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Marie öffnete die Haustür und schnupperte. Seit fast einer Woche hatte dichter Nebel die Berge verhüllt. Endlich war er verschwunden. Jetzt war die Sicht weit über das Tal hinaus frei, und die Sonne zauberte ein buntes Glitzern in die Luft. Marie schnupperte noch einmal. Ja, da war es, worauf sie gehofft hatte: der Geruch des Frühlings. Es war früh am Morgen, noch bedeckte der Morgentau den Boden mit einer feucht knisternden Decke. Dennoch war es unverkennbar: Heute war der erste Tag des neuen Frühlings, und Maries Herz hüpfte vor Freude.

Sie schlüpfte in ihre festen Schuhe, warf sich die Wolljacke über, die im Flur am Haken hing, und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss. Ihre Schritte knirschten im Tau, als sie den Hof durchschritt. Sie näherte sich dem Holzhaus im hinteren Bereich und blieb kurz stehen. Kaum zu glauben, dass vor weniger als einem Jahr genau an dieser Stelle die alte Scheune in Flammen aufgegangen war. Mehrmals hatte sie sich gefragt, ob das Schicksal den Brand von langer Hand geplant hatte. Marie war ein rational denkender Mensch. Aber in ihrem Leben waren schon einige Dinge passiert, die sie daran glauben ließen, dass es womöglich mehr zwischen Himmel und Erde gab, als die Menschen sich vorzustellen vermochten. Der Scheunenbrand war eines davon, hatte er doch die Ehekrise zwischen ihr und Georg abrupt beendet. Durch das Feuer war Marie klar geworden, dass sie die wahren Schätze des Lebens pflegen muss, denn sie sind vergänglich. Seitdem bemühte sie sich, ihr Leben hier auf dem Sonnhof bewusst zu genießen. Es war auch einfach wunderbar. Ihre Tochter, die kleine Sophie, war inzwischen eineinhalb Jahre alt und ein echter Sonnenschein. Seit Kurzem konnte sie laufen. Es machte Marie einen riesigen Spaß, ihr dabei zuzusehen, wie sie über den Hof watschelte und jeden Winkel erkundete.

Und natürlich die Pferde! Marie wurde es warm ums Herz, als sie auf ihr geliebtes Holzhäuschen zuging, über dessen Tür in großen Lettern „Maries Pferdepension“ stand. Georg und ihre Freunde hatten das Haus selbst gebaut, dort, wo früher die Scheune gestanden hatte. Drinnen gab es vier große Boxen für die Tiere und einen breiten Gang in der Mitte. Alles war hell und freundlich, und es roch so gut!

Marie öffnete den Holzriegel, und kaum war sie im Haus, empfing sie auch schon die warme, nach Heu duftende Luft. Ein leises Rascheln deutete darauf hin, dass die Pferde wach waren und auf ihr Frühstück warteten. Marie kümmerte sich zuerst um Harry. Das Pony war der jüngste Gast in der Pferdepension. Es war erst vor einem Monat dazugekommen, weil seine Besitzerin, Frau Mertens, für eine Weile ins Ausland gezogen war und für die Zeit ihrer Abwesenheit einen guten Platz für ihren Liebling gesucht hatte. Harry war jung und übermütig. Er brauchte am meisten Auslauf und begrüßte Marie mit einem aufgeregten Schnauben.

„Guten Morgen, mein Kleiner“, antwortete sie und tätschelte ihm den Hals. „Heute nach dem Frühstück geht es nach draußen. Freust du dich?“

Als hätte das Pferd sie verstanden, schnaubte es fröhlich zur Antwort. Marie füllte Futter und frisches Wasser nach. Während Harry sich darüber hermachte, säuberte Marie die Box. Danach bürstete sie Harrys Fell und liebkoste ihn ausgiebig, bevor sie aus der Box trat.

Weiter hinten standen die Geschwister Flocke und Irina friedlich nebeneinander und knabberten an ihrem Heu. Die beiden Haflinger waren gleichzeitig bei Marie eingezogen. Ihre Besitzerin, eine ehemalige Kollegin Maries aus der Klinik, hatte ihren Pferdehof aufgegeben und gefragt, ob Marie die beiden Senioren aufnehmen könne. Eigentlich hatte Marie ihre Plätze vermieten wollen. Aber Flocke und Irina hatten ihr leidgetan, also hatte sie zugesagt und die beiden als erste Gäste in der neu eröffneten Pferdepension willkommen geheißen. Flocke und Irina waren kurz darauf eingezogen und hatten eine gemeinsame große Box bekommen.

Auch sie schienen sich zu freuen, dass Marie kam. Sie begrüßte die Haflinger ausgiebig und versorgte die beiden mit Futter, Wasser und frischem Heu.

Marie liebte die Arbeit im Stall. Nach Sophies Geburt war ihr die körperliche Arbeit zunächst schwergefallen. Aber seit ein paar Monaten war sie wieder fit und kräftig und genoss es, sich im Stall und draußen auszutoben. Als sie mit der Haflinger-Box fertig war, räumte sie Bürste und Heugabel weg und öffnete das Schloss an der hinteren Holzwand. Die beiden großen Türen ließen sich nach außen aufschieben und gaben den Weg auf die umzäunte Weide frei, die Georg und sie für die Pferde erschlossen hatten. Nacheinander führte Marie ihre Gäste nach draußen, wo die drei sofort begannen, fröhlich herumzulaufen und das junge Gras zu probieren.

