Читать книгу Lass die Sterne nach dir greifen - Marie Lu Pera - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеDer inbrünstig, qualvolle Laut einer Frau reißt mich so schlagartig aus meiner Ohnmacht, dass ich zusammenzucke.
Im nächsten Augenblick werde ich in die Arme eines Mannes übergeben, der mich so fest an sich drückt, dass mir die Luft wegbleibt. Daraufhin lässt er sich mit mir so fest auf seine Knie fallen, dass es meinen gesamten Körper erschüttert.
„Ich habe jeden Tag für diesen Moment gebetet“, haucht er mir ins Ohr.
Plötzlich brüllt er so laut, dass ich schreie und mich strampelnd aus seinem Griff befreie, um wankend Abstand zu gewinnen.
Eine Frau in den feinsten Kleidern, die ich je gesehen habe, läuft auf den Mann zu und kniet neben ihm nieder. Dabei weint sie sich die Seele aus dem Leib.
Die sehen aus, wie Menschen, aber ihre Haut ist so blass, dass sie fast durchsichtig wirken. Der Mann hat einen schwarzen Vollbart und gütige, graue Augen, während die Frau wunderschöne, in hunderte, feiner Zöpfe geflochtene Haare und ein makelloses Gesicht hat, als wäre sie ein Porzellanengel.
Neben ihnen steht der Quadratschädel, der mich am Raumschiffhafen aufgegabelt hat. Er ist groß, ziemlich kräftig und hat eine Angriffslust in den Augen, die seinesgleichen sucht.
„Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“, sind mal die drängendsten Fragen, die mir auf der Seele liegen.
Sie senden sich irritierte Blicke zu. Der Mann mit den gütigen Augen erhebt sich und zieht die Frau mit sich, bevor er mir mit einer Gegenfrage antwortet: „Erkennst du uns denn nicht, Kaja?“ Kaja? Okay, klassischer Fall von Verwechslung.
„Mein Name ist Texas“, erwidere ich, während ich mich fester an die Wand hinter mir drücke.
Die Frau bricht erneut in bittere Tränen aus und wirft sich ihrem Mann – zumindest denke ich, dass sie verheiratet sind – an den Hals. „Sie erkennt uns nicht. Wieso erkennt sie uns denn nicht?“, schluchzt sie.
„Dein Name ist Kaja“, erklärt der Quadratschädel. „Du wurdest als Fünfzehnjährige von uns unbekannten Tätern entführt. Dies sind deine Eltern.“ Er zeigt auf die sich erhebenden, bleichen Gestalten, die mich konzentriert mustern.
Ich schüttle energisch den Kopf. „Nein. Ich bin Texas von der Erde und wurde gerade von dort hierher entführt“, musste einfach mal gesagt werden.
„Die Queroxianer haben dich dort gefunden und nach Hause gebracht“, korrigiert mich der Quadratschädel. Tja, die Story hat vorhin schon keinen Sinn ergeben.
„Mein Zuhause ist die Erde“, stelle ich fest.
„Die Erde. Heißt so der Planet, wo du die ganze Zeit über warst?“, will die Frau, die mir als meine Mutter vorgestellt wurde, wissen.
„Ja“, antworte ich. „Aber ich bin dort geboren. Sie verwechseln mich mit jemandem.“
Ja gut, ich hab keine Erinnerungen an meine leiblichen Eltern und an das, was vor meinem Leben auf Johns Farm passiert ist, aber ich bin doch kein Alien. Ich meine, Hallooooo?
„Ich bin ein Mensch“, stelle ich klar.
Außerdem ist das sicher nur ein Wahnsinns-Zufall, dass das Mädchen auf dem Bildschirm so aussieht, wie ich. Hoffentlich. Eigenartig ist das schon.
„Du bist die Byzantinische Kronprinzessin. Eine von Zwillingstöchtern, die entzweit wurden. Daran besteht kein Zweifel“, knallt mir der Quadratschädel vor den Latz.
Ich lache belustigt auf. „Okay, selten so gelacht. Spaß beiseite, wo ist hier der Ausgang?“
„Hol den Arzt, schnell“, befiehlt ihm der mit dem Vollbart. Das Wort „Experimente“ schießt mir sofort durch den Kopf.
„Hiergeblieben, Quadratschädel“, fauche ich den Typen an, der gerade den Raum verlassen wollte. „Ich brauch keinen Arzt, ich brauch ein Raumschiff mit Nonstop-Ticket zurück auf die Erde – meinem Zuhause. Tut mir leid, was mit ihrer Tochter passiert ist, aber sie haben hier absolut die Falsche erwischt.“
„Dies ist dein Zuhause. Du bist zu uns zurückgekehrt, Tochter“, erklärt der Mann, der sich für meinen Vater hält, und stellt sich mir mit ausgestreckten Händen entgegen.
Ich will gerade anfangen, zu protestieren, da geht eine Schiebetür auf und im Türrahmen stehe – ich. Also jemand, der genauso aussieht wie ich, was mich grad etwas überfordert, um es gelinde auszudrücken.
Naja, genaugenommen kann ich mich nicht erinnern, jemals so böse gekuckt zu haben. Ich hab auch keine langen Haare – meine sind ziemlich kurz – und sowieso ist die Frau viel hübscher wie ich, aber die könnte definitiv als meine Doppelgängerin durchgehen.
Die Szene will beim besten Willen keinen Sinn ergeben, so sehr ich mich anstrenge.
„Okay, was läuft hier?“, ist mein jämmerlicher Versuch, diese Situation zu hinterfragen.
„Das ist deine Zwillingsschwester Eleonike“, stellt mich der Quadratschädel vor.
Wenn wir uns nicht so ähnlich sehen würden, hätt ich jetzt ein vollkommen überzeichnetes „Im Traum“ ausgestoßen, aber scheinbar ist das hier die Realität.
Meine „Zwillingsschwester“ steht einfach nur da und mustert mich mit starrem Blick, ohne die kleinste Emotion zu zeigen.
Ich schüttle energisch den Kopf. „Bitte sagt mir, dass ich hier in einer dieser kranken Reality-Shows stecke“, hauche ich und suche nach den versteckten Kameras. Der Raum ist total grau gestrichen und eher karg möbliert. An die raumhohe Fensterscheibe prasseln dicke Regentropfen.
„Das ist deine leibliche Schwester“, widerspricht der Quadratschädel. Aber wie ist das möglich? Auf jeden Fall ist es total beängstigend, sich selbst zu begegnen.
„Ich … ich erinnere mich nicht an sie. An das hier auch nicht. Ich war nie zuvor hier. Ich … bin Texas, von der Erde“, wiederhole ich wie ein Mantra, bevor meine Knie schwabblig werden, ich an der Wand herunterrutsche und meine Fäuste in meine Haare kralle.
„Man hat mich von der Erde entführt. Da war ein Gewitter … und ein Roboter … John. Ich …“ Die Bilder dieser Horrornacht poppen wieder in meinem Kopf auf und diesmal schaffen es die Tränen wieder, meine Augen zu fluten.
Mir ist total übel und schwindlig. Sogar im Sitzen hab ich Schlagseite und knalle auf den Boden. „Ich bin die Erde von Texas …“, hauche ich, bevor mir schwarz vor Augen wird.
„John?“, flüstere ich mit rauer Stimme, als ich aufwache.
„Keine Angst, du bist jetzt in Sicherheit“, flüstert eine Frau in mein Ohr und streicht mir über die Wange, was mich hochfahren lässt. Ich stöhne und greife mir an die pochende Birne.
„Nicht so schnell, Prinzessin“, rät mir ein mir unbekannter Mann im grünen Mantel, der mich stark an den alten, weißhaarigen Opa von Jurassic Park erinnert. Zusammen mit dieser Michael-Jackson-Haut sieht er aber wie die Albino-Version des Opas aus.
Ich liege auf einer blinkenden Plastikplatte. Hey, hat er mich grad Prinzessin genannt? War das als Verarsche gedacht?
„Sie haben doch keine Experimente mit mir gemacht?“, verlange ich mich überall abtastend, ob ich Operationsnarben davongetragen habe, was auf den ersten Blick nicht so aussieht und sich auch nicht so anfühlt.
Er grinst schief. „Du hast die Weltraumkrankheit und dein Gedächtnis verloren. Experimente mache ich nur mit einwandfreien Probanden.“ Hat er mich grad verarscht? Jemand mit Humor, ein Lichtblick.
Ich lächle. Er ist mir sympathisch. „Weltraumkrankheit?“, hinterfrage ich. „Ist das schlimm?“
„Nein. Sie tritt auf, wenn man sich eonenlang nicht im Orbit aufgehalten hat.
Symptome sind Schwindelanfälle und Übelkeit, aber nach ein paar Wochen sollte sich dein Körper erholt haben. Dein Gedächtnis macht mir mehr Kopfzerbrechen. Ich weiß nicht, wann du dich wieder zurückerinnern wirst.“ Ich nicke.
Scheinbar ist an der Sache doch mehr dran, als ich dachte. Ich meine, die junge Frau, die meine Zwillingsschwester sein soll, ist doch Beweis genug. Die Ähnlichkeit kann man nicht abstreiten und meine „Eltern“ scheinen ja auch fest davon überzeugt zu sein, dass ich ihre Tochter bin. Wenn einen jemand in- und auswendig kennt, dann doch seine leiblichen Eltern.
