Читать книгу Wer braucht schon Zauberworte? - Marie Lu Pera - Страница 3

Eins

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„Hope! Hier drüben! ...“ Mein Onkel winkt mir energisch von der anderen Seite des Absperrbandes zu. Kurzerhand schlüpfe ich hindurch und stehe nach ein paar Schritten vor ihm. Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Wenn er mich nicht erkannt hätte, wäre ich glatt an ihm vorbeigelaufen.

„Dein Flug ist schon vor zwei Stunden gelandet. Bist du im Zoll hängengeblieben? Naja, egal. Du bist aber groß geworden. Komm mal her.“ Er streckt die Arme zu beiden Seiten aus, während sein Blick erwartungsvoll an mich gerichtet ist. Wenn er jetzt eine Umarmung erwartet hatte, muss ich ihn wohl bitter enttäuschen. Unverrichteter Dinge senkt er die Gliedmaßen räuspernd.

„Wie war dein Flug?“, will er wissen. Die nächste Enttäuschung zeichnet sich in seinen Gesichtszügen ab, denn ich habe nicht vor, zu antworten.

„Du bist sicher müde. Wir fahren erst mal nach Hause und dann kannst du mir alles erzählen.“ Die Information ist zwar angekommen, aber aus mir wird er keinen Ton rauskriegen.

Das hat er jetzt auch kapiert und greift stirnrunzelnd nach meiner Tasche. „Die ist aber leicht. Du hast wohl nicht sehr viel aus New York mitgenommen“, stellt er fest.

Auch dazu schweige ich. Kopfschüttelnd macht er sich zum Flughafenausgang auf. Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, ihm unauffällig zu folgen.

Kurz werde ich noch von der beißenden Kälte und dem starken Schneefall in dieser Welt gehalten, tauche aber bereits ein paar Sekunden später in einen Tagtraum ab, in dem ich mich deutlich wohler fühle, als in der Realität.

Onkel Tim quasselt die ganze Autofahrt lang. Ich kann sehen, dass sich seine Lippen bewegen, aber ich verstehe kein einziges Wort davon. Mein mp3-Player schottet mich von der Außenwelt ab. Es ist bereits dunkel. Alles, was ich erkennen kann, sind Schneefahrbahnen und tief verschneite Wälder. Ich bin in Irland aufgewachsen. Nach all den Jahren wieder hierherzukommen, ist ein komisches Gefühl. Auch an meine Kindheit kann ich mich kaum erinnern.

Vor einem kleinen Haus inmitten der Einöde stoppt er den Wagen. Genau in diesem Moment geht mir der Saft meines Players aus. Nun schaffen es Onkel Tims Worte doch noch durch die akustische Barriere.

„Also, junge Dame. Du bist siebzehn und das bedeutet, dass du dich hier an Regeln halten wirst. Nämlich an die, die ich aufstelle. Ich bin sehr streng. In diesem Haus gibt es weder Zigaretten noch Alkohol und das soll auch so bleiben. Wenn du so etwas dabei hast, dann solltest du gleich damit rausrücken.“ Als ich nicht reagiere, fährt er fort: „Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Hausregeln, die, für alle einsehbar, an einer Pinnwand im Flur hängen. Du kannst sie ja beizeiten studieren. Solltest du eine Regel brechen, tritt der Familienrat zusammen, der über dich richten wird.“ Meine Fresse. „Da dies geklärt ist. Willkommen in Irland, Hope.“

Wir steigen aus und treten zur Tür. Genau siebenmal streift er sich die Schuhe an der Fußmatte ab, bevor er eintritt. Das weiß ich so genau, weil er laut mitgezählt hat. Was das bringen soll, weiß ich nicht – mein Onkel scheint abergläubisch zu sein.

Ich stampfe zweimal, damit sich der Schnee von meinen Stiefeln löst und will ebenfalls eintreten.

„Nicht doch, junge Dame. Das waren keine siebenmal“, ermahnt er mich. Nein, jetzt sag nicht, das gilt für mich auch.

„Das steht in den Regeln. Jeder, der dieses Haus betritt, streift sich siebenmal die Schuhe ab. Das ist eine Glückszahl. Tritt ein – bring Glück herein, lautet die Devise.“ Klasse, ich bin noch nicht mal zur Tür rein und er geht mir schon auf die Nerven. Mann, das kann ja heiter werden.

Des Friedens willen tue ich, wonach er verlangt. Endlich gibt er die Tür frei und lässt mich durch.

Kitschige Weihnachtsdeko springt mir ins Auge. Das Haus ist vollgestopft bis unters Dach – ist kaum auszuhalten.

Überall lächeln Weihnachtsmänner mit dicken Bäuchen und Engel mit Pausbäckchen von den Wänden. Sogar auf dem Teppich steht: „Gesegnet seist du, hochwohlgeborener Gast“.

