Читать книгу Wer braucht schon Zauberworte? - Marie Lu Pera - Страница 4

Zwei

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Ein absolut nerviges Glockenklingeln, gefolgt von Claires „Guten Morgen Familie“, das durchs Haus hallt, lässt Aggressionen in mir hochsteigen.

Ich schnappe mir meinen Pullover, dessen Ärmel schon länger sind als das Teil selbst, und streife meine Jeans über.

Der Anblick des Frühstückstisches trägt nicht zur Besserung meiner Laune bei. Nicht nur, dass unsere drei Gäste mit von der Partie sind, nein, Emma und Lydia haben wohl eine akute Hormonausschüttung. Sie grinsen bis über beide Ohren und flüstern sich Dinge ins Ohr. Nach erfolgreicher Informationsübermittlung kichern sie sogar.

Schnell drehe ich mich wieder um. Bitte lass sie mich nicht gesehen haben. Ein „Hope“ aus dem Munde meines Onkels macht alle meine Hoffnungen schlagartig zunichte. Ertappt drehe ich mich um.

Die drei Jungs erheben sich von ihren Plätzen, was mich mit den Augen rollen lässt. Sie lassen echt die Gentlemen raushängen. Kann ich in meinem Zimmer frühstücken? Geht das?

„Setz dich, Hope. Wir haben auf dich gewartet. Und dreimal darfst du raten, wer an der Reihe ist, das Gebet zu sprechen“, informiert mich Onkel Tim. Das geht grad gar nicht. Ich pack die heile Welt noch nicht so früh am Morgen. Der gesellschaftliche Druck ist zu groß. Ich ergebe mich und nehme neben meiner Cousine auf der Bank Platz.

„Daddy, das ist aber mein Platz“, schmollt Emma. Genervt stehe ich wieder auf nachdem sie mich schon an den Rand gedrängt hat. Kopfschüttelnd umrunde ich den Tisch und versuche es am anderen Ende der Bank.

„Das ist mein Platz“, stößt Lydia aus, da haben meine Arschbacken noch nicht mal die Polsterung berührt.

„Dann nehmt sie doch in die Mitte, Mädchen“, schlägt Claire vor. Mann, wenn es schon ewig dauert bis ich sitze wird sich dieses Frühstück sicher endlos hinziehen.

Gefühlte Minuten später bin ich zwischen den Barbies eingekeilt, die nun hinter meinem Rücken tuscheln.

„Reicht euch die Hände“, verlangt Tim. Alle tun sofort, was er sagt. Alle bis auf meine Wenigkeit. Ich hab die Null-Bock-Einstellung und unterbreche ihren Kreis des Vertrauens. Jetzt weiß ich auch, warum meine Cousinen ihren Platz förmlich mit ihrem Leben verteidigt haben. So dürfen sie Händchen mit den Jungs halten. Wie überaus kindisch. Man könnte meinen, sie wären zwölf.

„Hope“, fordert mein Onkel ungeduldig. Jetzt weiß ich, was alle immer mit dem Wort „Gruppenzwang“ meinen und darf es am eigenen Leib erfahren. Ich lege meine Hände, die mit meinen Ärmeln bedeckt sind, auf den Tisch vor mich. Meine Cousinen ergreifen sie kichernd. Nun starren alle erwartungsvoll auf mich.

„Hope, wie wäre es, wenn du dein Schweigen brichst und uns mit einem Gebet erfreust?“, schlägt Claire vor. Gegenvorschlag: Wie wärs, wenn du endlich aufgibst, mein Schweigen brechen zu wollen.

„Hast du ein Schweigegelübde abgelegt?“, will Kadien, der Mönch, wissen. Seh ich so aus, als wär ich Nonne? Claire seufzt lautstark.

Ich bin bereits wieder in einem Tagtraum versunken – mitunter auch, weil mich die sinnlosen Informationen, die meine Cousinen hinter meinem Rücken austauschen, in den sicheren Wahnsinn treiben würden.

„Hope! Hallo? Ist jemand zu Hause?“, ruft mein Onkel und winkt mir zu. „Willst du das auch essen oder nur damit herumspielen?“ Mein Honigbrot sieht echt abartig aus. Mir ist der Appetit vergangen. Zeit abzuhauen.

„Wir stehen erst auf, wenn alle aufgegessen haben. Das ist Regel Nummer drei“, stopft Tim meine klaffende Wissenslücke bezüglich der Hausordnung.

Da meine Cousinen keine Anstalten machen, mich rauszulassen, stemme ich mich auf den Tisch und hüpfe mit den Beinen zuerst auf die Bank, dann auf den Frühstückstisch. Daraufhin steige ich zwischen dem Geschirr hindurch und bahne mir einen Weg zwischen ihren Marmeladenbrötchen hindurch. Die Tischhöhe überwinde ich, indem ich neben Luciens Stuhl auf den Boden springe.

Bei Claire hat Schnappatmung eingesetzt, mein Onkel schimpft mir hinterher, aber ich ignoriere ihn.

In meinem Zimmer ziehe ich meine Laufkleidung an. Wenn ich mich nicht bald bewege, dreh ich in dieser Spießerbude noch durch.

Vor der Haustüre pralle ich gegen Tristan, der gerade die Einfahrt freischaufelt. Sorry, hab dich glatt übersehen. Lucien ist am Holzhacken und hat tatsächlich den Pullover ausgezogen. Das T-Shirt klebt ihm am schweißnassen Körper, was sein Sixpack hervorblitzen lässt. Er schlägt das Holz so gekonnt entzwei, dass mir Hitze in den Körper steigt. Mann, ist der Kerl sexy – ist kaum zu ertragen.