Marie beobachtete die Pferde noch eine Weile, dann kehrte sie zurück ins Haus. Drinnen war alles ruhig. Georg hatte sich nach dem Melken wieder hingelegt. Heute war Samstag, noch hatte die arbeitsreichste Saison auf dem Hof nicht angefangen, sodass er am Wochenende etwas länger schlafen konnte.

Marie ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an. Das freundliche Blubbern passte wunderbar zu ihrer Stimmung. Bald würde Sophie aufwachen, sie würden sich einen schönen Tag machen. Vielleicht könnten sie ins Dorf fahren und nachsehen, ob die Eisdiele schon geöffnet hatte.

Marie seufzte zufrieden. So sollte es immer weitergehen. Rundum perfekt, mein Leben, dachte sie, während sie den Frühstückstisch deckte.

Kurz darauf kam Georg in die Küche. „Guten Morgen, schöne Frau“, begrüßte er sie und nahm sie in den Arm.

Marie liebte Georgs Umarmungen, sie waren stark und zärtlich zugleich. Einen Moment schmiegte sie sich an seine Brust. Dann drückte sie ihm einen sanften Kuss auf den Mund. „Hallo, ausgeschlafen?“

Georg nickte und setzte sich an den Tisch. Marie und Georg bemühten sich um Gleichberechtigung in Beziehung und Alltag. Seit Marie nicht mehr als OP-Schwester im Krankenhaus arbeitete, legte sie Wert darauf, die Aufgaben zwischen sich und Georg gerecht zu verteilen. Auf keinen Fall wollte sie in die Rolle der Hausfrau und Mutter hineinrutschen und ihrem Mann jeden Handgriff im Haushalt abnehmen. Heute war sie jedoch bester Laune, und es machte ihr Freude, Georg ein wenig zu bedienen. Sie goss ihm Kaffee in seinen Becher und schob ihm Butter und Brotkorb hin. Als kurz danach Sophie aus dem Kinderzimmer zu hören war, sprang Marie auf und eilte nach nebenan.

Ihre Tochter stand in ihrem Gitterbett und lächelte Marie an. Dabei kamen ihre kleinen Zähne zum Vorschein, was so süß aussah, dass Marie sofort ganz gerührt war. Sie hob die Kleine in ihre Arme und drückte sie liebevoll an sich. Danach trug sie ihr Töchterchen in die Küche und setzte es in den Kinderstuhl an den Tisch.

Georg begrüßte die Kleine mit einem Kuss auf die Wange. Er war ein toller Vater, fand Marie. Er verbrachte viel Zeit mit Sophie, und die beiden hatten eine Menge Spaß miteinander.

Jetzt schnappte Georg sich den Plastiklöffel und fing an, Sophie mit dem Getreidebrei aus ihrem Kinderteller zu füttern. Die Kleine sperrte den Mund weit auf und hatte nach kurzer Zeit den Teller fast geleert.

„Ich will mit Sophie nachher ins Dorf runter, kommst du mit?“, fragte Marie.

Georg überlegte kurz. „Nein, das schaffe ich nicht“, antwortete er dann. „Ich muss zum Landmaschinenhändler wegen dem Geohobel. Ich fahre lieber gleich nach dem Frühstück los, sonst wird es zu spät.“

Marie zuckte bedauernd die Schultern. Sie war es gewohnt, dass Georg an den Wochenenden weniger Zeit hatte als andere Männer. Dafür musste er zum Arbeiten nicht den Hof verlassen. Er war fast immer in der Nähe, und Marie genoss das.

„Schade. Kannst du dann noch kurz auf Sophie aufpassen, solange ich mich fertig mache?“, fragte sie.

„Logisch“, erwiderte Georg und grinste. Er beugte sich zu Sophie und zog eine Grimasse, was der Kleinen ein erfreutes Quieken entlockte.

Nachdem Marie geduscht und sich frisch angezogen hatte, band sie sich die Haare zu einem Pferdeschwanz und setzte sich an den Computer. Sie öffnete die Seite ihrer Bank und klickte auf die Nummer ihres Kontos. Sie fuhr die Reihe mit den letzten Geldeingängen nach unten. Bingo!

Marie schaltete das Gerät wieder aus und lief zurück in die Küche. „Sie hat bezahlt!“, rief sie und strahlte Georg an. Als der sie fragend anschaute, fuhr sie fort: „Frau Mertens hat bezahlt. Ich habe mit Maries Pferdepension mein erstes Geld verdient!“

Mit einem erfreuten Ausdruck im Gesicht kam Georg auf sie zu und umarmte sie stürmisch. „Herzlichen Glückwunsch. Das müssen wir feiern.“ Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. „Heute Abend?“

Marie nickte zustimmend.

Georg drehte sich zu Sophie, die immer noch am Tisch saß. „Hey Sophie, was sagst du dazu: Deine Mutter ist jetzt eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Klatsch ein.“ Er hielt die Hand nach oben, woraufhin Sophie vergnügt dagegenpatschte.

Gipfelglück für Anfänger

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