Ich bin in meiner ganz persönlichen Hölle angekommen. Inklusive Empfangskomitee in Form meiner Tante und meinen zwei Cousinen, die mir kreischend um den Hals fallen. Als Sahnehäubchen enthüllen sie ein Banner mit dem Schriftzug: „Willkommen in Irland, liebe Hope“. Nein bitte, ich halt das nicht aus. Ich bin schon von der Deko vollkommen reizüberflutet.

„Hope, willkommen in unserer Familie“, begrüßt mich Tante Claire, mit bis zur Schmerzgrenze verstellter Stimme. „Erkennst du deine Cousinen noch? Das sind Emma und Lydia.“ Zwei blondgelockte Engel nehmen mich von je einer Seite in die Mangel. Sie sind sehr hübsche Zwillingsschwestern und gleich alt wie ich.

Kaum zu glauben, dass unsere Väter Brüder waren. Onkel Tim ist strohblond und mein Dad hatte kohlrabenschwarzes Haar. Das habe ich von ihm geerbt. Meine schwarzen, großen Locken reichen mir mittlerweile bis zur Hüfte. Die graugrünen Augen bilden dazu einen optimalen Kontrast und stechen förmlich heraus.

„Hallo Cousinchen“, stoßen die Zwillinge synchron aus. Nun tritt wieder dieses unangenehme Schweigen ein, währenddessen sie auf eine Regung meinerseits warten – und enttäuscht werden.

Tante Claire räuspert sich. „Ach, sie ist schüchtern. Komm erst mal rein. Du musst erschöpft und hungrig sein. Ich habe Eintopf gemacht.“ Eigentlich will ich nur schlafen. Der Flug war echt abartig lang.

Sie stellt mir den Teller vor die Nase und ich werde aus allen Himmelsrichtungen vollgelabert. „Schätzchen, bitte rühre im Uhrzeigersinn, das bringt Glück“, ermahnt mich meine Tante, die mir soeben Salz über die Schulter pfeffert. Mann, das gibt’s doch nicht. Schon ab dem zweiten Satz, der hier bei Tisch in mein Ohr dringt, bin ich wieder in Gedanken versunken.

Nach einer Ewigkeit wird ihre Aufmerksamkeit von etwas abgelenkt und sie überschütten irgendein Haustier, das ich nicht sehen kann, mit überschwänglicher Babysprache.

„Ja wo ist er denn? Komm Putzi, leg dich zu mir“, quietscht Emma.

„Nein, komm zu mir“, verlangt Lydia.

Das pelzige Etwas hat sich – wie kann es auch anders sein – entschlossen, mich mit seiner Gesellschaft zu quälen, denn es lehnt sich schnurrend an meine Seite. Eine weiße Katze – wunderbar. Sogleich fängt meine Nase an zu jucken und ich niese gefühlte hundertmal hintereinander.

„Oh, bist du gegen Katzen allergisch, Liebes?“, will Tante Claire wissen. Nein, ich hab eine Stauballergie. Was für eine blöde Frage ist das denn? Glücklicherweise verfrachtet sie Putzi aus dem Raum, bevor ich einen anaphylaktischen Schock erleide.

„Oh, schon so spät“, informiert uns Onkel Tim. „Schlafenszeit“, prustet er. Meine Cousinen hüpfen vergnügt herum, als würden sie sich darauf freuen. Es ist nicht mal zehn Uhr. Wer geht denn so früh schlafen?

„Darf ich das Gebet sprechen?“, fragt Emma – immer noch hopsend.

„Nein Emma, diese Ehre gebührt unserem Gast.“ Was? Nein, das könnt ihr vergessen. Mit Gebeten hab ich nichts am Hut.

„Komm, ich zeig dir dein Zimmer“, schlägt Tante Claire vor. Das wurde aber auch Zeit. So viel Hyperaktivität in einem Raum hält niemand aus.

Ich steige hinter Claire die Treppe empor. Wir gelangen zu einem Abschnitt mit ziemlich steilen Stufen, die augenscheinlich unters Dach führen.

„Wir haben den Dachboden leider noch nicht fertig ausgebaut, aber du hast da oben dein eigenes Reich. Das Badezimmer ist allerdings auf dieser Etage.“ Egal. Hauptsache ich muss mir kein Zimmer mit den Barbies teilen. „Du kannst ja schon einmal auspacken und den Pyjama anziehen. Du hast doch nichts Rotes an, oder? Das ist nämlich die Farbe des Teufels.“ Meine Fresse. „In ein paar Minuten treffen wir uns im Zimmer deiner Cousinen zum Beten. Ach und nachher gibt es noch Gruppenkuscheln.“ Was? Gruppenkuscheln? Das kannst du vergessen.