Keinen Moment zu früh stöpsle ich mir meinen mp3-Player ein und schotte mich von meinem raunenden Onkel ab. „Hope, wo willst du hin? In diesem Haus meldet man sich ab, wenn man weggeht. Das ist Regel Nummer 10. Hope! Hörst du nicht?“ Ich bin sein schlimmster Alptraum.

Bevor er mich erreicht hat, fixiere ich meine Mähne in einem Pferdeschwanz, setze meine Mütze auf und sprinte los.

Die Straßen sind glücklicherweise vom Schnee geräumt und ich komme gut voran. Ich will in die Stadt – dort habe ich im Vorbeifahren dieses Café gesehen. Immerhin ist Koffein ein Grundnahrungsmittel. Meine Entzugserscheinungen machen mich noch zu einer wandelnden Gefahr für meine Mitmenschen.

Völlig abgehetzt und wie ein Junkie lechzend, betrete ich nach einer halben Stunde mein Ziel. Hier sitzt – zu meinem Ärgernis – wieder eine Horde dieser Finnen. Die ganze Stadt wimmelt von ihnen. Noch dazu habe ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Was ist? Noch nie Laufkleidung gesehen?

Ich öffne mein Haar und schüttle es kurz durch, um es etwas zu trocknen. Damit löse ich bei den Jungs ein Pfeifen und Grölen aus, das ich ignoriere. Okay, es sind doch Neandertaler.

Die spindeldürre Verkäuferin hinter dem Tresen reißt ihren Blick kurz von den Muskelprotzen los und sieht so aus, als ob ich sie gerade gerettet hätte. Das Mädchen ist wohl hier ganz allein mit den Hormongesteuerten.

Dementsprechend erleichtert stößt sie ein „Kaffee?“ aus. Ich nicke und krame in meiner Tasche nach Kleingeld, das ich auf den Tresen lege. Dabei erwische ich eine Münze genau so, dass sie sich wie ein Kreisel dreht. Das ist ziemlich schön anzusehen. Naja, zumindest bis sie jemand mit seiner Pranke, die auf die Platte schlägt, stoppt. Na toll, ein Männchen hat sich aus der Gruppe gelöst.

Es ist ein Riese, der eine Narbe auf der Wange trägt. Seine Augen sind so furchteinflößend, dass ich mich frage, ob er nicht ideal für die Geisterbahn wäre. Die suchen doch ständig Leute.

Vollkommen arrogant grinsend stößt er ein „Komm zu mir und setze dich auf meinen Schoß“ aus. Und das Beste ist – das war keine Frage – eher ein Befehl.

Ich ignoriere ihn und will schon nach meinem Kaffee greifen, da spüre ich seine Hand an meinem Hintern. Er packt so fest zu, dass ich keuche.

So Cowboy, das wars – jetzt bist du zu weit gegangen. Mit festem Griff packe ich den Stier an den Eiern – und das war jetzt nicht sprichwörtlich gemeint. Er zieht scharf die Luft ein. Vor Schmerz krümmt er sich über den Tresen. Das animiert mich, noch fester zuzupacken. Mit der linken Hand habe ich weniger Kraft, aber für so einen Idioten reichts noch. Der Stiernacken keucht wild. Ja, genieße es.

Die Verkäuferin hat die Augen verblüfft aufgerissen. Ich zeige auf die Karaffe mit dem Eiswasser, die sie mir ohne zu zögern verräterisch lächelnd reicht. Sie hat wohl auch schon Bekanntschaft mit dem Grapscher gemacht. In einem Guss leere ich den gesamten Inhalt über sein Haupt.

Die Abkühlung hat ihm sichtlich gutgetan, denn als ich ihn loslasse und von mir wegstoße, macht er keine Anstalten, einen Gegenangriff zu starten. Ihm ist die Verblüffung ins Gesicht geschrieben – und der Schmerz. Seine Freunde glotzen mich nur mit offenen Mündern an.

Ich merke gerade, dass er eins meiner Geldstücke mitgehen hat lassen, das er mir überheblich grinsend entgegenhält, um mich anzulocken. Respekt, er hat anscheinend noch nicht genug.

Gemächlich mache ich ein paar Schritte auf ihn zu, da lässt der Typ das Geldstück in seiner Faust verschwinden, was seine Freunde laut auflachen lässt. Glücklicherweise habe ich das bereits vorhergesehen und ihm einen kleinen Beutel, den er locker an seinem Gürtel befestigt hatte, gestohlen. Genauso grinsend halte ich ihm sein Eigentum hin. Das Teil ist ganz schön schwer und klimpert. Da ist sicher sein ganzes Kleingeld drin.

Ihm ist die Kinnlade auf den Boden geklappt. Hey, ich bin New Yorkerin, so etwas in der Art hat schon mal jemand mit mir bei Starbucks abgezogen.

Ich zeige auf die Verkäuferin. Nickend wirft er ihr das Geldstück zu und fordert seinen Beutel. Lächelnd werfe ich das Teil vor mir in die Luft und kicke es mit dem Fuß auf ihn zu. Der Beutel prallt hart an seiner Brust ab, was ihn abermals keuchen lässt. Da ich früher geturnt habe, habe ich mich gleich noch in der Luft gedreht und bin sauber gelandet.

Vollkommen entspannt binde ich mein Haar wieder zurück, greife nach meinem Kaffee und verlasse das Lokal. Diesen Finnen muss mal jemand Manieren beibringen. Ist doch nicht zu fassen, dass er mir an den Hintern gefasst hat.

