umgedreht hat.

Worüber?“, wiederhole ich seine Worte ungehalten. „Weiß nicht, vielleicht darüber, dass ich mich wie ein verdammter Parasit fühle, der dir das Leben aussaugt“, gebe ich meinen Gefühlen freien Lauf und fasse sie in Worte.

„Ich weiß genau, was du meinst“, pflichtet mir Shadow beinahe beiläufig bei und zieht die Aufmerksamkeit kurz von Neil und mir ab. Er ist also doch – wie bereits vermutet – ein Vampir.

„Ich meine, tut dir das weh? Fühlst du dich hinterher irgendwie … schwach?“, ergänze ich.

„Nein, ich fühle nichts dabei“, erklärt er.

„Autsch“, stößt Fear aus.

„Oh nein“, prustet Neil haareraufend, als hätte ihn die Erkenntnis in dem Augenblick erfasst. „Was hattest du erwartet? Liebe?“ Das sagt er so abschätzig, als wär das total absurd, dass ich auf so etwas bei ihm hoffen könnte.

Naja, ist es eigentlich auch.

„Ich weiß auch nicht – zumindest ein bisschen … Gefühl“, speie ich ihm gereizt entgegen. „Aber mach dir keinen Kopf, Neil. Es passt schon.“

„Oh, oh, wenn eine Frau sagt, es passt schon, dann passt gar nichts“, weiht sie Fear in die Geheimnisse der weiblichen Psyche ein. „Aber wenn du glaubst, Männer könnten keine Gefühle zeigen, musst du uns mal im Stadion erleben.“

Warte mal. Warum regt mich Neils Reaktion überhaupt so auf? Ich konnte mir ja denken, dass er keinerlei Interesse an mir hat – zumindest was über seine lästige Pflicht hinausgeht. Trotzdem verletzt es mich. Damit er es mir nicht ansehen kann, setze ich mich zwischen ein paar der Fässer und schmolle.

„Bestimmt weint sie jetzt wieder“, verrät mich Fear. Wunderbar, jetzt plaudert er es auch noch aus.

Aufgebrachtes Tuscheln bricht aus, aus dem ich nur Wortfetzen raushöre: „Da hat ja ein Seeigel mehr Feingefühl wie du … sie ist ein Mädchen … geh zu ihr … nein du … nein du … Mann, stell dich nicht so an …“ Ich lächle kopfschüttelnd. „… sie wird sich auch ohne deine Hilfe schrecklich fühlen, wenn sie es erfährt …“, macht mich dann hellhörig.

„Wenn ich was erfahre“, stelle ich sie zur Rede, nachdem ich aufgesprungen und zu ihnen rübergelaufen bin.

„Ähm“, drückt Fear herum.

„Raus damit!“, verlange ich.

„Es ist nicht unsere Aufgabe, es ihr zu sagen“, herrscht ihn Neil an.

„Und was ist dann eure Aufgabe?“, motze ich.

„Dich wohlbehalten zu ihnen zu bringen“, antwortet Shadow.

„Zu wem denn?“, verlange ich.

Sie antworten nicht, da werde ich wütend. „Mann, sagt schon“, fordere ich gequält.

„Okay“, knickt Fear ein.

Fear!“, tadelt ihn Neil, aber er lässt sich nicht davon abbringen, stellt sich vor mich hin und meint: „Ich sags frei heraus. Kurz und schmerzvoll, okay?“

„Okay“, bestärke ich ihn.

„Du bist die verschollene Tochter der Dacourts. Deine gesamte Familie ist ausgestorben. Du bist die letzte, die sie vor den Lancesters verstecken konnten. Zumindest bis jetzt. Das ist die Hexenfamilie, die dich zu ihrer Sklavin machen wollen.“

„Das hab ich mir schon gedacht“, erkläre ich niedergeschlagen. Mann, das zieht mich total runter, dass meine Familie „ausgestorben“ ist. Das heißt doch, ich bin ganz allein.