So schnell ich kann, steige ich die Treppe hoch und schließe die Türe hinter mir. Man kann sie sogar von innen verriegeln. Hab ich ein Glück.

Es ist ziemlich kalt hier oben, aber ich habe jede Menge Platz. Das Bett – eine Matratze – liegt gleich am Fenster. Von hier aus kann man bis zum Wald sehen.

Ich bin bereits wieder in einem Paralleluniversum, das meinem Kopf entsprungen ist, als sie nach mir rufen. Nach ein paar Versuchen, mich doch noch zu der Gruppenaktion zu nötigen, geben sie glücklicherweise auf.

Ich will nicht undankbar erscheinen, sie sind sehr nett, aber mir ist das alles gerade etwas zu viel. Sie stemmen mich mit dem Brecheisen in diese Familie. Eins ist klar – mit achtzehn bin ich weg.

Es ist gerade mal zwei Uhr morgens, da schrecke ich aus einem Alptraum hoch. Genaugenommen ist es der Traum, der mich jede Nacht verfolgt. Meine Decke hat sich im Schlaf verabschiedet, dementsprechend friere ich.

Ich beschließe, mir ein Glas Wasser aus der Küche zu holen und steige die Treppen zum Wohnraum hinab. Überall glühen beleuchtete Deko-Weihnachtsmänner vor sich hin.

Schon mal was von Stromsparen gehört? Ach egal – so brauche ich wenigstens kein Licht zu machen.

In der offenen Wohn-Essküche setze ich mich an den Tresen. Dabei spiele ich gelangweilt mit einem Strohstern, der mir genau vorm Auge hängt.

Eigentlich mache ich immer die Glotze an, wenn ich nicht schlafen kann. Vergeblich suche ich nach dem Gerät. Sag nicht, sie haben keinen Fernseher. Die sind echt schräg drauf.

Ich werfe mich auf die Couch und fische ein paar Zeitschriften hervor.

Kirchenblatt

Wir lieben unsere Gemeinschaft

Die fromme Botschaft Irlands

Kann mich bitte jemand hier rausholen? Ich hab echt nichts gegen Religion. Jeder kann an das glauben, an das er möchte, aber man kann alles übertreiben.

Das Bücherregal sieht auch mager aus. Sie haben nicht ein „normales“ Buch.

Also, fassen wir mal zusammen: Keine Glotze, kein Radio, keine Elektrogeräte – nicht mal ein Kühlschrank. Nur ein veralteter Tischherd, den man beheizen muss. Gegen einen spartanischen Lebensstil ist überhaupt nichts einzuwenden, aber wer hat denn bitte keinen Kühlschrank? Gelangweilt lege ich die Füße hoch und blase Trübsal. Dabei werde ich schläfrig.

Ich schrecke hoch, denn etwas Pelziges hat sich gerade auf mich fallengelassen. Die blöde Katze miaut in mein Ohr, wie eine Verrückte. Schlaftrunken und halb an einer Niesattacke krepierend, stoße ich das Vieh von mir. Draußen ist es noch dunkel. Wunderbar.

Die blöde Katze ist gerade schon wieder auf die Couch gesprungen und trampelt auf mir herum. Jetzt reichts. Wütend setze ich mich auf, um sie aus dem Zimmer zu jagen, da erstarre ich.

Vor mir steht eine schwarze Gestalt, die mit den Händen in der Luft herumfuchtelt. Okay, keine Panik. Du bist New Yorkerin und das ist ein Einbrecher, den du gerade auf frischer Tat ertappt hast – Korrigiere: Ein Einbrecher, der nun geradewegs auf dich zukommt.

Geistesgegenwärtig greife ich nach dem erstbesten Teil, das ich in die Finger kriegen kann. Mit aller Kraft schleudere ich ihm eine gläserne Weihnachtsmannfigur an den Schädel. Der Typ duckt sich weg, während das Teil an der Wand zerschellt. Okay, es hilft nichts. Mein Selbstverteidigungskurs muss her.

Der Riese will schon nach mir schnappen, da stoße ich seinen Arm weg und schlage ihm an den Hals. Das verschafft mir zwei Sekunden, in denen er sich fragt, wie ich das gemacht habe, die ich dazu nutze, an ihm vorbeizulaufen, nach dem Schürhaken zu greifen und ihm das Teil über die Rübe zu ziehen.

Er fängt meine Waffe im Flug ab und stößt mich im nächsten Moment zu Boden, sodass meine Schläfe hart aufschlägt. Vor Schmerz bleibt mir kurz die Luft weg. Als ich wieder so halbwegs zu mir komme, erkenne ich ihn über mir.