In ein paar hastigen Zügen kippe ich das Koffein in meinen Schlund und verfrachte den Becher in einen Mülleimer. Ich merke gerade, dass an jedem Schaufenster, an dem ich vorbeikomme, ein echtes Hufeisen hängt. Die sind aber echt abergläubisch hier. Mein Blick wandert weiter. Neben den Verkehrsschildern stehen Tafeln mit vierblättrigen Kleeblättern in der Gegend herum. Meine Fresse.

Direkt vorm Buchladen pralle ich frontal in einen Körper. Fynn, der Austauschschüler vom Doktor, lächelt mich überrascht an. Er hat ein Mädchen dabei, das so blond ist wie er und ihn von der Seite anschmachtet. Das Püppchen ist alles andere als begeistert, dass ich ihr die Aufmerksamkeit abziehe, was mich ein böses Augenfunkeln ihrerseits kassieren lässt.

„Hallo Hope. Wie geht’s deiner Hand?“, will Fynn freudestrahlend wissen.

Ist eigentlich schon viel besser. Ich zucke nur mit den Schultern und will an ihm vorbei, da hält er mich am Arm zurück, den ich ihm gleich wieder wegziehe. Für meinen Geschmack habe ich heute schon genug Übergriffe von finnischen Muskelprotzen ertragen müssen.

Er räuspert sich unbeholfen. „Kommst du morgen zum Dorffest?“ Eher nicht. Hab bereits eine Überdosis Kitsch abbekommen. Wieder zucke ich gelangweilt mit den Schultern und lasse ihn einfach stehen. Nichts wie weg hier.

Ich weite meine Runde noch aus und laufe an vielen Häuschen vorbei, an denen ebenfalls Austauschschüler damit beschäftigt sind, Arbeiten zu verrichten. Wie viele gibt es eigentlich von ihnen? Das ist ja wie eine Invasion. Die ganze Stadt scheint nur noch aus Finnen zu bestehen.

Auf dem Rückweg komme ich an einer Klippe vorbei. Ich atme die frische Luft tief ein. Ausnahmsweise schalte ich sogar meinen mp3-Player aus, um den sich brechenden Wellen zu lauschen.

Das Knacken von Ästen hinter mir lässt mich aufschrecken. Okay, jetzt werde ich paranoid. Wahrscheinlich war das nur der Schatten eines Tieres, den ich am Waldrand gesehen habe. Oder ich spinne bereits – was viel wahrscheinlicher ist.

Der Schneefall ist stärker geworden. Aus dem böigen Wind ist ein ausgewachsener Sturm geworden. Ich habe Mühe, die Türe zum Haus zu schließen und stemme mich mit vollem Körpereinsatz dagegen.

Hier drin ist es so stickig heiß, dass ich mir die Laufjacke förmlich vom Leib reiße. Mein Onkel steht bereits, mit vor der Brust verschränkten Armen, vor mir.

„Wo warst du, Fräulein?“ Ist das nicht offensichtlich?

Da ihm die Erkenntnis nicht ins Gesicht geschrieben steht, helfe ich nach und halte ihm sogar meine Laufschuhe vor die Nase, als ich an ihm vorbeigehe.

„Du hast Hausarrest“, erklärt er mit erhobenem Zeigefinger. Ich zucke nur gelangweilt mit den Schultern. Bei dem Wetter kann man sowieso nirgends hin.

Im Wohnbereich finde ich die versammelte Mannschaft vor. So wie es aussieht, sind sie gerade dabei, die Jungs zu „unterhalten“. Emma und Lydia quasseln ohne Luft zu holen, während die Muskelprotze brav nicken.

Kopfschüttelnd schleiche ich mich vorbei. Ich brauch dringend eine Dusche – ich bin nicht mehr gesellschaftsfähig.

Sie sind augenscheinlich zu den Fotoalben übergegangen, als ich eine halbe Stunde später den Wohn-Essbereich betrete. Kurz hatte ich das Gefühl, einen Schatten am Fenster zu erkennen, tue es aber im nächsten Moment als optische Täuschung ab. Daraufhin falle ich fast über die Katze, die sich todesmutig vor meine Füße geschmissen hat, um sich schnurrend an mich zu kuscheln. Was für ein blödes Vieh. Wieso sucht sich das Ding kein anderes Opfer?

Die Jungs haben sich erneut höflich von ihren Plätzen am Tisch erhoben und unterbrechen kurz ihr Wackeldackel-Dauernicken.

„Sieh mal einer an. Hope beehrt uns mit ihrer geschätzten Anwesenheit“, spottet Onkel Tim.

„Hier, wir haben ein Foto von dir gefunden“, sagt Emma und hält mir ein Bild von einem meiner Turnwettbewerbe von vor zwei Jahren hin. Neben mir stehen Mum und Dad. Meine Eltern haben es wohl meinem Onkel geschickt. Von dem Foto löst sich eine Büroklammer und ein Zeitungsartikel segelt mitten auf den Tisch.

Eltern bei Explosion ums Leben gekommen. Tochter überlebt unverletzt.“

Ich pack das gerade nicht, versuche aber vollkommen emotionslos zu bleiben. Die Bilder, die normalerweise nur in meinen Träumen hochkommen, fluten meinen Kopf. Ich presse die Fäuste zusammen, bis die Knöchel weiß hervortreten.

„Turnst du eigentlich noch?“, fragt mich Claire. Das ist ein Ablenkungsmanöver, damit sie den Zeitungsausschnitt unbemerkt unter dem Tisch verschwinden lassen kann.

Bevor ich eine Regung zeigen kann, kreischen meine Cousinen bereits: „Zeig uns ein Kunststück. Bitte, bitte, Hope.“ Kunststück? Glauben die etwa, ich bin eine Zirkusattraktion?