Das Video auf dem Bildschirm am Weltraumflughafen ist wahrscheinlich so eine Art, von ihnen initiierte, Vermisstenwerbeeinschaltung, wie die Bilder von den vermissten Kindern auf den Milchpackungen bei uns auf der Erde.
Heißt das, Unbekannte haben mich tatsächlich mit fünfzehn entführt? Wer entführt denn bitte jemanden und setzt ihn auf der Erde aus und wieso hab ich absolut keine Erinnerungen an mein früheres Leben? Vielleicht haben die mir was über die Rübe gezogen.
Okay, also, mein Name lautet anscheinend Kaja. Mal sehen, was ich noch so alles vergessen habe.
„Wie alt bin ich?“, verlange ich.
„Achtzehn“, informiert mich der Arzt. Achtzehn? Verdammt, ich dachte, ich wär sechzehn. Toll, gleich mal zwei Jahre älter geworden – über Nacht. Prima.
Wir haben mich damals, kurz nachdem mich John aufgelesen hat, gemeinsam auf elf geschätzt. Da war ich wohl schon dreizehn. Das ist fünf Jahre her.
Sieht so aus, als war John seiner Entdeckung näher, als er geglaubt hat. Oder wusste er es von Anfang an?
Bin ich womöglich mit einem Raumschiff abgestürzt, das bei uns in der Scheune gebunkert ist – wie bei Superman? Das wär der ideale Platz, um sowas zu verstecken, denn da drin herrscht ein Chaos, das seinesgleichen sucht. John. Er fehlt mir so. Wenn er das hier sehen könnte.
„Ich war also fünf Jahre weg“, stelle ich fest und schlucke die Tränen runter. Warte, hier stimmt was nicht. Die sagten doch, man hätte mich mit fünfzehn entführt. Wenn ich jetzt achtzehn bin, war ich ja nur drei Jahre weg. Ich war aber fünf Jahre bei John.
„Jahre? Ist das die Zeitrechnung, die dort herrscht? Nun, hier sind drei Eonen vergangen“, klärt mich der Arzt auf. Eonen.
Hm, dann vergeht im Weltall die Zeit langsamer als auf der Erde? Oder sie zählen einfach anders. Ich hätte mir definitiv mehr Bücher von Hawking reinziehen sollen. Da steht sowas sicher drin.
Jetzt bin ich auf jeden Fall laut ihrer Zeitrechnung achtzehn. Ich sollte erwachsen werden. Das ist man doch mit achtzehn, oder? Mann, das zieht mich grad echt runter.
„Die Schäden an deiner Haut sind bedauerlicherweise von Dauer“, fährt der Arzt fort und lässt mich hellhörig werden. Die Frau, die wohl tatsächlich meine leibliche Mutter ist, schlägt sich entsetzt die Hand vor den Mund.
„Welche Schäden denn?“, will ich wissen und mustere meine Haut, die eigentlich wieder total okay aussieht. Die haben wohl meine Schürfwunden mit so einer Alien-Technologie geheilt und ich bin sogar wieder sauber.
„Sie ist durch UV-Strahlung, derer du ungeschützt ausgesetzt warst, dunkel geworden“, informiert er mich.
„Und?“, hake ich nach. „Das kommt von der Farmarbeit. Ist doch nur eine leichte Bräune. Ich hatte immer Sonnencreme drauf.“ Meine Mutter lässt einen entsetzten Laut los, den ich nicht deuten kann.
Der Arzt räuspert sich. „Aus rein medizinischer Betrachtung, ist mit deiner Haut alles in Ordnung. Aber aus ästhetisch-gesellschaftlicher Sichtweise, wirst du wohl herausstechen.“ Ich weiß, was er meint. Ihre Haut ist beinahe durchsichtig und ich wirke dagegen wie ein Afroamerikaner. Naja, vielleicht löse ich damit einen neuen Trend aus.
Ich zucke mit den Schultern. „Sie können mir ja eine Glatze schneiden, Doc. Dann kuckt keiner mehr auf meine Haut“, schlage augenzwinkernd vor.
Meine „Mum“ schnappt entsetzt nach Luft. Der Doc schmunzelt belustigt. Im nächsten Moment wankt mein Oberkörper bedrohlich, weil mir plötzlich wieder schwindlig wird.
„Das geht bald vorüber. Leg dich hin“, höre ich den Doc von irgendwoher.
Ich schließe die Augen, damit es besser wird, was auch ganz gut klappt.
„Jetzt wird alles gut, mein Liebling“, flüstert die Frau mit so einer mütterlichen Stimme.
Naja, daran könnte ich mich glatt gewöhnen. Eltern zu haben, meine ich. Die Alien-Geschichte ist mir aber immer noch suspekt.
Ich bin wohl mitten im Grübeln eingeschlafen, denn ein Flüstern weckt mich, aber ich halte die Augen noch geschlossen.
„Wie geht es ihr?“ Das ist die Stimme meines „Dads“.
„Sie schläft“, antwortet meine Mum. Krass, dass ich jetzt richtige Eltern habe. Ich weiß gar nicht, wie es ist, überhaupt welche zu haben – und dann noch König und Königin. Irgendwie ein komisches Gefühl, aber auch total beruhigend.
„Unus?“, haucht sie.
„Ja, Kalla?“
„Sie ist so … verändert.“
„Ich habe in den Archiven nachgesehen. Die Erde ist ein Klasse-G-Planet am äußersten Rand der Galaxie, der stark unterentwickelt ist“, klärt sie mein Dad auf. Unterentwickelt? Wir haben immerhin schon bemannte Raumfahrt.
Meine Mutter lässt einen Seufzer los und heult gleich wieder. „Kalla, hör auf zu weinen. Sie wird schnell lernen und alles aufholen.“
„Sie war so lange dort. Sieh dir ihre Haut an, ihren Körper, ihre Hände.“ Hey, was stimmt denn nicht mit meinen Händen?
„Sie musste harte, körperliche Arbeit verrichten“, sagt sie so entsetzt, als hätte sie gerade festgestellt, dass ich dort jahrelang gequält wurde. Naja, Arbeit schadet ja nicht. Immerhin weiß ich, wie man was anbaut, das man essen kann, was ja ganz praktisch ist.
„Sie ist am Leben. Das ist alles, was zählt“, flüstert mein Dad. Meine Rede, Mann.
„Du hast recht, Gemahl“, kuscht sie. „Ich hoffe, sie erinnert sich bald an uns.“
„Lass ihr Zeit“, haucht er, bevor dieses Geräusch einer sich schließenden Schiebetür ertönt.
Ich beschließe aufzustehen, um mir die Füße zu vertreten. Erst jetzt mustere ich meine Umgebung genauer.
Der Raum ist erschreckend steril und sieht ziemlich nach Operationssaal aus. An der Wand befinden sich blinkende Konsolen und über dem „Seziertisch“ auf dem ich bis jetzt noch lag, gibt es eine ovale Platte, von der ich keinen blassen Schimmer habe, wozu die gut sein soll.
Die ersten Probleme mit dieser abgefahrenen Alien-Technologie tun sich schon bei der Schiebetür auf, die einfach nicht aufgehen will.
Ich versuche es sogar mit „Computer! Tür öffnen“, aber es tut sich nichts. Bei Star Trek hat das doch auch geklappt.
Hier gibt’s auch keinen Türknopf und scheinbar auch kein Sensording, denn ich bin gefühlte hundertmal vor der Tür vor und zurückgelaufen – ohne Erfolg.
Wie blöd kann man sich eigentlich anstellen? Wütend kralle ich mich in den Spalt und will sie aufzwängen, was auch funktioniert. Naja, zumindest ein Erfolgserlebnis.
„Die Tür schließt manuell“, von einer Computerstimme lässt mich zusammenzucken.
„Danke Manuell“, spotte ich grinsend und wanke den ebenso sterilen, grauen Flur entlang.
Alles ist so spiegelglatt, dass man sich überall erkennen kann. Erschreckenderweise muss ich feststellen, dass meine Haare afromäßig in allen Richtungen abstehen, als hätt ich eine Dauerwelle, für die man den Friseur verklagen sollte – ohne Scheiß.
Das muss wohl die Elektrizität des Blitzes gewesen sein. Ich bügle sie mit den Händen glatt, aber sie sind widerspenstig und stellen sich immer wieder auf.
Wow, ich sehe aus wie Quasimodo auf Bad-Hair-Day. Kein Wunder, dass mich meine drei Entführer ausgelacht haben. Sowas Hässliches wie mich haben sie wahrscheinlich noch nie zuvor vor die Bugwand bekommen.
Glücklicherweise haben sie mir den Hello Kitty Pyjama ausgezogen. Stattdessen hab ich ein moosgrünes, seidiges Kleid an, das ziemlich schön aussieht.
Okay, ich brauch ein Badezimmer, um die Mähne zu bändigen, sonst wars das mit meinem Prinzessinnen-Image – so ästhetisch-gesellschaftlich betrachtet.
Bedauerlicherweise krieg ich keine einzige Tür auf, die vom Flur abgeht. Eine große, raumhohe Fensterfläche gibt den Blick auf draußen frei und ich erkenne, dass es noch immer in Strömen regnet, was noch untertrieben ist. Es kübelt aus allen Wolken.
Wir scheinen uns auf einer Art Hightech-Palast auf Stelzen zu befinden, der vollständig von stürmischem Meer umgeben zu sein scheint.