Seiner Hand ausweichend, die abermals nach mir greift, rolle ich mich herum, springe aus der liegenden Position hoch und schlage mit der Faust auf ihn ein.

Der Typ fängt sie ebenfalls in der Luft ab und drückt zu, was mich vor Schmerz keuchen lässt. Blitzschnell presst er mich an die Wand und hält mir den Mund zu. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, da es von der Kapuze verdeckt wird.

Im nächsten Augenblick poltert Onkel Tim herein. Schlagartig verschwindet die Last, die gegen meinen Körper drückt. Zu meiner absoluten Verblüffung ist die Gestalt weg. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Vollkommen erledigt sinke ich zu Boden und nehme gleich noch die gesamte Deko vom Kamin mit, an dem ich mich festhalten wollte.

Mein Onkel ist sichtlich darum bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. „Was ist denn hier passiert?“, stößt er haareraufend aus. Keine Ahnung, da war eben noch ein Einbrecher.

„Hattest du einen Wutausbruch?“, raunt er fuchsteufelswild. Ähm, nein. Ich rapple mich hoch und will nach einem Stift vom Couchtisch greifen, da ziehe ich scharf die Luft ein. Meine Schlaghand hat etwas abgekriegt. Na toll.

„Um Himmels willen.“ Claire ist mit meinen Cousinen hereingestürmt, die Zahnspangen mit Eisengestellen tragen, und hat die Hände vor den Mund geschlagen.

Meine Tante geht schluchzend in die Knie, sammelt die Reste ihrer Weihnachtsmänner auf, als wären sie einst lebendig gewesen, und wimmert vor sich hin. Wenn es nicht vollkommen irrational wäre, würde ich sagen, sie ist den Tränen nahe. Hey, was soll ich denn sagen? Ich hab gerade einen Typen erwischt, der eure Bude ausräumen wollte.

Jetzt reichts mir und ich kritzle mit der linken Hand die Buchstaben EINBRECHER auf eine der Zeitungen. Onkel Tim liest es stirnrunzelnd. Sein erster Blick ist auf die Fenster gerichtet, die unversehrt zu sein scheinen. Daraufhin eilt er aus dem Zimmer, um die Eingangstüre inklusive der Fenster im Erdgeschoss zu überprüfen, wie er soeben verlautbart.

„Die Türe ist fest verschlossen und unangetastet. Alle Fenster im Haus sind zu und in einwandfreiem Zustand. Willst du uns hier einen Bären aufbinden, Hope?“ Ich schüttle energisch den Kopf. Nein Mann.

„Bist du blöd?“, fragt mich Emma – zumindest glaube ich, dass sie das gesagt hat. Sie nuschelt ziemlich mit der Spange.

„Was ist mit deiner Hand?“, fragt mich Onkel Tim, während er sie grob an sich zieht. Ich ziehe erneut scharf die Luft ein. Aua. „Du hast dich wohl in deiner Rage selbst verletzt. Geschieht dir ganz recht. Los zieh dich an. Ich fahr dich zum Doktor.“ Er ist fuchsteufelswild. Nur mit großer Anstrengung schafft er es, sich zu beherrschen.

Die scheppernde Autotür ist wieder eines der Zeichen, die ihn verraten. Hey, der Einbrecher war da. So etwas bilde ich mir doch nicht ein.

Nach gefühlten Stunden im absoluten Schneechaos halten wir vor einem Haus. Der Morgen ist bereits angebrochen, da klingelt Onkel Tim an der Tür.

Ein älterer Mann im Morgenmantel macht uns auf. „Tim, was ist denn passiert?“ Der Mann – wahrscheinlich der Arzt – mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Verzeih die frühe Störung, Bob. Das ist meine Nichte. Sie hat eine Verletzung an der Hand. Ein Missgeschick. Könntest du mal einen Blick darauf werfen?“ Von wegen ein Missgeschick. Das war Freddie Krueger, bevor er sich in Luft aufgelöst hat.

„Ja natürlich, kommt doch rein. Das trifft sich gut. Der Austauschschüler ist auch schon eingetroffen. Er kann mir gleich assistieren.“

„Aha, wann ist er angekommen?“, will Onkel Tim wissen.

„Vor dreißig Minuten.“ Wir treten ein und Bob, der Arzt, bittet uns in ein kleines Behandlungszimmer.

„Wie ist das noch einmal passiert?“, fragt er mich. Ich starre ihn einfach an.

„Sie spricht nicht“, klärt ihn Onkel Tim auf.

„Aha, ist sie stumm?“

„Nein ist sie nicht“, antwortet Tim genervt.

„Also gut. Ich hole den Schüler – bin gleich zurück“, informiert mich der Doktor, bevor er mich alleinlässt. Onkel Tim wartet draußen – er will mir wohl aus dem Weg gehen. Mit Schwung setze ich mich auf das Behandlungsbett und döse geistig vor mich hin.