„Das war auch noch nicht der schmerzvolle Teil“, wendet er ein.

Na toll.

„Das reicht jetzt“, bestimmt Neil.

„Nein, jetzt kommt der Teil, der mir noch nicht bekannt ist“, widerspreche ich ihm.

„Okay“, fährt Fear fort. „Die werden nicht eher ruhen, bis sie ihre Sklavin haben und wenn du bei Sklavenarbeit ans Putzen oder Dienstmädchenkluft – die dir, so nebenbei, ausgezeichnet stehen würde und ich gerade versucht bin, in ein Kopfkino mit dir in der Hauptrolle abzudriften – gedacht hast, dann schlag dir das aus dem Kopf. Die wollen nämlich nur einen Dienst von dir und dafür wurdest du sozusagen über Jahrhunderte hochgezüchtet. Die haben nämlich so eine Art Selektion gemacht, mit wem sich ihre Sklaven fortpflanzen dürfen, um naja, gewisse weibliche Vorzüge weiterzuvererben. Wenn ich mir dich da ansehe, bist du wohl der Gipfel der Evolution, Süße. Perfekt und geschaffen, alle Wünsche zu erfüllen.“

„Welche Wünsche?“, verlange ich eingeschüchtert.

„Naja, dafür gibt es mehrere Ausdrücke. Hier ein Auszug: Gespielin, Betthäschen, Freudenmädchen, Objekt der Begierde, Bezaubernde Jeanie.“ Die wollen mich als ihre Hure?

„Nein, das ist jetzt nicht wahr“, hauche ich.

„Schätzchen, überleg doch mal. Warum sollten sie den Fluch sonst an einen Kuss binden, wenn nicht, um sich das zu nehmen, was sie wollen. Ferner noch, dich dazu zu zwingen, es sich sogar noch zu holen“, argumentiert Fear.

Mein Atem geht stoßweise. „Das ist … total krank“, mache ich meinem Ärger Luft, werde aber im nächsten Moment zuversichtlich: „Die haben die Falsche. Ich pass ja absolut nicht auf deine Beschreibung. Ich meine, Halloooo, Gipfel der Evolution. Ich weiß ganz genau wie ich … aussehe.“ Ich bin eher das Biest als die Schöne.

„Ja, da hab ich auch so meine Zweifel daran, dass du es wirklich bist“, gibt Shadow zu. „Nichts für ungut“, winkt er ab.

Hast du sie noch alle? Sie ist der Hammer“, prustet Fear und blickt in die Runde. „Seht ihr das denn nicht?“

„Eher nicht“, gibt Shadow schulterzuckend zu.

Fear wendet sich Neil zu. „Sag mal, spinn ich jetzt. Neil. Komm schon, Kumpel. Siehst du denn nicht, wie wunderschön sie ist?“

Neil schweigt dazu. Das tut beinahe noch mehr weh, als wenn er es einfach aussprechen würde, wie abstoßend er mich findet.

„Aimee, nimmst du mal das Amulett ab?“, verlangt Neil nach ein paar Minuten.

Warte mal.

„Mister Lancester wollte auch, dass ich es abnehme. Auf welcher Seite stehst du, Neil?“, hauche ich und weiche ein paar Schritte zurück. Dabei greife ich nach dem Anhänger – ein winziger Schlüssel. Diese Kette trage ich Tag und Nacht. Noch nie hab ich sie abgenommen und ich werd jetzt nicht damit anfangen. Womöglich tut er nur so, als wär er auf meiner Seite, aber arbeitet doch mit seinen Brüdern zusammen.

Er rollt genervt mit den Augen. „Ich vermute, das Schmuckstück verzerrt dein Äußeres vor anderen. Lass mich raten, du legst es nie ab“, mutmaßt er.

„Es gehörte meiner Mum.“ Zumindest hat mir das Grandma erzählt. Korrigiere: Die Frau, die ich bis jetzt für meine Grandma hielt. „Natürlich leg ich es nie ab“, motze ich.