Die Wellen schlagen meterhoch aus dem Wasser und treffen sogar auf das Gebäude. Also das nenn ich mal mieses Wetter. Wenn es hier öfter so ist, versteh ich, dass alle so bleich sind. Sonne seh ich nämlich auch keine. Der gesamte Himmel ist wolkenverhangen und Nebelschwaden ziehen wie dicke, weiße Tücher vorbei.
Ich bahne mir einen Weg durch die Gänge und gelange in eine riesige Halle, in der ein Zimmerbrunnen steht, der mit wilden lianenartigen Blumengewächsen, die sich in seinem Zentrum an einem Seil bis an die Decke ziehen, verwachsen ist.
Nach einer kurzen Kontrolle, ob da keine Piranhas oder irgendetwas anderes Giftiges drin wohnt, setze ich mich an den Brunnenrand, lehne mich vor und tauche meine Birne einfach ein. Ich schüttle die tropfnasse Mähne so gut es geht ab und stehe auf.
In dem Moment packt mich erneut dieser Schwindel und ich versuche, mich noch irgendwo festzuhalten. Leider verfehle ich den Brunnenrand, da mein Blick soeben verschwimmt und knalle so richtig schön in das eiskalte Wasser.
Schnell tauche ich auf und huste mir die Seele aus dem Leib, weil ich vor Schreck ziemlich viel Wasser geschluckt habe.
Der Gedanke, dass das ja mal wieder nur ich schaffen kann, sich beinahe in einem Zimmerbrunnen zu ertränken, erheitert mich ungemein. Vor allem, da der Boden so glitschig ist, dass ich andauernd wieder ins Wasser falle, das mir nur bis zur die Hüfte reicht. Ich schaffs einfach nicht, aus eigener Kraft stehenzubleiben.
„Kaja“, höre ich meinen Dad aufgebracht rufen. Im nächsten Moment hechtet jemand über den Brunnenrand und taucht mit den Beinen ins Wasser ein.
Alarmstufe Rot. Das ist so ein Typ Marke Herzensbrecher mit wundervollen, grünen Augen und langen, blonden Haaren.
Zumindest war es das, was ich in der kurzen Zeit erkennen konnte, bevor es ihm die Beine weggerissen hat und er ebenfalls mit dem Kopf untergetaucht ist.
Als er die Oberfläche durchbricht, versuche ich, mein Grinsen mit zusammengepressten Lippen zu verbergen, was mir eigentlich überhaupt nicht gelingt. Obwohl ich alles tue, um es zu unterdrücken, muss ich herzhaft lachen.
Im ersten Moment ist er total verblüfft, dass ich ihn auslache, aber da schwimme ich bereits zum Brunnenrand, stemme mich hoch und wuchte mich darüber.
Die Arme meines Vaters empfangen mich nicht. Ganz im Gegenteil, er sieht mir munter dabei zu, wie es mir beinahe noch so richtig schön am spiegelglatten Boden die Beine ausreißt. Im letzten Moment kann ich mich abfangen.
Grinsend nehme ich neben meinem Vater Aufstellung, wo ich munter vor mich hin tropfe. Er bringt sogar etwas Abstand zwischen uns, damit er nicht nass wird. Mein Dad hat wohl Angst um seinen piekfeinen Anzug.
Der süße Typ ist auch bereits draußen. Ein paar Männer stehen neben ihm und glotzen mich verblüfft an. Allesamt blonde Götter in unterschiedlichen Altersstufen. Ich scheine den Weltraum schön langsam liebzugewinnen, muss ich sagen.
„Wie ich bereits sagte, meine Tochter hat ihr vollständiges Gedächtnis verloren“, wendet mein Dad räuspernd ein, „also erlaubt Ihr, dass ich sie erneut vorstelle.“ Aha, wir kennen uns also.
„Meine Tochter, Kronprinzessin Kaja – die Hoheiten der Toxianer“, stellt mich mein Vater vor, der mir von Weitem seinen Mantel über die Schultern wirft, weil ich schon zähneklappernd vor mich hin bibbere. Scheiße, war das kalt.
Er zeigt auf den ältesten Mann unter ihnen und sagt: „Das ist der Toxianische Imperator.“ Die Hand meines Vaters wandert weiter zu dem tropfnassen Leckerbissen, der mich interessiert mustert. „Und sein ältester Sohn Maxim.“ Schmacht. Sein Sohn ist echt zum Anbeißen. Dass sein Hemd beinahe durchsichtig geworden ist und stahlharte Muskeln entblößt, ist ein echt angenehmer Nebeneffekt von diesen Wet T-Shirt Contests. Ohne Worte, echt. Würde er nicht so von sich eingenommen lächeln, wär er echt süß.
„Und so kehrt die verschollene Tochter zurück. Du musst der glücklichste Mann im Universum sein, Unus“, schwärmt der, den er als den Toxianischen Imperator vorgestellt hat, der mir gerade gefährlich nahekommt.
Instinktiv weiche ich zurück, als er in meinen Wohlfühlbereich eintaucht. Sein Kopf hat sich dabei gefährlich dem meinen genähert. Wollte er mir etwa Küsschen auf die Wange verpassen? So gut kennen wir uns auch wieder nicht.
Mein Vater räuspert sich erneut. „Verzeiht, sie ist mit unseren Gebräuchen nicht mehr vertraut. Zu lange war sie verschollen“, beschwichtigt er.
Dem König, der sich nachdenklich am Kinn kratzt, ist mein Verhalten gar nicht geheuer. Neugierig fragt er: „Was hattest du im Zierbrunnen vor, Prinzessin?“
„Ähm. Baden?“, rede ich mich raus, was ihn zu erheitern scheint.
„Weiß man schon, wer dieses Verbrechen begangen hat?“, will er nun wissen.
„Geh Kind, du frierst“, versucht mein Dad mich so schnell wie möglich loszuwerden. Ich glaube, er schämt sich ein bisschen für mich.
Ich nicke, richte meinen Blick auf den sexy Typen und sage: „Danke für die Rettungsaktion“, und lasse sie einfach stehen, aber nicht ohne ihn vorher anzulächeln.
Erst jetzt bemerke ich die dunklen Flecken an seinem Hals, die entfernt nach Leopardenmuster aussehen. Er scheint wohl einer anderen Rasse anzugehören.
Toxianer. Hm. Die Unterschiede zwischen uns muss ich gleich recherchieren – für rein wissenschaftliche Zwecke versteht sich. Obs hier sowas wie Internet gibt?
Beim Abendessen herrscht eisiges Schweigen. Meine Schwester ignoriert mich vollkommen. Mum sieht immer wieder zu Dad rüber, der echt zum Fürchten aussieht.
„Was ist denn los?“, unterbreche ich diese gruslige Stimmung und wende mich meinem Vater zu. „Du siehst aus, als würdest du gleich über den Tisch springen und mich würgen.“ Meine Eltern sehen mich verblüfft an.
„Hat dir das jemand angetan?“, will mein Vater aufgebracht wissen.
„Nein, war nur so daher gesagt“, stelle ich fest.
„Es ist nichts“, zischt er durch zusammengebissene Zähne.
„Ja klar“, motze ich. „Ich hab was falsch gemacht, oder?“ Verdammt, vielleicht hab ich den Toxianischen König irgendwie beleidigt, weil ich vor ihm zurückgewichen bin. Ich bin so ein Idiot. Das war ja total unhöflich.
Nach ein paar Sekunden knallt mein Vater die Faust auf den Tisch, sodass alle vor Schreck zusammenzucken, und wirft mir, mit auf meine Mum gerichteten Blick, absolut entsetzt vor: „Sie kann schwimmen.“
Meine Mutter zieht scharf die Luft ein. Okay, ich hab die Message irgendwie nicht verstanden.
„Was ist denn daran bitte schlimm? Das kann doch jeder“, verteidige ich mich.
Mein Vater schnaubt verächtlich und muss sich im Zaum halten, das mit dem Würgen nicht doch wahrzumachen – seiner roten Birne zufolge.
Ich sehe zu meiner Schwester rüber, die mich erneut nur ausdruckslos anstarrt. Irgendwie versteh ich grad nur Bahnhof.
Meine Mutter greift nach der Hand meines Vaters und versucht ihn mit den Worten: „Deine Emotionen, Gemahl“, zu beruhigen.
Mein Vater atmet tief durch und sagt: „Sie war im Brunnen baden.“ Der Kopf meiner Mutter schießt zu mir. „Und sie trägt keine Schuhe.“ Ich ziehe meine nackten Flossen unter dem Tisch zurück, um sie zu verstecken. Wusste nicht, dass das hier so ein gesellschaftlich-ästhetischer Fehltritt ist, barfuß zu laufen.
Meine Schwester sieht schadenfroh aus. Bei genauerer Betrachtung ist mir ein optischer Unterschied zwischen uns aufgefallen, der mir entgangen ist. Ihre Augen sind – und das ist total abgefahren – grau. Meine sind aber zweifärbig. Also mein linkes ist hellgrün und mein rechtes ist grau. Ich fand das immer ganz schön. Sowas hat nicht jeder. Ist wohl unser einziges Unterscheidungsmerkmal.
„Ich bin reingefallen“, verteidige ich mich schulterzuckend. „Und die Schuhe drücken. Ich lauf meistens barfuß.“
„Du hältst dich vom Wasser fern!“, herrscht mich mein Vater an. Ich sehe aus dem Fenster. Draußen tobt ein brausender Sturm und es kübelt noch aus Eimern.