Ich weiß nicht, wie oft der Arzt nach mir gerufen hat, aber ich erwache erst aus meinem Tagtraum, als mich jemand am Arm berührt.

Wenn ich sprechen würde, würde ich jetzt: „Meine Fresse“ ausstoßen. Der „Schüler“, dessen Pranke mich gerade berührt hat, ist ein Muskelberg. Seine Augen strahlen hellblau und er lächelt freundlich. Der Typ trägt ein T-Shirt, das sich um seinen gewaltigen Bizeps spannt.

„Hallo, mein Name ist Fynn.“ Ich kann ihn nur anschmachten. Er ist echt gut gebaut und hat blondes, schulterlanges Haar, das mit einem Lederband zurückgebunden ist.

„Fynn ist Schüler und wird mir ein paar Wochen zur Hand gehen. Das macht dir doch nichts aus, wenn er bei deiner Untersuchung dabei ist?“, will Bob wissen. Wenn er das T-Shirt anbehält nicht, sonst garantiere ich für gar nichts.

Wir sind gerade wieder bei diesem bedrückenden Schweigen angelangt. Der Doktor unterbricht es mit einem: „Ach, ich vergaß, du sprichst ja nicht. Wieso eigentlich nicht?“ Hallooooo? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich darauf antworte?

Nach der nächsten Schweigeminute greift der Doktor nach meiner Hand und tastet die Gelenke ab. Ich kralle mich in den Stoff des Behandlungsbettes, um den Schmerz zu kompensieren.

„Tut das weh?“, fragt er doch tatsächlich, während er die Hand noch grober bearbeitet. Nein gar nicht – ich kipp nur gleich weg.

„Darf ich?“, unterbricht ihn Fynn und nimmt meine Hand aus der des Arztes entgegen. Mein Herz pocht stark. Deutlich sanfter als sein Vorgänger setzt er die Behandlung fort. Sein Blick zieht mich förmlich in den Bann. Als er dann noch mit seiner Hand meine Locken hinters Ohr streicht, schließe ich sogar kurz die Augen.

„Die Hand ist nicht gebrochen“, holt mich dann zurück in die Realität. „Sie hat eine Prellung an der Schläfe.“ Sag mal, geht’s noch? Jetzt schmachte ich schon den Austauschschüler an. Das sind der Jetlag oder die Hormone.

„Sehr gut, Fynn“, lobt ihn der Arzt.

„Wie ist das passiert?“, will Fynn nun von mir wissen. Sein Blick ist freundlich und offen. Mann, hat der schöne Augen. Der Kerl hat Grübchen inklusive Zahnarztlächeln. Das volle Paket. Sein Dialekt ist irgendwie komisch – er könnte Finne oder Osteuropäer sein.

Der Doktor holt Onkel Tim herein. „Tim, wie ist das noch mal passiert?“

„Sie ähm, ist gestürzt, über ähm … über die … Katze … auf die … ja Treppe … genau.“ Mann, wenn er schon lügt, sollte die Story zumindest glaubwürdiger rüberkommen.

„Aha“, stößt der Doktor stirnrunzelnd aus. Er glaubt ihm kein Wort.

„Wie heißt du?“, probiert es Fynn erneut. Gibs auf.

„Hope“, antwortet mein Onkel für mich.

„Hoffnung – welch schöner Name.“ Ja, krieg dich wieder ein.

„Tim“, unterbricht der Doktor die Flirtattacke, die Fynn zugegebenermaßen echt gut drauf hat. „Ich schlage vor, ihr fahrt ins Krankenhaus. Die Hand sollte zur Sicherheit noch geröntgt werden. Vielleicht ist ein Knochen verletzt.“

„Na wunderbar“, stößt Onkel Tim aus und deutet mir mit einer genervten Handbewegung, dass ich meinen Arsch hier rausschaffen soll. Das würde er mir nur zu gerne an den Kopf knallen, aber das erlaubt seine Selbstbeherrschung nicht. Zumindest nicht vor den Leuten. Was passiert, wenn wir wieder allein im Auto sind, vermag niemand vorherzusehen.

An der Eingangstür hält mich Fynn mit einem „Hope“ zurück. Ich stoppe, drehe mich aber nicht um. So süß ist er auch wieder nicht. „War schön, dich kennengelernt zu haben.“ Ich rolle mit den Augen. Mann, krieg dich wieder ein. Er hat wohl auch gerade einen Hormonschub – oder auch ’nen Jetlag. Ohne darauf zu reagieren steige ich ins Auto und lehne meinen Kopf ans Fenster.