„Ich sage, es ist verhext. Leg es ab, dann wirst du es selbst sehen“, macht er mich neugierig.

„Und … und wenn es so etwas wie ein Schutzamulett ist und sie mich ohne der Kette leichter finden können?“, mutmaße ich.

„Das werden wir sehen, wenn es so weit ist“, antwortet Neil knapp.

Okay, was hab ich zu verlieren?

Ich stoße ein mürrisches „Also gut“ aus und löse die goldene Kette mit dem Anhänger von meinem Hals.

Den Jungs sind gerade reihenweise die Kinnladen runtergeklappt – naja gut, zumindest Shadows Mund steht offen. „Tja, das entspricht schon eher meiner Vorstellung einer Dacourt“, stellt er fest.

„Ich kann keinen Unterschied zu vorher erkennen“, meint Fear und Neil, naja, Neil verzieht keine Miene und sagt: „Sag ich doch, ein Zauber“, hext einen Spiegel und hält ihn mir mit den Worten: „Sieh selbst“ vor die Nase.

Da bekomme ich es mit der Angst zu tun, presse die Augen zu, lege die Kette wieder an und drehe den Kopf weg.

Ich habe Schiss, in das Gesicht einer Fremden zu blicken. Das muss man sich mal vorstellen.

„Aimee? Los, runter mit dem Geschmeide und siehs dir an“, bestärkt mich Fear.

„Nein“, hauche ich. Was soll ich mir denn ansehen? Die Hure, die sie schöngezüchtet haben?

„Wieso denn nicht?“, will Shadow wissen, doch da nehme ich wieder im hinteren Teil des Kellers Platz und drehe ihnen den Rücken zu.

Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Das ist alles ein Alptraum.

„Aimee? Was ist denn?“, fragt Neil, aber in seiner Stimme schwingt geheucheltes Interesse mit. Unglaublich, dass er jetzt angekrochen kommt. Jetzt, wo er die hübsche Aimee gesehen hat.

„Jetzt weiß ich auch, warum du so komisch gekuckt und mich nach meinem Namen gefragt hast, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind“, werfe ich ihm vor, ohne ihn dabei anzusehen. „Du hast jemand anderen erwartet.“ Eine Schönheit.

Wie kann man nur jemandem ein Amulett um den Hals hängen, um ihn damit hässlich zu machen? Die Antwort darauf verpasse ich mir gleich selbst – zu meinem Schutz. So war ich sozusagen inkognito und vor den Lancesters sicher. Naja, sie haben mich trotzdem gefunden und alles durchschaut, also hat das ja nicht wirklich geklappt.

Der Plan war aber gut.

„Natürlich hatte ich jemanden anderen erwartet, Aimee. Du passt nicht zu der Beschreibung, die sie mir gaben, weil dein wahres Erscheinungsbild durch den Zauber verborgen war“, verteidigt er sich mürrisch.

„Muss ja schrecklich für dich gewesen sein, das hässliche Entlein zu küssen.“

„Gib mir das Amulett, Aimee“, verlangt er – meinen Kommentar ignorierend.

„Nein.“

„Wovor hast du Angst?“

Wovor ich Angst habe?“, krächze ich schnaubend. „Ich sag dir lieber, was mir grad keine Angst macht – die Liste ist bedeutend kürzer.“

Ich hab grad erfahren, dass mein Zuhause nicht mein Zuhause, meine Familie nicht meine Familie ist und ich eine Sexsklavin bin, die ohne einen von den Lancesters nicht allein lebensfähig ist. Und jetzt erfahr ich, dass nicht mal mein Gesicht mir gehört. Was bleibt denn dann noch von mir übrig – frage ich mich die ganze Zeit über.

„Hast du auch Angst vor mir?“, will Neil wissen.

„Vor allem vor dir“, gestehe ich. Er steht ein paar Sekunden lang schweigend da, bevor er weggeht.