Lucien meldet sich zu Wort: „Das würde ich gerne sehen.“ Was du nicht sagst. Sie lassen nicht locker und bearbeiten mich von allen Seiten.

Vollkommen genervt gehe ich einige Schritte zurück und sprinte sogleich auf den Tisch zu. Meine Cousinen haben sich erschrocken, denn sie kreischen wild, aber da habe ich mich bereits mit meinem Fuß von der Tischkante in einen lockeren Rückwärtssalto katapultiert und bin sauber gelandet. Applaus setzt ein. Gelangweilt lasse ich mich im nächsten Augenblick auf die Couch fallen.

„Kannst du dich auch verbiegen? Zeig mal was“, fordert Lydia. Ich bin wieder dazu übergegangen, sie zu ignorieren, während ich versuche, diese anhängliche Katze, die sich andauernd an mich drängt, loszuwerden. Dabei niese ich mir die Seele aus dem Leib.

Claire befreit mich sogleich von dem Allergieauslöser und sperrt ihn in ein anderes Zimmer. Tschüss Putzi, auf Nimmerwiedersehen.

„Willst du dich nicht umziehen?“, fragt mich Lydia aufgeregt. Ich ziehe wieder ahnungslos die Schultern hoch.

„Na für die Bibelstunde in der Kirche“, informiert sie mich. Das kannst du vergessen. „Komm schon, das wird so ein Spaß.“ Meine Cousine zerrt sogar an meinem Arm. Bestimmt. Gut, dass ich Hausarrest habe.

Unter Androhung diverser Gräueltaten haben sie mich dazu genötigt, mitzugehen. Bevor ich „Null-Bock“ sagen kann, stapfe ich bereits mit drei Muskelprotzen und zwei Barbie-Quasselstrippen durch den Wald. Es ist bereits dunkel. Nur die Taschenlampen der Jungs erhellen die Winterlandschaft. Claire und Tim sind auch ausgegangen – zu irgendeiner Dorfversammlung.

Meine Cousinen starten absolut lächerliche Anmachversuche, bei denen sie sich in den Schnee fallenlassen und einen angeknacksten Knöchel simulieren. Lucien geht sogar darauf ein. Ritterlich hebt er Emma in seine Arme, die die ganze Zeit über in sein Ohr kichert. An seiner Stelle hätte ich sie wieder abgeladen. Sein belustigtes Gesicht bleibt mir aber dennoch nicht verborgen.

Tristan wird gerade von Lydia mit Schneebällen bearbeitet – er wirft nicht mal zurück, lächelt nur, aber es reicht nicht bis zu seinen Augen. Kadien hält sich im Hintergrund, betrachtet dieses Schauspiel aber mit hochgezogenen Augenbrauen. Er ist mir der Liebste von ihnen, denn er quatscht nicht so viel.

Ich mache Minischritte, um Abstand zu gewinnen. Das hält doch niemand auf Dauer aus.

Plötzlich vernehme ich hinter mir ein lautes Rascheln. Zwischen den Bäumen steht wieder diese schwarze Gestalt mit Umhang. Gefühlte Minuten starren wir einander nur an. Langsam trete ich zurück, während mir das Herz bis zum Hals schlägt.

Im nächsten Augenblick prallt mein Rücken gegen einen Körper. Dem Herzinfarkt nahe drehe ich mich um. Es ist bloß Lucien.

„Hope? Ist alles in Ordnung?“ Ich lasse es mir nicht nehmen, ihm an die Schulter zu boxen, weil er sich schon wieder an mich herangeschlichen und mich dabei fast zu Tode erschreckt hat. Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch.

Blitzschnell drehe ich mich wieder um und fixiere die Stelle, an der gerade eben noch diese Gestalt stand. Sie ist weg. Wenn sie weggelaufen wäre, hätte man das sicher im tiefen Schnee gehört. Toll, jetzt sehe ich schon Gespenster. Ich sollte mal ein CT machen lassen, da stimmt doch was nicht im Oberstübchen.

„Was hast du dort gesehen?“ Ich ignoriere Lucien und gehe weiter. Sein Arm hält mich zurück. Verärgert reiße ich mich los.

„Verzeih mir. Ich vergesse immerzu, dass du nicht berührt werden willst.“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass er damit recht haben könnte. Es ist mir irgendwie unangenehm, berührt zu werden.

„Dir muss etwas Schreckliches widerfahren sein. Hat es etwas mit dem Tod deiner Eltern zu tun? Ich habe dein Gesicht gesehen, als du das Foto betrachtet hast. Du hast es zwar gut verborgen, aber ich habe den Schmerz in deinen Augen gesehen. Sprichst du deshalb kein Wort?“ Für ein paar Sekunden fixiere ich ihn. Im nächsten Augenblick drehe ich mich um und will gehen.

„Hope, warte.“ Ich halte inne, sehe ihn aber nicht an, als er neben mir auftaucht.

„Du machst mir das hier echt schwer.“ Ich habe keine Ahnung, was er damit sagen will, also sehe ich einfach nur desinteressiert aus. Er lächelt.

„Hör zu, ich wollte die ganze Zeit über mit dir alleine sein.“ Was? Nein, jetzt mach mal halblang. „Verzeih mir, wenn ich etwas rüpelhaft wirke, du machst mich etwas nervös.“ Rüpelhaft? Wer sagt denn sowas? Ist das der Satz, bevor er wild knutschend über mich herfällt?

„Würdest du es erlauben, wenn ich dir den Hof mache?“ Wie bitte? Was zum Teufel soll das bedeuten? Sag nicht, er ist so ein Mittelalterspinner, der in Plastikrüstung und mit Laserschwert rumläuft. Der Typ hat sie echt nicht mehr alle.