„Dürfte schwer werden. Sagt mir auch mal jemand, warum Wasser böse ist? Immerhin scheint das hier ein Wasserplanet zu sein.“
„Wasser ist gefährlich, mein Liebling“, säuselt meine Mum.
Mein Dad sieht mich streng an und meint deutlich sanfter als noch zuvor: „Wir Byzantiner leben in Symbiose mit dem Wasser. Wir dringen nicht in seinen Lebensraum ein und es nicht in unseren. So war es seit jeher und so wird es auch immer sein. Es wäre nicht klug, es gegen uns aufzubringen. Darüber hinaus ist es gegen das Gesetz. Nur, da du scheinbar im Unwissen darüber warst, sehe ich von einer Bestrafung ab.“ Bestrafung?
„Moment mal“, wende ich ein. „Ihr tut ja fast so, als würde das Wasser wissen, dass ich drin baden war.“
„Das Wasser weiß es auch“, klärt mich mein Dad auf. „Es hat ein Bewusstsein. Lebt. Ich würde mich davor hüten, es zu erzürnen.“ Wow, krass. Es lebt? Mann, hoffentlich ist es nicht sauer auf mich. Bilder von Wassermonstern, die mich in die Tiefe ziehen, tauchen grad in meinem Kopfkino auf.
„Darum gehen wir auch nicht nach draußen, Liebling“, ergänzt meine Mum.
„Ich kann nicht nach draußen?“, krächze ich. Ich glaube, ich hab mein ganzes Leben draußen verbracht – zumindest den Teil, an den ich mich erinnern kann. Im Haus war ich nur zum Schlafen und um was zu kochen.
„Und wie wascht ihr euch dann?“, will ich wissen.
„Mit Trockenpuder.“ Trockenduschen? Okay, wo ist hier der Ausgang. Ich dusche für mein Leben gern. Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist.
„Ihr meint das echt ernst, oder?“, hake ich ungläubig nach.
„So ist es, Kaja“, bestätigt mein Vater deutlich milder. Das erklärt auch, warum mich meine Mum so komisch angesehen hat, als ich sie vorhin um ein Glas Wasser gebeten habe. Scheinbar nehmen wir mit diesem dickflüssigen Saft, den es hier überall gibt, die Flüssigkeit zu uns, die wir brauchen.
„Texas. Mein Name ist Texas“, korrigiere ich ihn mürrisch.
„Willst du deinen Namen nicht ablegen und deinen rechtmäßigen annehmen?“, schlägt meine Mutter vor.
„Den Namen hat mir jemand gegeben, den ich sehr gemocht habe. Ihn abzulegen wäre nicht richtig“, antworte ich.
Meine Eltern tauschen besorgte Blicke aus. Mein Vater seufzt. „Du wirst dich schon wieder an deinen Namen gewöhnen. Du mochtest ihn sehr gerne.“
Für ihn ist die Diskussion hiermit beendet, denn er wendet sich wieder seinem Essen zu, das breiartig ist und total komisch schmeckt.
„Hast du nicht zugehört, Dad?“, frage ich.
„Du nennst mich Vater oder mein König. Hast du verstanden, Kaja?“, knallt er mir hin.
„Nein, Dad“, fauche ich, springe hoch und laufe zu Tür, die wieder nicht aufgeht. Okay, ich zicke, aber ich fühl mich total in die Ecke gedrängt.
„Wir sind noch nicht fertig“, ruft er mir drohend hinterher.
Ich kralle mich brüllend an das Teil, das sich ächzend öffnet und sprinte den Gang entlang. Ich muss hier raus, ich krieg schon Lagerkoller, der mich zu einem Psycho macht.
Wo ich es auch versuche, die Fenster gehen einfach nicht auf. Erschöpft hämmere ich meinen Kopf an die Scheibe und stelle mir vor, wie ich frische, kühle Luft einatme und der Regen auf meine erhitzte Haut prasselt. Obwohl man bei so einem Wetter lieber drinbleiben sollte – die Wassermonster vor Augen – ist mein Drang rauszugehen dennoch schier unerträglich.
Aus dem Esszimmer vernehme ich das aufgebrachte Diskutieren meiner Eltern. Na toll. Da geht’s sicher um mich.
Schritte lassen mich den Kopf drehen. Meine Schwester kommt an mir vorbei, ohne ein Wort zu verlieren.
Plötzlich erkenne ich ein Raumschiff durchs Fenster, das zum Landeanflug auf die Plattform ansetzt.
Hey, Besuch. Okay, die müssen ja irgendwie hier reinkommen, also ist da irgendwo eine Luke oder Tür, die sie benutzen.
Ich laufe meiner Schwester hinterher, die gerade eine Glasschiebetür nach draußen öffnet, durch die ein Typ kommt, der sich die Kapuze vom Kopf zieht und seine Stirn an die ihre drückt. Ah, das wollte der König also machen. Scheint hier die Begrüßungszeremonie zu sein.
Der stürmische Kuss, der folgt, gehört aber sicher nicht zur königlichen Etikette. Das ist wohl ihr Freund. Er hat auch braune Haare und sieht echt gut aus – ein bisschen blass vielleicht. Grins.
Erst jetzt merke ich, dass er gar nicht nass geworden ist, dabei hat er gar keinen Schirm dabei. Hm. Vielleicht ist die Einfahrt mit Glas überdacht.
„Es stimmt also, was sie überall sagen“, lässt mich zusammenzucken. Abgelenkt von ihrer vertrauten Begrüßung, sind noch weitere Byzantinische Teenies eingetroffen, die mich ansehen, als hätten sie einen Geist gesehen. Darunter sind zwei bleiche Frauen und zwei Männer, denen fast die Augen vor lauter Glotzen rausfallen.
Eine der jungen Frauen schlägt sich die Hand vor den Mund und meint entsetzt: „Wie sie aussieht.“ Tja, nennt man Schokoladebraun, würde ihrem Teint auch mal guttun.
Das Pärchen löst sich voneinander, da erklärt meine Schwester hinterlistig lächelnd: „Natürlich stimmt es. Die Aufzeichnung ihrer Ankunft wird auf allen Screens übertragen. Selten so etwas Erbärmliches gesehen.“ Heißt das, jeder kann sich Quasimodos Mondlandung live und in Farbe im Wohnzimmer reinziehen?
„Sie ist auf dem geistigen Niveau einer Klasse-G-Rasse. Ihr braucht euch also nicht zu verbeugen, denn sie kapiert es sowieso nicht, was um sie herum vorgeht. Sie ist seltsam und wirr im Kopf.“ Sag mal, wie viele Beleidigungen kann man eigentlich in einen einzigen Satz packen?
In den Blicken unserer Besucher liegen blankes Entsetzen und Mitleid. Ich bin so vor den Kopf gestoßen, dass ich nicht mal was kontern kann.
Stattdessen frage ich: „Sind das auch meine Freunde?“
Eleonike lacht laut auf. „Nein, du hattest keine Freunde, Schwester. Wenn ich mich recht erinnere, warst du vorher schon seltsam.“ Wow – so viel zur bösen Zwillingsschwester. Muss sie jetzt alle Klischees erfüllen, oder was?
Ihr Freund meldet sich zu Wort: „Du kannst von Glück sagen, dass es sie getroffen hat und nicht dich, Eleonike. Und ich auch“. Meint er, sie hatte Glück, dass die mich entführt haben und nicht sie? Wie nett. Als Draufgabe seiner Beleidigung lässt er seinen Blick abschätzig über meinen Körper schwenken.
Bevor ich alle Murmeln in meinem Kopf wieder neu ordnen konnte, sind sie schon durch die Tür verschwunden, die sich vor meiner Nase schließt und mich wieder hier drin einsperrt. Dieses Teil lässt sich aber nicht so einfach aufziehen, wie die Innentüren. Mann, die Freiheit war zum Greifen nahe.
Erschöpft rutsche ich an der Fensterscheibe entlang und ziehe die Knie an meinen Körper. Hey, ich bin gar nicht wirr im Kopf – naja ein bisschen schon, aber das ist doch irgendwie logisch, wenn man auf einmal im Weltall landet und sogar vergessen hat, wie die Türen aufgehen.
Auf einmal lässt mich ein komisches Geräusch aufhorchen. Klingt wie Zähneknirschen, aber irgendwie angenehmer. Als ich den Kopf anhebe, kommt ein Roboter den Flur langgelaufen. Ohne Scheiß.
Wie erstarrt sehe ich ihm dabei zu, wie er ganz gemächlich an mir vorbeischreitet, während ich versuche, nicht wie eine absolute Bekloppte loszubrüllen.
„Guten Abend, Kronprinzessin“, grüßt er mich, einfach so, als wäre es das Normalste auf der ganzen Welt. Woher weiß er, wer ich bin?
Sofort erinnere ich mich an den Roboter, der mir auf der Erde begegnet ist. Gibt es vielleicht gute und böse Roboter? Die Frage ist, zu welcher Gruppe gehört dieser hier? Naja, er grüßt höflich und hat mich noch nicht angegriffen, was schon mal ein gutes Zeichen ist.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt er mich so mir nichts, dir nichts und ist sogar stehengeblieben.