Dabei murmelt er: „Du tust ja fast so, als hätte ich den Fluch über dich ausgesprochen. Ich hätte mich auch weigern können, dir zu helfen.“

Hey, geht’s noch?“, herrsche ich ihn an, springe hoch und stelle mich ihm entgegen. „Ich weiß ja nicht, wie das sonst bei dir abläuft, aber in meiner Welt geht’s nicht gleich ans ‚Eingemachte‘, wenn man sich gerade mal zwei Minuten kennt. Man geht ins Kino, hält Händchen … keine Ahnung, lernt sich kennen.

Ich weiß gar nichts über dich, außer, dass du zur Hälfte Lancester bist und mich zu irgendjemandem bringen willst, der mir auch fremd ist. Darüber hinaus hast du gerade eben zugegeben, dass dir das jemand befohlen hat, dass du mir hilfst, sonst hättest du dich ja schwer weigern können, wenn du – selbstloser Ritter – es selbst vorgeschlagen hättest, mir zu helfen.

Das geht alles viel zu schnell. Das ist ungefähr so, als würdest du mit hundert Sachen an mir vorbeibrausen und ein ‚Steig ein, Baby‘ rausbrüllen. Ich bin noch in der Phase, wo ich blöd kucke und du bist schon an mir vorbeigefahren.“

„Also ich kapiers, worauf du hinauswillst, Baby“, meint Fear.

„Du verwechselst da etwas“, knallt mir Neil hin.

„Was denn?“, verlange ich.

„Du beschreibst den Aufbau einer Liebesbeziehung, was nicht dem entspricht, was zwischen uns abläuft“, erklärt er.

„Autsch“, kommentiert Fear erneut.

„Und was läuft zwischen uns, Neil?“, fordere ich ihn heraus. Ich lächle und mutmaße: „Ne Zweckgemeinschaft zwischen Blutegel und Badegast?“

„Aimee, du hast echt Talent für bildliche Beschreibungen. Aktiviert ganz schön das Kopfkino“, wendet Fear ein.

„Was läuft hier Neil?“, wiederhole ich. „Sag schon? Wie geht das weiter? Was sind deine nächsten Befehle? Vielleicht wohnen wir ja in einer WG zusammen. Dann kannst du dich in mein Zimmer rüberschleichen, damit wir rummachen können, ohne dass deine Freundin davon erfährt“, ergänze ich. „Natürlich nur, wenn du mir die Gnade deiner Lippen erweist, denn du kannst dich ja jederzeit weigern, mir zu helfen.

Hey, vielleicht arbeite ich dafür. Ich könnte für euch putzen. Nein, warte. Dafür wurde ich nicht gezüchtet. Naja, vielleicht willst du was anderes. Ich kann auch die Kette abnehmen, wenn es dir dann leichter fällt, mich anzusehen“, ist mir rausgerutscht. Ich bin zu weit gegangen, ich sehs in seinen Augen – und an seinem zuckenden Kiefer.

Zu meiner absoluten Verblüffung kommt er auf mich zu und reißt mir die Kette vom Hals, die er sich gleich daraufhin in die Hosentasche steckt. Verblüfft greife ich an die schmerzende Stelle meines Nackens. Da er sie mit solcher Wucht runtergerissen hat, hat er brennende Striemen in meinem Nacken hinterlassen.

Daraufhin betrachtet er mich ein paar Sekunden lang mit einer Kälte im Blick, die mich schaudern lässt und meint: „Nein, nicht mal jetzt.“

Mir steht der Mund offen.

Aus einem Impuls heraus verpasse ich ihm eine schallende Ohrfeige, die seine Zähne vor Zorn aufeinandermahlen lässt.

„Weißt du was“, pruste ich haareraufend. „Ich erlöse dich von deiner Pflicht. Komm mir nicht mehr zu nahe.“ Zugegebenermaßen war das gerade ein Eigentor, aber ich bin sauer, weil er so ein Arsch ist.

Energisch stapfe ich davon und bahne mir einen Weg durch die Weinfässer hindurch. „Wo willst du hin?“, ruft mir Shadow hinterher.