Ich rolle mit den Augen und suche das Weite, bevor er mich noch „Holdes Weib“ nennt.

Auf dem Rückmarsch habe ich die ganze Zeit über das Gefühl, beobachtet zu werden. Jetzt hab ich wohl auch noch Verfolgungswahn.

Tristan grinst breit nachdem ich wieder zurück bei der Gruppe bin. Wieso habe ich das vorherrschende Bedürfnis, ihm eine aufs Maul zu hauen? Meine Cousinen sind augenscheinlich weniger begeistert über meine Rückkehr.

Ein paar Minuten später haben wir die Kirche erreicht und quetschen uns mit gefühlten hundert Jugendlichen in einen absolut stickigen Saal im Pfarrhaus. Mindestens dreißig dieser Finnen sind auch mit von der Partie. Sie werden von den Mädels regelrecht umzingelt. Der Grapscher aus dem Café ist auch unter ihnen.

Sie haben Stühle in einem riesigen Kreis angeordnet. Meine Cousinen drücken Tristan und Lucien auf Plätze neben sich. Ich grinse, die Jungs tun mir echt schon leid.

Ich frage mich, ob es zu spät ist, sich rauszuschleichen. Ist es nicht. Ohne Umschweife drehe ich mich um und drücke mich an den hereinströmenden Teenies vorbei.

Ein letzter Blick zurück soll mir zeigen, ob mein Fluchtversuch unbemerkt geblieben ist, da pralle ich frontal gegen einen Körper. Verdammt.

Schnell mache ich einen Schritt zurück und erstarre. Das sind die schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe. Der Junge, in den ich gerade hineingelaufen bin, ist groß und hat schwarze, lange Dreadlocks, die er mit einem Band fixiert hat. Er steht in Sachen Muskelmasse den Finnen um nichts nach. Sein Blick strahlt eine solche Intensität aus, dass ich darin zu versinken drohe. Sein Mantel ist schwarz und reicht ihm bis über die Knie. Er ist wohl aus der Gothic Szene. Augenblicklich spüre ich diese Außenseiterverbindung zwischen uns. Er passt hier genauso wenig rein wie ich.

Bevor ich in der rosa Seifenblase davonschwebe, lässt er sie mit einer Riesennadel platzen. Vollkommen unbeeindruckt umrundet er mich und lässt mich stehen. Er stößt nicht mal ein „Verzeihung“ aus.

Ein paar Sekunden bin ich einfach nur geflasht. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Naja, bemerken hätte er mich schon können. Jetzt bin ich echt deprimiert. Die Situation bestärkt mich, meinen Plan zu Ende zu bringen und abzuhauen.

Natürlich habe ich Pech, denn der Pfarrer kommt mir schon von Weitem entgegen. „Schäfchen, dreh dich um, in der anderen Richtung liegt dein Ziel“, prustet er mir zu. So viel zum Plan. Wütend stapfe ich zurück in den Saal. Spinne ich oder hat er mich grad echt Schäfchen genannt?

Da alle schon sitzen, bekomme ich natürlich die geballte Ladung Aufmerksamkeit ab. Bloß der Junge mit den Dreads, von dem ich sie mir gewünscht hätte, spielt gelangweilt mit seinem Handy. Fynn winkt mir fröhlich zu. Ich ignoriere ihn natürlich. Sind wir hier im Kindergarten, oder was?

Genervt lasse ich mich auf einen der freien Plätze neben Kadien fallen. Ihn scheinen diese Hormonwütigen zu meiden, da er Sperrgebiet ist. Mann, wie kann man bloß Mönch werden?

Er sieht ganz gut aus – was für eine Verschwendung.

Nach den ersten Worten des Pfarrers, der uns überschwänglich als seine Herde bezeichnet, drifte ich gedanklich ab.

Jemand hat mir gerade den Ellbogen in die Seite gerammt, was mich aus meinem Tagtraum erwachen lässt. Es war Kadien, der mich eindringlich ansieht. Okay, was hab ich verpasst?

Alle starren auf mich und scheinen auf irgendetwas zu warten.

„Sie spricht nicht“, stößt Lydia aus.

„Aha, warum denn nicht?“, will der Pfarrer, mit auf mich gerichteten Blick, wissen. Wieso erwarten immer alle darauf eine Antwort?

„Soll ich sie vorstellen?“, schlägt meine Cousine vor. Ja unbedingt. Du kennst mich ja schon eine Ewigkeit – ein paar Tage, um genau zu sein.

„Das ist eine gute Idee, Emma.“

„Lydia“, korrigiert sie den Geistlichen schmollend.

„Verzeihung, Lydia natürlich“, beschwichtigt er.

„Also“, fährt sie fort. „Ihr Name ist Hope und sie ist unsere Cousine. Sie kommt aus New York und wohnt seit ein paar Tagen hier. Daddy hat sie bei uns aufgenommen, weil sie nach dem Unfall ihrer Eltern keine Familie mehr hat.“ Ohhh, eine Runde Mitleid bitte. Mann, die Information hätte sie ruhig steckenlassen können. „Daddy sagt, sie war in einer Irrenanstalt.“ Diese Information übrigens auch. „Wir sollen sie aber nicht darauf ansprechen, damit sie sich nicht aufregt. Außerdem habe ich gesehen, dass sie eine Tätowierung hat. Ich bin rein zufällig ins Badezimmer, als sie sich geföhnt hat. Da habe ich es gesehen. Es zeigt einen nackten Mann mit Flügeln. Er hat Hörner auf dem Kopf.“ Danke Lydia. Das war gerade die Lektion: Wie zerstöre ich Hopes Kleinstadtruf in nur zehn Sekunden. Sogar dem Pfarrer steht der Mund sperrangelweit offen.