Bei genauerer Betrachtung erkenne ich ein maskenhaft wirkendes Gesicht. Sein „Gehäuse“ hat die Form eines menschlichen Körpers mit der Nachbildung von Muskeln. Durch seine halbtransparente, schwarze Hülle leuchten blinkende LEDs. Das ist echt der absolute Wahnsinn und sowas von Hightech hier.
Aber irgendetwas stimmt nicht. Ja, ihm fehlt ein Auge.
„Klar“, hauche ich eingeschüchtert, da nickt er und geht weiter. Einfach so. Künstliche Intelligenz. Abgefahren.
Okay, meine Schwester hat recht. Verglichen mit ihnen bin ich auf dem geistigen Niveau eines Einzellers. Nein, einer Amöbe, die auf dem Einzeller sitzt. Das zieht mich grad voll runter.
Okay, Stopp. Schluss mit dem im Selbstmitleid Zerfließen. Ich hab eine ganze Farm allein geschmissen, weil John meistens beim Aliensuchen war, da krieg ich es doch hin, hier klarzukommen.
Es wird Zeit, in mein altes Leben zurückzukehren. Wer auch immer mich entführt hat, ich bin verdammt nochmal jetzt wieder da.
Energisch stemme ich mich hoch, wanke zweimal und mache mich auf, dem Roboter zu folgen, den ich an einer Biegung einhole.
„Ähm, Verzeihung. Wie heißt du nochmal?“, frage ich ihn. Also einen Roboter – ich werd verrückt. Hätte mir das jemand vor 24 Stunden gesagt, dass ich gleich mein erstes Gespräch mit einer künstlichen Lebensform habe, hätte ich ihn für verrückt erklärt. So wie John. Schwermut überkommt mich erneut.
Er bleibt stehen und dreht sich um, was mich dann doch ziemlich einschüchtert. Instinktiv weiche ich zurück und presse mich an die Wand.
„Man nennt mich, Sklave, Kronprinzessin“, lässt mich die Augenbrauen hochziehen. Was? Sklave? Wie abartig ist das denn? Sogar Haustiere haben Namen.
„Ist alles in Ordnung? Eure Herzfrequenz ist sehr hoch, Prinzessin.“ Woher weiß er das? Ertappt knalle ich mir die Hand an meine Pumpe.
„Verzeihung, ist mein erstes Gespräch mit einem Roboter … glaub ich“, erkläre ich nachdenklich und schlage mir die Hand vor den Mund. „Tut mir leid. War das abwertend? Ich weiß nicht, wie man das nennt, was du bist. Ignorier mich einfach.“
„Ich bevorzuge Ceflapoide, aber danke für Eure Rücksichtnahme auf meine Gefühle“, antwortet er. Hey, sollte das komisch sein? Er hat doch jetzt keine Gefühle, oder? Können die das auch schon simulieren? „Was kann ich für Euch tun, Königliche Hoheit?“, reißt mich aus meinen Gedanken.
„Hör auf, mich so zu nennen. Ich bin Kaja und du brauchst einen Namen. Wie wärs mit Jakob?“
„Wie es Euch beliebt“, sagt er doch tatsächlich.
„Ist da eine hundertjährige Queen Margret, die vor dir steht, Jakob?“
„Ich verstehe die Frage nicht“, antwortet er.
„Dann hör auf so zu reden, als wär ich eine. Du kannst mich duzen und Kaja nennen“, biete ich an.
„Wie du wünschst“, bestätigt er. Ah, viel besser. Hm, er scheint sich hier auszukennen.
„Weißt du zufällig, wo mein Zimmer ist? Hab das irgendwie vergessen“, will ich wissen.
„Nein. Ich gehöre dem Kronprinzen Maxim.“ Ah, dem heißen Typen.
Ob ich ihn fragen soll, ob er solo ist? Die Verlockung ist groß, Jakob auszuquetschen wie eine Zitrone, aber so wie Maxim aussieht, hat er bestimmt eine Freundin.
Außerdem hält er mich sicher für seltsam und wirr im Kopf – spätestens seit unserer Begegnung. Und irgendwie hatte ich den Eindruck, er wär ziemlich hochnäsig. Naja, andere Alien-Mütter haben sicher auch schöne Söhne.
„Deine Herzfrequenz ist sehr hoch, Kaja. Du solltest dich einem medizinischen Screening unterziehen.“ Verdammt, ertappt. Bei dem Gedanken an Maxim schlägt mein Herz wohl höher. Peinlicher geht’s ja nicht mehr. Das muss man sich mal vorstellen, ich quatsch mit einem Roboter und werde rot.
„Ich hab die Weltraumkrankheit“, rede ich mich raus. „Dann geh ich mal mein Zimmer suchen.“ Schnell weg hier, bevor er meine Hormonausschüttung analysiert und ein großes Blutbild macht.
„Ich habe keinen Zugriff auf den Hauptcomputer, aber du hast ihn. So kannst du deine Räumlichkeiten finden“, ergänzt Jakob.
„Oh, okay.“ Leider hab ich keinen blassen Schimmer, wo sich der Hauptcomputer befindet, geschweige denn, wie ich ihn dazu kriege, mir zu sagen, wo ich pennen kann.
„Mach ich. Machs gut, Jakob“, verabschiede ich mich.
„Auf Wiedersehen, Kaja“, sagt er. Krass. Mein erstes Gespräch mit einer nicht-humanoiden Lebensform. Echt bahnbrechend.
Irgendwie hat mir diese Begegnung Kraft gegeben. Das wär doch gelacht.
Naja, dann auf Menschenart. Ich rufe nach meinem Vater und meiner Mutter, in der Hoffnung, jemand von ihnen zeigt mir mein Zimmer. Auf diese Art und Weise husche ich durch die kargen Gänge, denen ein freundlicherer Anstrich guttun würde.
Hier wirkt alles grau und nüchtern. Ja beinahe so fahl, wie ihre Haut.
An einer Biegung vernehme ich die Stimme meines Vaters. Ich will schon nach ihm rufen, da höre ich, dass er in ein Gespräch vertieft ist.
„Ihr verzeiht das Verhalten meiner Tochter. Sie ist schwer traumatisiert und der Verlust ihres Gedächtnisses ist wohl schwerwiegender als anfangs angenommen und betrifft auch tiefergehende Verhaltensweisen.“
Hey, jetzt fang du nicht auch noch an, mich für verrückt zu erklären. Ich spähe um die Ecke und erkenne Maxim, der neben meinem und seinem Vater steht. Mein Vater spricht aber mit einem mir unbekannten Byzantiner in festlicher Robe.
„Das ist verständlich. Immerhin wurde sie verschleppt und gefangen gehalten“, antwortet dieser andere Mann. Hey, ich wurde nicht gefangen gehalten. „Wo hat man sie gefunden?“
„Kopfgeldjäger haben sie auf einem Klasse-G-Planeten aufgelesen, sie erkannt und ausgeliefert“, antwortet mein Vater. Ihr Blick spricht Bände. G ist wohl die übelste Sorte von Planeten. Warte mal. Kopfgeldjäger?
„Weiß man schon Näheres zu ihrem Verschwinden?“, hakt der Unbekannte nach.
„Wir haben ihr die Strapazen einer Befragung noch nicht zugemutet, immerhin scheint sie sich an nichts erinnern zu können, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Vorerst möchte ich, dass sie sich so wenig wie möglich aufregt.“ Die Bekloppte soll wohl mit Samthandschuhen angefasst werden.
„Es gibt Wege, das Gedächtnis zu reaktivieren“, wendet der Typ ein.
„Das hat noch Zeit. Vorerst möchte ich ihr diese schmerzhafte Prozedur ersparen.“ Vorerst? Schmerzhafte Prozedur? Das sind ja rosige Aussichten.
„Womöglich war es das Werk der Separatisten“, mutmaßt der Mann. Separatisten? Klingt irgendwie gar nicht gut. „Der Beweis ihrer Schuld wäre sehr hilfreich im Kampf gegen sie. Die Kronprinzessin hat sich äußerster Beliebtheit erfreut.“ Ich war beliebt? „Einige Völker wären sicher bereit, sich mit Euch zu einem Vergeltungsschlag zu verbünden“, bietet er an. Vergeltungsschlag? Wie viele abartige Worte kann man eigentlich in ein Gespräch packen?
„Wir würden uns Euch selbstverständlich anschließen“, wendet Maxims Dad ein. „Nun, da beide Eurer Töchter wieder vereint sind, ist doch laut Byzantinischem Gesetz ihre Vermählung möglich – und wenn Ihr verzeiht, wohl längst überfällig.“ Was? Heiraten? Geht’s noch? Ich bin sechzehn. Scheiße, bin ja schon achtzehn. Trotzdem noch viel zu jung, um unter die Haube zu kommen. Wo sind wir hier? Im Mittelalter?
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Sie ist erst vor Kurzem zurückgekehrt“, erklärt mein Vater. „Ich befürchte, die Anwärter werden bei Kaja rar gesät sein.“ Was soll das denn heißen? Dass ich unvermittelbar bin? „Außerdem ist sie bereits verlobt.“ Was, ich bin verlobt? Im Traum.
„Nun, falls bei dem Zukünftigen, dessen Identität Ihr uns bis jetzt vorenthalten habt, nach solch langer Zeit gewisse Vorbehalte bestehen, Maxim hat Interesse“, hat Maxims Dad jetzt nicht tatsächlich gesagt.
Maxim vollkommen überzeichnetes „Was?“ nimmt mir die Worte aus dem Munde. Oh, er wusste wohl selbst nichts von seinem „Interesse“.