„Sieh nur, was du angerichtet hast“, wirft mir Onkel Tim vor. „Jetzt lüge ich schon für dich.“ Naja, das üben wir aber noch – das war ja jämmerlich. „Bob kann nichts für sich behalten. Wenn ich ihm die Wahrheit über deine Aggressionen gesagt hätte, wäre dein Ruf im Dorf schon am ersten Tag ruiniert.“ Ja klar – Kleinstadtsyndrom. Mir ist es aber vollkommen egal, was die Leute über mich denken. Hauptsache, sie lassen mich in Ruhe.

Die ganze Autofahrt lang schimpft Onkel Tim vor sich hin. Ihm scheint es gewaltig gegen den Strich zu gehen, dass er die Austauschschüler, die bei seiner Familie leben sollen, nicht selbst begrüßen kann. Na wunderbar. Wahrscheinlich sind sie alle bei einer internationalen Bibelgruppe, die die Sprösslinge tauschen – zur gegenseitigen Bekehrung. Mir bleibt echt nichts erspart.

Vor dem Krankenhaus setzt mich Tim ab, steckt mir ein paar Geldscheine zu und braust davon. Mein Onkel hat mir aufgetragen, ein Taxi zu nehmen, wenn ich fertig bin. Bin ich froh, immerhin bleibt mir so eine Autofahrt mit dieser Quasselstrippe erspart.

Im Krankenhaus ist kaum was los. Sie sagen, die Straßen sind total vereist und viele Leute bleiben zu Hause. Naja, zumindest komme ich so früher dran.

Sie verpassen mir einen Verband, da die Hand nur geprellt ist. Eine Schwester klatscht mir daraufhin einen Eisbeutel an die Birne. Nach zwanzig Minuten bin ich fertig und steige in ein Taxi zurück zum Haus meines Onkels. Der Schneefall ist noch stärker geworden, was den Taxifahrer im Sekundentakt fluchen lässt.

Irgendwo im Nichts fährt er rechts ran und schmeißt mich raus. Die Straßen sind unpassierbar – sagt er zumindest. Seine Wegbeschreibung „Immer der Nase nach“ lässt Aggressionen in mir aufsteigen.

Dann heißt es also ab jetzt zu Fuß gehen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Die Temperaturen liegen weit unter dem Gefrierpunkt. Der Wind bläst so stark, dass mich meine Jacke kaum zu wärmen vermag. Meine Zehen sind schon auf halber Strecke abgestorben. Stoisch setze ich nur mehr noch einen Fuß vor den anderen.

Ich weiß nicht wie, aber nach einem schier endlosen Horrortrip durch das Schneegestöber tut sich dann doch das Haus meines Onkels vor mir auf.

Natürlich klopfe ich mir die Stiefel keine siebenmal ab. Zugegebenermaßen hätte ich ganz schön Lust, ihnen ein „Hallooooo, ich trete ein und bringe jede Menge Unglück herein“ ins Haus zu brüllen.

Im Flur reiße ich mir erst einmal die völlig durchnässte Jacke und Mütze vom Leib. Auf dem Spießrutenlauf vorbei an der Deko, die den Weg förmlich pflastert, bleibt mein Fuß irgendwo hängen, was mich vorwärtsstolpern lässt. Mit einem dumpfen Laut legt es mich so richtig schön der Länge nach hin.

Nach ein paar Sekunden rolle ich mich genervt auf den Rücken. Strohsterne, die sich von einem Mobile über mir gelöst haben, rieseln auf mich nieder. Schützend halte ich mir die Arme übers Gesicht. Sowas kann nämlich ins Auge gehen. Einen kurzen Moment bleibe ich einfach liegen und frage mich, ob Deko töten kann.

Ein „Hast du dich verletzt?“ lässt mich die Arme vom Gesicht nehmen. Der nächste heiße Typ kniet über mir. Der hier hat aber schwarze Haare und Wimpern, für die jede Frau töten würde. Seine Züge sind so männlich, dass ich meinen Blick nur schwer abwenden kann. Halleluja jauchze ich in Gedanken, während ich mich hochrapple. Als Draufgabe stoße ich gleich noch einen Weihnachtsengel vom Regal, an dem ich mich hochziehen wollte. Er stürzt kopfüber zu Boden. Der Muskelprotz fängt ihn natürlich im freien Fall, schnappt mich auch noch gleich und zieht uns beide hoch. Unsere Blicke verfangen sich ineinander. Sag mal, wieso ist es plötzlich so heiß hier drin?

„Jetzt halte ich bereits zwei Engel in meinen Armen“, reißt mich aus dem Schmachten. Okay, Herzensbrecher-Alarm. Gegen solch schleimige Typen bin ich immun. Zumindest versuche ich, mir das einzureden. Im nächsten Augenblick reiße ich mich von ihm los und schüttle genervt die Sterne ab.

„Wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lucien. Ich und zwei weitere Männer sind hier zu Gast.“ Männer? Der ist höchstens neunzehn. Auch er spricht in diesem eigenartigen Dialekt. Die stammen wohl alle aus demselben Land.

Unbeeindruckt lasse ich Mister Perfekt stehen und betrete den Wohn-Essbereich. Zwei weitere Jungs erheben sich synchron von der Couch. Einer von ihnen trägt eine Mönchskutte. Der andere hat braune, strubbelige Haare und scheint ebenfalls im selben Bodybuilding-Programm zu sein.

„Das sind Kadien und Tristan“, stellt sie Lucien vor. Beide nicken. Was für seltsame Namen.

Tristan – der Strubbelhaar-Muskelprotz – fragt: „Und wie ist dein Name?“

Ich habe Kopfschmerzen. Eigentlich will ich nur in Ruhe gelassen werden. Dementsprechend genervt trete ich ans Fenster und öffne es. Der Sturm weht Schnee herein. Ich frage mich, ob dieser kurze Moment reicht, um schockgefrostet zu werden. Den Gedanken verwerfe ich sogleich – meinen Chemiekurs reflektierend – während ich nach einer Handvoll Schnee vom Fensterbrett greife. Damit lasse ich mich, ihnen den Rücken zukehrend, auf den Hocker am Küchentresen sinken.

Mithilfe eines gezielten Schlages auf die Tresenkante öffne ich den Kronkorken der Colaflasche, die ich aus einem Automaten im Krankenhaus befreit habe, und nehme einen genüsslichen Schluck. Tut das gut. Mit der anderen Hand klatsche ich mir den Schnee an den pochenden Schädel. Die Kohlensäure lässt mich laut rülpsen. Ups. Ich hatte ganz vergessen, dass ich Gesellschaft habe. Hoffentlich haben sie es nicht mitbekommen – obwohl, das war ja kaum zu überhören.

„Hat sie gerade gerülpst?“, stößt einer von ihnen aus. Ich lächle. Das schickt sich in ihrer Glaubensgemeinschaft wohl nicht.

Die blöde Katze springt neben mir auf den Tresen und stößt mit ihrem Kopf an meinen. Dabei schnurrt sie so laut, dass es mir die Gänsehaut aufzieht. Der kurze Moment hat gereicht, einen erneuten Niesanfall zu provozieren, bevor ich sie vom Tresen schubsen konnte.

Plötzlich zieht jemand neben mir scharf die Luft ein. „Was machst du da?“ Onkel Tim hat die Augen weit aufgerissen. Hey, die Katze ist sauber gelandet. Die haben sowieso mehrere Leben.

Tim kommt auf mich zu und reißt mir die Flasche förmlich aus der Hand. „Was zum …?“ Sein Blick ist so ärgerlich, als hätte er mich gerade mit einer Flasche Bier erwischt.

„Das kommt mir nicht ins Haus“, erklärt er wütend. Hey, das ist ’ne Coke, kein Marihuana. Vor meinen Augen kippt er den Inhalt der Flasche in die Spüle. Da geht sie hin, meine Kaffee-Ersatzdroge.

„Hast du die Regeln nicht gelesen?“, knallt mir Onkel Tim vor den Latz. Nein, die müssen mir wohl, unter tonnenweise Deko begraben, entgangen sein.

„Du bist wohl eine Rebellin, Fräulein. Aber die Faxen werde ich dir schon noch austreiben.“ Viel Glück. „Du bist nicht vorzeigbar. Sieh nur, wie du aussiehst. So etwas kann ich meinen Gästen nicht zumuten. Geh in dein Zimmer!“ Stapf du mal stundenlang durch den Schnee.

Mal sehen, ob du dann noch vorzeigbar bist. Als ich nicht gleich reagiere, bäumt er sich vor mir auf.

„Mach schon Hope, ich werde mich nicht wiederholen“, droht er. Ich tu doch gar nichts. Lass mich doch noch ein bisschen auftauen, bevor ich auf den kalten Dachboden zurück muss.

Ein ungeduldiges „Na warte, Fräulein“, gefolgt von seiner Hand an meinem Arm, die mich vom Hocker zieht, soll seinen Worten wohl Nachdruck verleihen.

Ich keuche vor Schmerz. Der Arm hat wohl auch etwas abbekommen. Onkel Tim lässt mich abrupt los und funkelt mich böse an. „Sag bloß, du hast dich auf dem Arm auch noch verletzt. Du machst wohl keine halben Sachen, was?“ Sieht ganz so aus.