Die Blicke der Sesselkreisteilnehmer sprechen Bände. Ihnen ist die Tatsache, neben einer Irren zu sitzen, sichtlich unangenehm. Sogar Kadien geht etwas auf Abstand.

Wow, das war wohl die Retourkutsche, weil ich mit Lucien allein war. Ich wusste, dass sie es mir übel nehmen. In ihren Gesichtern war blanker Neid zu erkennen. So süß ist er auch wieder nicht. Ihr könnt ihn gerne haben.

Im Raum bricht gerade angeregtes Tuscheln aus, das der Pfarrer mit lautem Händeklatschen unterbindet. „Bitte … Schäfchen, auch die verlorenen Seelen haben eine Berechtigung, hier auf Erden zu verweilen“, prustet er. Wow, er hat meine Seele wohl bereits abgeschrieben. Er scheint erst jetzt zu bemerken, wie abartig das gerade geklungen hat.

Im Raum könnte man eine Stecknadel fallen hören. Ein paar Mädchen haben sogar die Luft hörbar eingezogen. Ich nutze ihre Benommenheit für meinen Abgang.

Den ganzen Weg aus dem Gebäude lächle ich. Wenn sie denken, ich bete den Teufel an, dann lassen sie mich wenigstens in Ruhe und ich muss mir diese Gruppenscheiße nicht mehr antun.

Zu meiner Verblüffung sind die Türen verriegelt. Wieso sollte der Pfarrer uns hier einsperren? Das ist echt schräg.

Vielleicht gibt es ja einen Hinterausgang. Ich will gerade danach suchen, da kommt mir der Geistliche mit dem Schlüssel entgegen.

„Jede Herde hat auch schwarze Schäfchen“, soll wohl geistreich sein. Ich kapier den tieferen Sinn seiner Worte nicht. Das Schloss klackt laut auf und entlässt mich in die ersehnte Freiheit.

Gut, dass ich Kadien vorhin die Taschenlampe geklaut habe, sonst wär das hier noch grusliger. Hinter mir vernehme ich jedoch wenig später wieder Stimmen, die die Hoffnung auf Einsamkeit sogleich im Keim ersticken lassen.

„Hope?“ Mann, kann man hier nicht mal seine Ruhe haben? Meine Cousinen und die Jungs tauchen aus der Dunkelheit auf.

„Du darfst nicht alleine durch den Wald gehen. Sonst holen sie dich noch. Außerdem spukt es hier“, ermahnt mich Lydia ärgerlich. Werd endlich erwachsen.

Luciens und meine Blicke treffen sich. Sieht so aus, als wolle er einen Rückzieher machen und sich einen anderen Hof suchen. Er ist distanziert und sichtlich unschlüssig, wie er mit mir nun umgehen soll. Nicht zu fassen, dass er sich von so einer Story beeindrucken lässt. Sichtlich amüsiert laufe ich einfach stur weiter.

Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Die Außenweihnachtsbeleuchtung des Hauses ist ausgefallen. Ich hatte fast vergessen, wie es ist, nicht bis zur Schmerzgrenze geblendet zu werden, wenn man auf die Türschwelle tritt.

Hinter mir ertönen die aufgebrachten Schreie meiner Cousinen. Ja, lasst es einfach gut sein ihr Weibchen. Die „Mädchen in Not“-Masche hat schon letztes Mal kaum gezogen. Ist nur ein Stromausfall – kein Grund durchzudrehen.

Hope!“ Mann, was ist denn? Bin ich hier von lauter Hosenscheißern umgeben?

Ich will gerade nach der Türklinke greifen, da packt mich Lucien wild und zieht mich grob von der Türmatte. Jetzt übertreibt er aber maßlos. Meine Taschenlampe fällt dem Angriff zum Opfer und beleuchtet die Eingangstüre. Wow, jemand hat ein schwarzes X draufgemalt.

„Komm von der Tür weg, Hope“, reißt mich aus dem Aufstellen von Hypothesen, welcher Sprayer sich in diese Einöde verlaufen haben könnte.

Lucien zerrt mich weg und übergibt mich an Kadien, der sichtlich überfordert ist. Nein warte, er hat Angst vor mir. Wütend schubse ich den Mönch in den Schnee, bevor ich Lucien und Tristan ins Haus folge.

Kopfschüttelnd öffne ich den Schrank im Flur, in dem ich die Sicherungen vermute. Genervt lege ich den Schalter um. Das Licht wird jeden Eindringling in die Flucht schlagen – das oder der Anblick der Deko.

Keinen Wimpernschlag später poltert Onkel Tim zur Tür rein. „Du bleibst, wo du bist“, befiehlt er mir aufgebracht.

Hallooooo, ich bin New Yorkerin. Wenn wir bei dem bisschen Vandalismus schon die Nerven wegschmeißen würden, würden wir pausenlos wie kreischende Zombies herumlaufen.

Claire hält ihre weinenden Töchter fest umschlungen, als wir wenig später zusammen im Wohnzimmer sitzen. Onkel Tim läuft Spuren in den Teppich und die Jungs hängen ihren Gedanken nach.

Ich beobachte diese Heulbojen kopfschüttelnd. Wie kann man nur so überreagieren?

Vollkommen genervt greife ich nach einem Block und kritzle die Worte:

Könntet ihr euch mal wieder einkriegen!!! darauf. Ich knalle das Papier auf den Couchtisch vor ihre Nasen und tippe darauf. Onkel Tim kommt näher und liest es laut vor. Daraufhin erwidert er: „Du verstehst das nicht, Hope.“ Ja wunderbar. Erneut greife ich nach dem Block.