„Wie gesagt, meine Tochter ist bereits verlobt“, stellt mein Dad klar. „Ich gehe nicht davon aus, dass drei Eonen etwas daran geändert haben.“ Moment, also ich heirate doch nicht jemanden, den ich nicht kenne. Oder den ich vergessen habe. Meine Schwester sagte doch, ich hätte keine Freunde – also auch keinen Freund. Dann ist das hier eine arrangierte Ehe, oder was?
Mein Vater ist sichtlich angepisst, während Maxim seinen Dad mit Blicken tötet und verlangt: „Kann ich dich kurz sprechen?“
Sie lösen sich von der Gruppe und kommen gefährlich nahe an mich heran. Im letzten Moment zwänge ich mich in den Schatten eines Seitenganges.
„Was soll das, Vater?“, zischt Maxim aufgebracht.
„Das ist die erneute Chance auf ein Bündnis mit den Byzantinern. Wir müssen sie ergreifen. Hast du dir das Mädchen angesehen? Für sie wird sich niemand mehr aus ihren Reihen oder aus den Reihen anderer interessieren. Du hast keine Nebenbuhler.“ Das ist ja ein teuflischer Plan.
Maxim ist sichtlich sprachlos und rauft sich die Haare. Scheiße, selbst das sieht an ihm gut aus. „Nein“, erklärt er forsch. „Ich will sie nicht.“ Autsch.
„Warum denn nicht?“, hinterfragt sein Vater.
„Weil sie … hässlich ist und scheinbar total verrückt“, hat echt gesessen.
Sein Vater zieht die Augenbrauen hoch. „Du wirst tun, was ich dir sage und um sie buhlen, Sohn. Enttäusche mich nicht noch einmal“, hat er so autoritär ausgestoßen, dass Widerstand zwecklos ist. Das weiß Maxim auch, der die Zähne aufeinander malmt und lahm nickt.
Wunderbar. Der erste Tag im Weltraum und schon das Herz rausgerissen.
Schnell suche ich das Weite und knalle zwei Gänge weiter in meine Mutter, die mir gnädigerweise mein Zimmer zeigt.
Bei ihr öffnet sich die Tür, ohne dass sie was machen musste. Irgendwas kapier ich hier nicht.
„Das ist mein Zimmer?“, frage ich skeptisch.
„Ja“, bestätigt sie.
Es ist total langweilig eingerichtet, ohne Spielsachen aus meiner Kindheit oder irgendetwas, das dieses Zimmer als meins kennzeichnet oder von all den anderen unterscheidet.
Ich hatte wohl keine persönlichen Gegenstände. Komisch. Also keine Freunde und auch keine Sachen. Was bin ich denn bloß für ein absoluter Langweiler?
Sie küsst mich auf die Stirn, bevor sie geht. Ich dachte, sie bleibt noch, damit wir darüber quatschen können, was ich alles verpasst habe, aber ich trau mich nicht, sie danach zu fragen.
Also lasse ich mich in die harte Nackenrolle fallen und weine stille Tränen. Um Grandpa John, vor Sehnsucht nach meinem Zuhause, um mein scheinbar hässliches Äußeres und um die Tatsache, dass ich hier als Klasse „G“ wie „gestört“ abgestempelt werde.
„Können wir heute mal was gemeinsam unternehmen?“, frage ich in die illustre Frühstücksrunde.
Sie sehen aus, als hätte ich sie gefragt, ob ich nackt durch den Regen flitzen darf.
„Wie meinst du das?“, hinterfragt meine Mutter. Was war denn daran unmissverständlich?
„Na, einen Ausflug als Familie. Spazieren gehen oder Eisessen, in den Zoo. Keine Ahnung, was man hier so macht. Ich muss mal hier raus, bevor ich durchdrehe“, gebe ich zu. Ich glaube, sie stellen sich gerade lebhaft vor, wie ich zombiemäßig sabbernd durchs Haus laufe, denn ihre Züge schweifen ins Abartige ab.
„Dein Vater muss ins Parlament, ich bin Lehrerin an der Schule in der Hauptstadt und deine Schwester muss zum Unterricht“, informiert mich meine Mutter.
Ich fasse es nicht, dass ich das jetzt frage: „Kann ich auch zum Unterricht?“ Immerhin hab ich einiges nachzuholen und alles ist besser, als bei dem Wetter drinzuhocken. Schlägt irgendwie aufs Gemüt.
Betretenes Schweigen ist ausgebrochen, das mein Vater mit den Worten: „Du bist in aller Munde. Da wir eonenlang dein Bild ausgestrahlt haben, macht dich das zum bekanntesten Gesicht der Galaxie. Wir hatten vor, dich zu Hause unterrichten zu lassen. Zumindest bis sich das Interesse um deine Person gelegt hat“ unterbricht. Ja klar.
„Ihr wollt mich also wegsperren. Die Bekloppte bloß nicht in die Öffentlichkeit zerren, damit sie euch nicht blamieren kann“, konfrontiere ich sie knallhart.
„Natürlich nicht“, kam jetzt nicht sehr überzeugend aus dem Munde meines Vaters.
„Dann kann ich zur Schule. Toll“, schlussfolgere ich.
„Nein. Darüber diskutiere ich nicht, Kaja.“ Mann, Eltern sind wohl überall gleich – egal in welchem Sonnensystem wir leben.
Ich kann nicht glauben, dass ich das jetzt von mir gebe. „Ich will zur Schule gehen. Darüber diskutiere ich nicht. Hausunterricht ist nur was für Streber oder Kinder, für die man sich schämt.“ Ist ja nicht so, dass ich nicht jetzt schon der absolute Freak wäre. „Wie soll ich denn Freunde finden, wenn ihr mich hier einsperrt?“
Meine Schwester lacht laut auf und kassiert einen bösen Blick von meiner Mutter, die mich anlächelt und sagt: „Du hast bereits Eindruck bei dem Kronprinzen der Toxianer hinterlassen. Stell dir vor, Maxim hat heute seinen Besuch angekündigt.“ Nein, echt. Ich kotz gleich.
„Sein Vater zwingt ihn sicher dazu. Das Bündnis würde beide stärken“, ist meiner Schwester rausgerutscht, was man ihr total ansieht.
„Eleonike“, tadelt sie mein Vater – ebenso nicht ganz so energisch, wie es sein sollte.
Ich stochere gelangweilt in dem schleimigen Brei, der absolut nichts mit Frühstück zu tun hat, und stell mir vor, es wär knuspriger Speck.
„Wir suchen nachher ein schönes Kleid für dich aus, damit du dem Prinzen gefällst“, sagt meine Mum, um die Wogen zu glätten. Als ob das was bringen würde.
„Ich will nach Hause“, hauche ich wehmütig.
„Du bist hier zu Hause“, erklärt mein Vater.
„Ja, fühlt sich total so an“, motze ich.
„Mir gefällt nicht, wie du mit mir sprichst, Kaja“, tadelt mich mein Vater.
„Mir gefällt nicht, wie du über mich sprichst, Dad“, kontere ich.
„Wie meinst du das?“, hakt er ärgerlich nach.
„Das weißt du ganz genau“, knalle ich ihm hin.
„Das reicht, geh mir aus den Augen“, bestimmt er forsch und zeigt zur Tür.
Jähzornig springe ich hoch und reiße die verdammte Tür förmlich aus den Angeln. Wieso sagt mir eigentlich keiner, wie das Teil aufgeht? Naja, ich könnte sie danach fragen, aber ich hab auch meinen Stolz.
Mit Tränen in den Augen muss meine Zimmertür auch noch dran glauben, bevor ich mich in aufs Bett knalle und mir die Ohren zuhalte, um die Welt auszusperren.
Hier gibt’s nicht mal Musik, zumindest weiß ich nicht, wie man sie anwirft. Mir zeigt ja keiner was. Vielleicht haben sie Angst, die Bekloppte könnte was kaputtmachen.
Ich glaube, ich muss weglaufen und irgendwie versuchen, zurück auf die Erde zu kommen. Hier werd ich nicht glücklich. Ich brauch die Sonne und die Luftverschmutzung. Hier ist alles so steril, so total emotionslos.
Ich such mir eine Wohnung, einen Job und einen Freund. Ich komm schon allein klar. Vielleicht bring ich ja Maxim dazu, mich in seinem Raumschiff mitzunehmen, dann hau ich ab und reise per Anhalter durch die Galaxis. Das ist der Plan. Irgendwie schaff ich es schon, mich bis zum blauen Planeten durchzuschlagen. Der kann ja nicht so weit entfernt sein.
Naja, da mein Gesicht jeder kennt, dürfte das schwierig werden, unerkannt zu reisen, aber ich könnte mich verkleiden.
Mein Plan nimmt schon langsam Formen an, da lässt mich ein schriller Piepton hochfahren. Was war das? Hab ich einen Wecker? Nein, unwahrscheinlich, meine Mutter hat mich heute Morgen geweckt. Da wars schon wieder.
Ein „Kaja?“, vor meiner Tür lässt mich mit den Augen rollen. Das ersetzt wohl das Anklopfen. Mann, die vermeiden ja jegliche körperliche Anstrengung.
„Komm rein, Mum“, rufe ich. Ich hab mir gerade die Tränen von den Wangen gewischt, da geht schon die Tür auf. Wie macht sie das nur?