„Bloß weg von hier“, murmle ich mehr zu mir selbst als zu ihnen, doch plötzlich hält mich jemand am Arm fest.

Neil.

Hiergeblieben“, zischt er. Ich wehre mich gegen ihn, doch er lässt nicht locker.

„Lass los!“, fordere ich, doch er packt mich an der Taille und zerrt mich zurück zu den Jungs. Ich trete nach ihm und versuche, ihn zu kratzen, da wird ihm das hier wohl zu bunt und er hext mir Fesseln, die sogleich an meinen Hand- und Fußgelenken prangen.

So drückt er mich auf den Boden vor ein Weinfass und löst sich mit den Worten „Wer sie von den Fesseln befreit, lernt mich kennen“ vor meinen Augen in Luft auf.

Einfach so.

Den Jungs steht der Mund offen – zumindest Fear und Shadow – Wulf sieht mich einfach nur emotionslos an, bevor er ebenfalls den Raum verlässt. Shadow folgt ihm ein paar Sekunden später. Ich bin immer noch total aus dem Häuschen, weil er es gewagt hat, mich zu fesseln. Jetzt ist er definitiv zu weit gegangen.

„Mach mich schon los“, fahre ich Fear an, der zögert.

„Mit dem größten Vergnügen, Prinzessin, da gerade meine Phantasie mit mir durchgeht und ich das Wort ‚Fesselspiele‘ nicht mehr aus dem Kopf bekomme, aber Neil schien ziemlich angepisst zu sein und das ist gar nicht gut. Ich häng an meinem kümmerlichen Leben.“

Bevor ich ihn anmotzen kann, hör ich so ein schabendes Geräusch, wie wenn Metall über blanken Stein kratzen würde.

„Was ist das für ein Geräusch?“, mache ich ihn darauf aufmerksam.

Fear dreht sich um und sagt: „Sicher nur Ratten. Ich geh nachsehen. Könnt sowieso einen Happen vertragen.“ Die Tatsache, dass er dabei zwinkert, beruhigt mich ungemein.

„Klar, geh ruhig. Ich warte solange hier“, spotte ich. Ist ja nicht so, dass ich von hier weg könnte.

Fear ist noch keine Minute weg, da kommt das Geräusch immer näher. Was ist das? Zieht einem ja die Gänsehaut hoch.

Im nächsten Moment betritt eine schwarze Gestalt den Raum. Jetzt weiß ich, woher das Geräusch kam. Das stammt von einem Dolch, wenn man ihn im Vorbeigehen an die Ziegelmauer schaben lässt.

Woher ich das weiß? Der total in schwarze Kleidung vermummte Kerl vor mir hat so ein Messer in der Hand.

„Du bist doch nicht der Ripper, oder?“, hauche ich.

Sein „Doch“, lässt mich beinahe durchdrehen. Er hat eine dieser dunklen Psycho-Stimmen. Kaum auszumachen, wie alt er sein könnte.

„Ich bin keine Hexe“, stoße ich in meiner absoluten Verzweiflung aus.

„Ich weiß“, lässt mir das Blut in meinen Adern gefrieren.

Auch die Tatsache, dass er sich vor mich hinhockt, trägt nicht gerade zur Beruhigung meines Herzschlages bei.

Wie erstarrt fixiere ich den Teil seines Gesichts, unter dem ich seine Augen vermute, der vollständig durch ein schwarzes Tuch verhüllt wird. Auch seine Hände sind in Lederhandschuhe gepackt. Da ist nichts, was eine spätere Personenbeschreibung auch nur annähernd zulassen würde.

Vielleicht gibt es kein ‚Später‘ mehr, wenn er mit dir fertig ist“, informiert mich die fiese Stimme in meinem Kopf.

Okay, das geht grad gar nicht. Wie eine absolute Irre schreie ich mir die Seele aus dem Leib, als er mit dem Messer über meine Wange streicht, bevor mir das Licht im nächsten Moment ausgeknipst wird.


Ich glaub, mich knutscht ein Frosch

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