Dann erklärs mir.

Mein Onkel scheint zu überlegen, winkt aber ab. „Wir sollten zu Bett gehen“, schlägt er vor. Wütend kralle ich mir erneut den Block.

Vielleicht wars wieder der Einbrecher.

Blitzschnell zerknüllt mein Onkel das Blatt. „Welcher Einbrecher?“, will Lucien wissen, der die Worte wohl noch aufschnappen konnte, bevor sich die Nachricht „von selbst“ zerstört hat. Ich halte ihm meine bandagierte Hand hin. Meine Cousinen wimmern aufgebracht.

„Da war kein Einbrecher. Das hat sie uns nur erzählt, damit sie ihren Wutausbruch vertuschen konnte. Die Verletzungen hat sie sich selbst zugefügt“, erklärt Onkel Tim. Ich schüttle den Kopf und schreibe:

Wieso glaubst du mir nicht?

Seine Antwort kommt prompt: „Weil du eine Verrückte bist, die nach dem Unfall ihrer Eltern durchgedreht ist.“ Wow, das hat gesessen.

Ich hätte so richtig Lust, ihm einen meiner Wutausbrüche hautnah zu demonstrieren, entscheide mich aber dagegen. Das wäre Energieverschwendung. Stattdessen verschwinde ich in mein Zimmer. Was für ein Haufen Schisser.

Fuchsteufelswild schlage ich die Tür hinter mir zu. Der Strom scheint hier oben auch ausgefallen zu sein. Egal wie wild ich auf den Lichtschalter einschlage, es will einfach nicht hell werden. Na toll.

Hinter mir ertönt ein Knurren, das mich zusammenzucken lässt. Okay, was um alles in der Welt könnte hier drin sein und knurren. Hat Onkel Tim etwa einen Hund? Unwahrscheinlich. Das wäre mir nicht entgangen.

Ich will schon nach der Türklinke greifen und abhauen, da wird mir von hinten der Mund zugehalten. Mein Herz bleibt fast stehen, doch ich schaffe es noch, dem Angreifer meinen Ellbogen in die Seite zu rammen. Der Einbrecher lässt kurz von mir ab. Ich nutze die gewonnene Freiheit, um zur Tür zu gelangen. Mit übermenschlicher Kraft unterdrücke ich einen Schrei, nachdem ich erneut von hinten gepackt und quer über den Boden geschleift werde.

Das Fenster ist offen, er will mich anscheinend da rauszerren. Der ist doch total übergeschnappt. Als er sich, im Licht des Mondes klar erkennbar, über mich lehnt, trete ich ihm den Fuß in den Magen, was ihn ein wütendes Brüllen ausstoßen lässt.

Sein Schlag trifft mich hart ins Gesicht. Ich habe es nicht kommen sehen, dementsprechend benommen bin ich auch. Ich atme tief durch, um nicht das Bewusstsein zu verlieren und greife nach einer der Holzdielen, die hier überall rumliegen. Der Mond beleuchtet den Körper des Kerls schemenhaft. Mit letzter Kraft ziele ich direkt auf seinen Kopf, nachdem er sich zu mir runterbeugt. Ein dumpfer Laut, gefolgt von einem tiefen Stöhnen hallt durch das Zimmer.

Im nächsten Augenblick wird die Tür aufgestoßen und jemand poltert herein. „Hope?“ Es ist Lucien. Grelles Licht blendet mich. Toll, wieso funktioniert das auf einmal wieder, ist einer meiner letzten, klaren Gedanken, bevor ich irgendwie benommen werde.

Hope!“ Mein Atem geht stoßweise. Ich spüre, wie ich angehoben werde und über die Treppe schwebe.

„Sie braucht einen Arzt.“ Alles dreht sich. Ich kann kaum meinen Kopf halten, also lege ich ihn auf die Brust von Lucien.

„Was zum …?“ Mein Onkel ist wohl wenig begeistert über meinen Zustand. „Was hat sie nun schon wieder angestellt, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen? Das Kind treibt mich noch in den Wahnsinn. Am besten man sperrt sie wieder in eine Gummizelle.“ Wie überaus nett. Danke, dass du mich schon wieder als Irre hinstellst. Was bist du denn für ein Onkel?

Ich stöhne, weil meine Hand schmerzvoll pocht. Die Autofahrt bekomm ich bloß bruchstückhaft mit. Ausschließlich der Nähe zu Lucien, in dessen Nacken mein Kopf ruht, bin ich mir nur allzu bewusst.

Der Kälteschock vor dem Haus des Arztes reißt mich aus meinem Schlummern. Haben die mir etwa keine Jacke angezogen?

„Was ist denn mit deiner Nichte passiert, Tim?“, höre ich den Doktor rufen.

„Sie hat sich selbst verletzt“, stößt mein Onkel ärgerlich aus. Ja genau, ich hab mir selbst eine verpasst.

„Fynn, leg sie ins Behandlungszimmer.“ Na toll. Ich werde in die Arme seines Schülers übergeben. Eigentlich wollte ich wütend knurren, wie mein Angreifer, aber mehr als ein Stöhnen ist nicht dabei herausgekommen.

Unter mir spüre ich ein Bett. „Hope, kannst du die Augen aufmachen?“ Ich versuchs. Sie wollen einfach nicht offenbleiben, daher verschwindet Fynn die ganze Zeit wieder. Ich spüre, dass mein Kopf am Kinn zur Seite gedreht wird. Energisch stoße ich seine Hand weg – zumindest glaube ich, das zu tun.