„Der Kronprinz lässt sich entschuldigen. Er wurde aufgehalten und hat dir eine Nachricht über einen seiner Sklaven übermittelt. Wenn du willst, nehme ich sie für dich an“, bietet sie an. So ein Zufall aber auch, er wurde „aufgehalten“.
„Nein, ich geh schon“, erkläre ich, springe hoch und folge meiner Mutter durch die Gänge bis zu der Tür, aus der alle bis auf Mum, die noch warten wollte, bis Maxim kommt, heute Morgen verschwunden sind.
„Ich lass dich dann allein. Bis heute Abend“, sagt sie doch tatsächlich und lässt mich einfach mit dem Ceflapoiden stehen, der einen Umhang mit tief ins Gesicht ragender Kapuze trägt. Sie hat echt ein Urvertrauen in diese Maschinen. Was, wenn eine Schaltung bei ihm durchschmort und er zur Killermaschine mutiert?
Im nächsten Moment zieht sich die Killermaschine die Kapuze runter. Ich entspanne mich schlagartig.
„Hallo, Jakob“, grüße ich den mir bereits bekannten Ceflapoiden, während ich meiner Mum sehnsüchtig hinterherschaue.
„Hallo, Kaja“, erwidert er und winkt sogar zurück. Wahnsinn, er spiegelt sogar mein Verhalten.
„Der Kronprinz lässt sich entschuldigen. Er wird in einer dringenden Angelegenheit verlangt und möchte seinen Besuch verschieben.“
„Schon gut, du musst nicht für ihn lügen. Ich weiß, dass er nicht herkommen will, aber das ist okay“, erwidere ich schulterzuckend.
Dass Jakob dazu schweigt, ist Bestätigung genug. „Leistest du mir an seiner Stelle Gesellschaft?“, frage ich.
„Dafür habe ich keine Befehle erhalten“, erklärt er.
„Du hast aber auch keine Befehle, es nicht zu tun“, schlussfolgere ich.
„So ist es“, pflichtet er mir bei.
„Und? Willst du hierbleiben und mir Gesellschaft leisten?“, frage ich ihn.
„Wenn du es befiehlst, werde ich Folge leisten“, sagt er doch echt.
„Ich befehl dir doch nichts“, stoße ich schnaubend aus. Seh ich aus wie ein Sklaventreiber? „Du kannst das selbst entscheiden.“
Er sieht mich einfach nur an, daraufhin sagt er: „Wenn das dein Wunsch ist.“
„Okay, so kommen wir hier nicht weiter“, verlautbare ich haareraufend. „Vergiss mal, was ich will. Was willst du?“
„Ich weiß es nicht. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.“
„Dann wird’s aber Zeit“, pruste ich.
„Ich möchte hierbleiben“, sagt er, was mich lächeln lässt.
„Okay, ähm, kann ich dir was anbieten? Ein Glas Wasser oder …“ Ich halte ertappt inne. Verdammt. Er ist ein Roboter, der braucht höchstens ein paar Tropfen Öl, oder?
„Nein danke“, rettet er die Situation. „Ich brauche nichts.“
„Okay. Darf ich dich was fragen?“, falle ich gleich mit der Tür ins Haus.
„Natürlich.“
„Aber das ist mir ein bisschen peinlich, also lach nicht.“ Als ob er lachen würde. Er ist ein Roboter. Wieso vergess ich das andauernd? „Wie gehen die Türen auf?“ Ich kneife die Augen zusammen, weil das so demütigend ist, ein so hochentwickeltes Wesen so etwas Banales zu fragen.
„Mit Gehirnwellensteuerung.“ Ah, auf das wär ich sicher … nie im Leben gekommen. „Du musst daran denken, dann gehen sie auf“, übersetzt er für die ganz primitiven Wesen unter uns.
Krass. Der Hauptcomputer kann also Gedanken lesen. Ganz schön beängstigend.
Nun bombardiere ich ihn mit einem Auszug meiner tausend Fragen, die er brav beantwortet. Irgendwie vertraue ich ihm, obwohl er ja eigentlich nicht richtig lebendig ist. Naja, er kommt mir lebendiger vor als die Leute, die hier leben.
„Hey, du bist ein guter Lehrer. Die nehmen dich sicher an der Schule, ich frag meine Mum“, lobe ich ihn nach einiger Zeit.
„Ceflapoiden ist es per herrschendem Gesetz nicht erlaubt, andere Berufe, als die des Sklaven auszuführen“, sagt er so nebenbei.
„Das wusste ich nicht … oder habs vergessen. Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen“, entschuldige ich mich.
„Das hast du nicht, Kaja.“
„Mein Dad arbeitet im Parlament, ich könnte ihn fragen, ob er nicht eine Gesetzesänderung einbringen kann“, schlage ich vor.
„Tu das nicht“, rät er mir.
„Wieso denn nicht?“, hake ich nach.
„Weil dieses Gesetz niemand hinterfragt. Er würde sicher verärgert sein, wenn du ihn darum bittest.“
„Auf der Erde ist Sklaverei verboten. Klasse G – wohlgemerkt“, motze ich.
„Hier auch, aber das betrifft nicht die Ceflapoiden“, ergänzt er. Ich grummle ärgerlich.
„Und wie geht’s dir damit?“, will ich wissen.
„Wie meinst du das?“
„Naja, ich meine, lasst ihr euch das so ohne Weiteres gefallen?“
„Gesetz ist Gesetz“, erwidert er knapp.
„Okay, also falls ihr sowas wie eine Invasion plant, um diese Ungerechtigkeit zu stoppen, könntest du dann vorher Bescheid sagen, damit ich mich darauf einstellen kann und noch ein paar Dinge erledige, bevor ihr uns plattmacht? Ich hab da nämlich so einen Plan, nicht ungeküsst ins Gras zu beißen.“ Ich lächle, damit er meinen Joke versteht.
„Das war ein Scherz, oder?“, mutmaßt er.
„Naja, schon, aber ich meins trotzdem ernst. Man kann ja nie wissen.“
„Ein Kuss – das wäre dein letzter Wunsch?“, hinterfragt er. Ja, jämmerlich, ich weiß, aber die Cowboys bei uns zu Hause waren jetzt nicht so mein Fall.
„Ja und ich will definitiv noch einen Big Mac mampfen. Und deiner?“
„Ich weiß nicht genau.“ Ach ja, die können ja nicht sterben. Ich frage mich, ob man bei ihm den Stecker ziehen kann. Wohl eher nicht. Aber anscheinend können ihnen Blitze schaden. Zumindest kurzzeitig.
„Hey, wollen wir Musik machen?“, frage ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Ja.“
„Wie geht das?“, will ich lächelnd wissen und er zeigt mir die Konsolen, die es in jedem Zimmer gibt. So auch in meinem. Mit Touchbedienung wählt man ein Stück aus – so ähnlich wie bei den iPads, nur mit dem feinen Unterschied, dass das Ding mit einem Spricht und selbst Vorschläge macht. Es hat aber null Musikgeschmack.
„Kann man auch Funkwellen anzapfen? Von der Erde zum Beispiel“, frage ich.
„Ja, ich kann es versuchen“, sagt er und lässt die Finger so schnell über das Feld huschen, dass meine Augen kaum mitkommen.
Aus einem Impuls heraus berühre ich seine Hand, die aus feinen, stahlharten Gliedern besteht. Er hält so plötzlich inne, dass ich die Hand blitzschnell zurückziehe.
„Verzeihung, ich war nur neugierig, wie du dich anfühlst“, verteidige ich mich.
„Hast du Angst vor mir?“, fragt er, wahrscheinlich detektiert er wieder meinen Herzschlag.
„Nicht vor dir. Da war ein Ceflapoide, der … in unserem Haus war. Auf der Erde. Dann ist er auf mich losgegangen und … Ich glaube, er wollte mich töten. Deine Hand hat mich daran erinnert, wie er mich gepackt hat. Ich hatte echt Angst vor ihm“, gebe ich zu und wische mir die Tränen von den Wangen.
„Das erklärt auch deinen Herzschlag, als wir uns begegnet sind. Hast du vor dem Kronprinz auch Angst?“, bringt mich hier ein bisschen in eine prekäre Situation.
Leugnen hilft nichts. „Naja, nein, er gefällt mir bloß“, gestehe ich. „Aber das brauchst du ihm nicht zu sagen. Ich will nicht, dass er es weiß.“
„Wieso nicht?“
Weil er ein Idiot ist. „Er hält mich für hässlich und verrückt. Dass ich ihn belauscht habe, brauchst du ihm auch nicht zu erzählen.“
„Darf ich dich etwas fragen, Kaja?“
„Klar, alles.“
„Wieso hat dein linkes Auge eine andere Farbe als dein rechtes?“, lässt mich herzhaft lachen.
„Keine Ahnung. Wohl eine Laune der Natur.“
Ich will ihn nicht fragen, was mit seinem Auge passiert ist, ohne dass ich Gefahr laufe, das Wort „Ersatzteil“ in den Mund zu nehmen, daher verkneife ich es mir.
„Was ist das?“, fragt er und zeigt auf den Anhänger, der an meiner Halskette baumelt.
„Ein Geschenk von einem Freund. Ein zerknüllter 8-mm-Filmstreifen in einer Glasphiole, aber er ist nicht mehr zu gebrauchen. Derjenige, der ihn mir geschenkt hat, John, hat immer behauptet, darauf wär eine Alienlandung zu sehen.“
Ich betrachte den Filmstreifen genauer. Diesmal sehe ich das Teil zum ersten Mal mit anderen Augen. „Hm, vielleicht hatte er ja recht“, murmle ich mehr zu mir selbst als zu Jakob.