Augenrollend lasse ich ihn stehen und steige die Treppen in mein Zimmer empor. Ich höre Onkel Tim noch beschwichtigen: „Verzeihung, sie ist hier nur zu Gast. Ignoriert sie einfach, wie wir es tun.“ Gute Idee, könntet ihr damit auch endlich mal anfangen?

In meinem Zimmer ist es eiskalt. Nachdem ich mich die halbe Nacht hin und her gewälzt habe, beschließe ich, erneut ins Wohnzimmer zu gehen.

Auf dem Weg nach unten trete ich auf ein unbekanntes Deko-Objekt. Mann, was für eine Todesfalle. Hier müssten lauter Schilder mit der Aufschrift: „Vorsicht Deko – akute Lebensgefahr“ hängen.

Irgendwie habe ich es doch noch in einem Stück runter geschafft. Hier muss doch irgendwo etwas Essbares sein.

Ich versuche mein Glück in einem der Hängeschränke, den ich nach Schokolade durchforste. Natürlich bin ich zu klein und muss mich weit nach oben strecken, um heranzukommen. Nur noch ein paar Millimeter trennen mich von der Schachtel, in der ich Kekse vermute.

„Brauchst du Hilfe?“ Vor Schreck taumle ich zurück, löse eine Kettenreaktion aus und werde unter dem halben Schrankinhalt begraben. Nachdem es mich so richtig schön auf den Allerwertesten setzt wohlgemerkt.

Lucien ist schnell bei mir und fängt ein paar der schweren Sachen ab, bevor sie mich k. o. schlagen können. Er muss mich für einen absoluten Tollpatsch halten.

Dementsprechend belustigt sieht er auch aus, als er mir auf die Beine hilft. Ich erwidere sein Grinsen, während ich die Sachen aufhebe. Er hilft mir sogar dabei. Die Keksschachtel entreiße ich ihm aber, bevor er sie zurück in den Schrank räumen kann. Gierig versuche ich, an den Inhalt zu kommen.

„Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Ja genau, deshalb schleichst du dich auch von hinten an mich heran. Erst jetzt merke ich, dass er nur ein ausgewaschenes T-Shirt und Boxershorts trägt. Dabei fällt mir ein. Ich steh auch nur im Pyjama vor ihm. Unbeholfen versuche ich, das viel zu kurze T-Shirt über meinen Bauch zu ziehen. Die Tatsache, dass ich keinen BH trage, verdränge ich.

„Tim hat mir gesagt, dass dein Name Hope ist.“ Toll. Wen interessiert das?

Ich setze mich auf die Kücheninsel und lasse die Beine baumeln. Dabei stopfe ich mir unentwegt die harten Schokokekse rein. „Und, dass du nicht sprichst“, ergänzt er. Wunderbar. Sie reden über mich. Wahrscheinlich hat er ihnen noch gesagt, ich sei geistig unterentwickelt.

„Wie ist das passiert?“ Er zeigt auf den Verband, der meine rechte Hand ziert. Gänsehaut zieht sich über meinen Rücken. Ja, ich gebs zu. Als er vorhin hinter mir aufgetaucht ist, hatte ich kurz Angst, es wäre der Einbrecher.

„Hope?“ Seine Stimme holt mich aus meinen Gedanken und ich bemerke erst jetzt, dass er nähergekommen ist. Viel zu nahe, wohlgemerkt.

Warte, hey. Ich halte ihn mit der Faust an seiner Brust auf Abstand und schüttle warnend den Kopf. Mein erboster Blick soll ihm deutlich zeigen, dass er gerade in meinen Wohlfühlbereich eingedrungen ist.

Lucien hält inne, zieht aber im nächsten Augenblick etwas aus meinem Haar, das er mir vor die Nase hält. Deko-Alarm. Ein Strohstern hat sich in meinen Locken verfangen und nur auf den richtigen Moment gewartet, um mich hinterhältig zu piken. Genervt schnappe ich meine Mähne und durchpflüge sie mit den Fingern, dabei fällt noch ein weiterer Stern auf meinen Oberschenkel.

Bevor ich ihn abschütteln kann, greift Lucien danach und berührt mich dabei mit seiner Hand. Er lässt die Pranke sogar auf meinem Schenkel liegen. Wow, Grapsch-Attacke.

Wie eine Irre springe ich von der Arbeitsplatte. In der Bewegung stoße ich ihn mit beiden Händen von mir weg.

Lucien stolpert rückwärts und knallt gegen die Küchenschränke. Sein Blick ist mehr als verblüfft. Wütend schnappe ich mir die Keksschachtel und lasse ihn stehen. Was fällt ihm ein, mich zu begrapschen. Die finnischen Mädchen tolerieren das vielleicht, aber ich bin New Yorkerin. Den Kulturschock verpass ich ihm gerne, bevor das zur Gewohnheit wird.


Wer braucht schon Zauberworte?

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