„Schon gut. Beruhige dich.“ Er spricht mit mir, als wäre ich eine Zwangsjackenträgerin. Das macht mich so wütend, dass ich die Augen aufreiße und ihn am Kragen packe. Dabei hinterlasse ich rote Spuren auf seiner Kleidung. Verblüfft erkenne ich, dass in meiner Hand zahllose Holzsplitter stecken. Abrupt lasse ich von ihm ab. Immer noch benommen versuche ich, mich aufzurichten.

„Ganz langsam, Hope. Du bist verängstigt und solltest dich beruhigen.“ Fuchsteufelswild kralle ich mir den Kugelschreiber aus seinem weißen Mantel und schreibe auf die Papierauflage des Behandlungsbettes:

Hör auf, mit mir zu sprechen, als wär ich verrückt. Ich wurde angegriffen.

Fynn liest es und sagt: „Natürlich. Komm, lass mich dir helfen.“ Er glaubt mir kein Wort. Seine Hand will nach meiner greifen, aber ich stoße ihn weg und schreibe:

Hör auf damit.

„Ich will dir nur helfen, Hope.“ Kopfschüttelnd kritzle ich.

Nein, willst du nicht.

„Hope, bitte lass mich deine Hand jetzt verarzten.“ Ich nicke und höre auf, mich dagegen zu wehren. Ich muss mich schön langsam damit abfinden, dass mich hier alle für geistesgestört halten.

Ich schnaube, als er den ersten Splitter rauszieht. Toll. „Ich werde ganz vorsichtig sein.“ Ja, das nützt mir auch nichts. Meine Hand zuckt schon, bevor er den nächsten herauszieht, aber ich beiße die Zähne zusammen.

Nach einer gefühlten Stunde voller Qualen ist er dazu übergegangen, meine Schläfe zu kühlen. Dabei weicht er meinem Blick ständig aus. Auch er hat sich verändert.

Ich bin müde, enttäuscht und vielleicht grad etwas emotional, daher schafft es eine Träne, sich aus meinem Augenwinkel zu lösen.

Fynn hat es natürlich gesehen und kommentiert es mit den Worten: „Du solltest deinen Kummer jemandem anvertrauen. Der Pfarrer hört dir sicher zu. Er ist ein netter Mensch.“ Gefühlte Minuten ringe ich damit, das vorherrschende Verlangen zu unterdrücken, ihm eine reinzuhauen. Ich dachte, er schlägt sich selbst vor. War klar, dass er kein Interesse an einer Bekloppten hat. Verletzt stecke ich ihm den Kugelschreiber zurück in seine Tasche und rutsche vom Behandlungsbett.

„Hope, warte.“ Worauf denn, dass du mir Beruhigungsmittel spritzt und mich Frankenstein zur weiteren Erforschung übergibst? Genervt schlage ich die Türe hinter mir zu. Mein Onkel und Lucien warten im Nebenraum.

„Du bist ja schnell wieder auf den Beinen. Ich kann mir vorstellen, dass es auf Dauer anstrengend ist, dieses Theater aufrechtzuhalten“, spottet mein Onkel. „Ach übrigens, die Arztrechnungen bezahlst ab jetzt du“, ergänzt er grinsend. Ohne Worte – echt.

Die gesamte Autofahrt spricht mein Onkel kein einziges Wort. Zu Hause angekommen lassen sie mich einfach im Flur stehen und gehen schnurstracks in ihre Zimmer.

Hey, ihr seid doch echt gemein. Ich will nicht allein in mein Zimmer rauf. Was, wenn er zurückkommt? Erschöpft sinke ich an der Garderobe entlang und kralle meine Finger in meine Haare. Etwas Schnurrendes windet sich um meine Beine. Wenigstens ein Familienmitglied, das mir glaubt.

Als die Allergie einsetzt, gehe ich rauf in den ersten Stock. Alle schlafen schon, nachdem ich aus dem Badezimmer trete. Um nichts in der Welt gehe ich da wieder hoch. Ich beschließe, heute Nacht im Wohnzimmer zu pennen. Da ist es wenigstens schön warm.

Ich will kein Licht machen, damit sich mein Onkel nicht noch mehr aufregt, wenn er mich hier unten erwischen sollte, also wärme ich mich ein bisschen am Tischherd und trete an die Couch heran. Vollkommen fertig lasse ich mich darauf fallen und vernehme ein „Uff“ unter mir. Da liegt jemand. Wie von der Tarantel gestochen hüpfe ich auf und falle vor Schreck rückwärts über den Couchtisch, was meinen Körper hart auf den Boden aufschlagen lässt. Grelles Licht blendet im nächsten Moment meine Augen.

Als ich Lucien in Boxershorts über mir erkennen kann, frage ich mich, wie viele Beinahe-Herzinfarkte ein Organismus an einem Tag verkraftet.

„Hope, hast du dir wehgetan?“ Ich schüttle den Kopf, setze mich auf und raufe mir die Haare.

Ich zeige mit einem irritierten Gesichtsausdruck auf die Couch, daraufhin erklärt er: „Es gibt nicht genug Zimmer. Ich schlafe hier unten auf der Couch.“ Wunderbar.

„Wolltest du hier unten schlafen?“ Ich hebe beide Hände abweisend hoch. Das soll heißen, dass ich mir was anderes suche, da ja hier offensichtlich schon besetzt ist.

„Hast du Angst da oben?“ Das sagt er so, als würde er mit einer geistig Zurückgebliebenen sprechen. Das hab ich echt nicht nötig. Wütend verlasse ich den Raum.

Die Badewanne ist als Schlafquartier zwar abartig, aber keine zehn Pferde bringen mich heute Nacht in mein Zimmer.


Wer braucht schon Zauberworte?

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