„Darf ich es genauer ansehen“, bittet er, da löse ich die Kette von meinem Hals und händige sie ihm aus.
Er dreht den Anhänger in seinen Fingern. „Vielleicht kann ich es wiederherstellen, aber dazu brauche ich Zeit“, sagt er.
„Dann nimm alles mit und gib mir die Kette zurück, wenn du etwas herausgefunden hast. Vielleicht sind da ein paar schmutzige Details über einen Politiker drauf, der auf der Erde Giftmüll abgeladen hat, mit dem ich ihn erpressen kann, damit er das Gesetz ändert“, flüstere ich augenzwinkernd.
Er nickt nur.
„Ich habe die Funkwellen gefunden“, erklärt er und Musik ertönt – Erdenmusik. Ein Stück Heimat, ich halts nicht aus.
„Der Song ist toll. Kannst du den auch in die große Halle mit dem Brunnen übertragen?“
„Ja“, antwortet er, da ziehe ich ihn die Gänge entlang.
In dem großen Raum mit dem Zimmerbrunnen verlange ich: „Mach alles nach, was ich mache. Ich zeig dir mal, wie Menschen tanzen. Dann bist du bei jeder Party auf jeden Fall ein echter Hingucker.“
„Ain't Nothing Like the Real Thing“ von Marvin Gaye und Tammi Terrell ertönt, das ich laut mitträllere und die Hüften schwinge. Er imitiert meine Bewegungen echt perfekt. Manchmal mache ich mir einen Spaß daraus und halte mir die Nase zu oder mache Schlangenbewegungen mit der Hand.
Das sieht einfach zu komisch aus, wie er mich nachäfft.
„Hey, kannst du eigentlich die Tür zu dem Gebäude aufmachen?“, lässt ihn abrupt stoppen.
„Deine Mutter hat verboten, dass jemand außer mir selbst das Gebäude verlässt. Ich muss tun, was sie befiehlt“, sagt er. Soviel zu meinen Fluchtplänen. Auf keinen Fall will ich, dass er Ärger bekommt, wenn ich mich hinter ihm rausschleiche.
Schlagartig ist meine gute Laune dahin und ich lasse mich auf den Hintern fallen. Jakob macht es mir nach, weil er glaubt, es gehört noch zum Tanz.
„Kannst du die Musik ausmachen?“, frage ich traurig und der Song verstummt. „Die halten mich hier gefangen“, flüstere ich.
„Weshalb?“
„Keine Ahnung, ich glaube, sie schämen sich für mich, weil ich so vieles nicht kann und nicht verstehe.“
„Aber du kannst lernen“, wendet er ein.
„Die lassen mich nicht zur Schule. Irgendwie hab ich das Gefühl, sie wollen mir auch nichts beibringen. So, als würden sie mich so besser kontrollieren können.“
Er schweigt dazu. Ich glaube, er weiß genau, wie sich das anfühlt.
Nach ein paar Sekunden sagt er: „Der Kronprinz wird bald zurückkehren. Wenn meine Rückkehr vor ihm erfolgt, wird er weniger Fragen stellen.“
Ich nicke. „Danke, dass du bei mir geblieben bist und meine tausend Fragen so geduldig beantwortet hast.“
„Es waren 67, um genau zu sein“, korrigiert er mich. Oh, wieso wundert es mich nicht, dass er mitgezählt hat?
Ich lächle. „Ich bring dich noch zur Tür“, biete ich an und gehe mit ihm dorthin, wo ihn meine Mum reingelassen hat.
Kurz überlege ich, ob ich nicht einfach im letzten Moment durch die Schiebetür schlüpfen soll, hab aber Angst, von ihr zerquetscht zu werden, also lasse ich es.
Jakob winkt mir von draußen zurück, bevor er in das Raumschiff steigt.
Mittlerweile gehe ich davon aus, dass sich das Wetter nie ändern wird. Es regnet erneut in Strömen und der aufbrausende Wind peitscht das Wasser lautstark an die Scheiben.
Eine Riesenwelle schwappt gerade ans Fenster und lässt mich zurücktaumeln. Mann, hoffentlich hält die Fensterscheibe, von der ich vermute, es handelt sich ebenfalls um eine Art Kraftfeld. Normales Fensterglas würde bei solchen Monsterwellen sicher brechen.
Meine Mum hat recht. Es ist zu gefährlich, rauszugehen. John wollte nicht, dass ich schwimmen lerne. Er sagte, ein Cowboy fühlt sich in der Prärie am Wohlsten, aber ich mag Wasser, also hab ich mich ein paar Wochen zum Schwimmkurs geschlichen. Aber in den Fluten, die da draußen toben, würde der geübteste Schwimmer untergehen.
Ich dachte, ich hätte es nur durch die Amnesie verlernt, aber scheinbar konnte ich vorher gar nicht schwimmen. Jetzt weiß ich auch, warum mein Dad so einen Aufstand gemacht hat, weil ich es doch konnte.
Mir wird klar, dass ich dem Erdlings-ABC auch nie mächtig war. Dafür hab ich die Byzantinischen Schriftzeichen vergessen, die irgendwie Ähnlichkeit mit Chinesisch haben. Echt krass.
Ich sehe den Tropfen ein paar Minuten lang zu, wie sie an der Scheibe abperlen, was echt schön aussieht, da erregt etwas meine Aufmerksamkeit.
Aus heiterem Himmel läuft die Scheibe an, als hätte jemand dagegen gehaucht und die Wassertropfen scheinen nicht mehr wahllos runterzulaufen, sondern formen irgendwelche Symbole.
Beinahe könnten es Zeichen sein, als würde jemand mit dem Finger an eine angelaufene Busscheibe schreiben.
Okay, das bilde ich mir nur ein. Energisch wanke ich zurück und starre auf die Muster, die wie chinesische Zeichen aussehen. Sind das etwa Byzantinische Schriftzeichen? Das ist sicher diese Weltraumkrankheit, die mich schon dahinrafft. Mir ist auch schon wieder schwindlig. Ich sollte mich hinlegen.
„Wie war dein Tag?“, will meine Mum wissen, während sie auf dem Tisch irgendetwas liest, das dort neben ihrem Teller projiziert wird.
„Ganz gut“, antworte ich, was sie nicken lässt. Mein Dad liest auch und meine Schwester ist scheinbar ausgegangen.
Sie stößt nur ein pro forma „Hmm“ aus, zeigt aber kein echtes Interesse an mir.
„Wir hatten viel Spaß. Haben wild rumgeknutscht, als gäbs keinen Morgen mehr, haben Gras geraucht und eine Runde in seinem Raumschiff gedreht. Vollgas mit Überholen, bevor wir wilden, ungeschützten Sex auf der Rückbank hatten. Vielleicht bin ich schwanger.“
„Aha, schön“, erwidert sie gedankenverloren. So viel dazu, dass sie mir zuhören.
„Dann war ich im Brunnen schwimmen“, lässt ihre Köpfe synchron hochschießen.
„Was?“, zischt mein Vater.
„So geht das also, euch dazu zu bringen, mir zuzuhören“, schlussfolgere ich nickend. „Nun, da ich eure ungeteilte Aufmerksamkeit habe, können wir an euren freien Tagen was zusammen machen? Eigentlich sperrt man nicht mal Haustiere den ganzen Tag ein und geht dann weg. Das ist irgendwie unmenschlich, findet ihr nicht auch?“, konfrontiere ich sie.
„Wir arbeiten jeden Tag. Nur in unterentwickelten Kulturen gibt es freie Tage“, informiert mich mein Dad. Na aber Hallo, da gehör ich lieber einer unterentwickelten Spezies an, wenn das bedeutet, ein Wochenende zu haben.
„Findest du, dass ich unterentwickelt bin, Vater?“, fordere ich ihn heraus.
„Mach dich nicht lächerlich“, winkt er ab. Das heißt also ja.
„Ich kann das nicht“, spreche ich meine Gedanken laut aus. „Ich kann nicht bei euch bleiben. Tut mir leid, aber ich pack das nicht. So will ich nicht leben.
Keinen einzigen Tag will ich mehr in einem Haus eingesperrt sein. Ich vermisse die Sonne und frische Luft, Gras, Gerüche, Musik, das Leben. Bitte, lasst mich hier raus. Ich hab beinahe mein ganzes Leben draußen verbracht. Zumindest das Leben, an das ich mich erinnern kann. Ja, ein Klasse-G-Planet, den ich über alles vermisse. Ich bin lieber ein Klasse-G-Mensch, als eine eingesperrte Byzantinische Prinzessin, denn das ist pure Folter, was ihr mit mir macht. Auf der Erde ist es verboten, seine Kinder zu foltern.“
Sie scheinen mir das erste Mal richtig zuzuhören, daraufhin tauschen sie Blicke aus, die ich nicht deuten kann.
„Also gut. Du darfst raus, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Die werden sich auf dich stürzen, um zu erfahren, wo du warst.
Morgen findet eine Festivität im Parlamentspark statt. Du kannst mitkommen“, knickt mein Dad ein. Park klingt gut. Hauptsache raus.
„Ich repliziere dir ein passendes Kleid“, lächelt meine Mum.