Читать книгу Gipfelglück für Anfänger - Mariella Loos - Страница 7
3
ОглавлениеMarie saß bei ihren Eltern in der Küche und gähnte. Sie hatte wenig Lust, den Heimweg anzutreten. Es war einfach zu warm und zu gemütlich hier. Sie und Sophie waren in der Eisdiele gewesen und auf dem Rückweg bei Maries Eltern, Gabriele und Werner, eingekehrt. Sophie hatte ihren Nachmittagsschlaf gerade beendet, saß mit roten Backen auf Gabrieles Schoß und stopfte sich einen Keks nach dem anderen in den Mund. Marie spähte aus dem Fenster. Draußen wurde es allmählich dunkel. Sie mussten wohl oder übel aufbrechen. Noch einmal gähnte Marie, dann stand sie auf und klopfte sich die letzten Kuchenkrümel von der Hose. „Also, wir müssen los.“
Es dauerte weitere fünfzehn Minuten, bis sie Sophie eingepackt, die letzten Worte mit ihren Eltern gewechselt und sich verabschiedet hatte.
„Ab morgen sind wir unterwegs. Du schaust nach den Blumen und der Post, ja?“, vergewisserte sich Gabriele. Sie und Werner wollten am nächsten Tag eine ausgedehnte Städtetour beginnen.
„Na klar“, versprach Marie.
„Soll ich euch ein Stück fahren?“, fragte Werner noch.
Marie grinste in sich hinein. Seit Sophie auf der Welt war, hatte Werner seinen väterlichen Beschützerinstinkt wieder aktiviert. „Nein, auch heute musst du uns nicht fahren, danke.“
Sie und ihr Vater wussten beide, dass es schneller ging, wenn Marie mit Sophie direkt losmarschierte, als wenn Werner Sack, Pack und Kinderwagen in den Wagen hievte und auf halbem Weg wieder auslud, dort, wo der Weg für Autos zu eng wurde.
Ihr Vater zuckte die Schultern. „Wie du meinst.“
Also setzte Marie ihre Tochter in den Kinderwagen und machte sich durch die Dämmerung auf den Heimweg. Auf den ersten Metern plapperte Sophie fröhlich vor sich hin. Auch wenn das meiste nicht eindeutig war, glaubte Marie, die Worte Oma und Opa herauszuhören. Das Haus ihrer Eltern lag am Rand von Josefszell, sodass Marie und Sophie nach wenigen Minuten die Dorfgrenze erreicht hatten und in den Pfad einbogen, der am Bach entlangführte. Nach ein paar Schritten blieb Marie stehen und holte ihr Handy aus der Tasche. Georg hatte sich den ganzen Tag nicht gemeldet, das war ungewöhnlich. Vor allem, weil sie mehrmals versucht hatte, ihn zu erreichen. Auch jetzt gab es keine verpassten Anrufe in der Liste. Wahrscheinlich ist er so beschäftigt mit seinem neuen Lieblingswerkzeug, dass er mich vergessen hat, dachte sie. Oder er ist schon daheim und hat sich kurz hingelegt und das Telefon nicht gehört.
Die Luft war kalt, und der erste Nebel zog auf. Dennoch fror Marie nicht, denn der Weg nahm schnell an Steigung zu, und sie musste sich mit dem schweren Kinderwagen gehörig anstrengen. Sophie hatte aufgehört zu plappern und schien es zu genießen, wohlig warm eingewickelt durch die Natur geschoben zu werden. Nach dem kurzen Stück durch den Wald wurde der Weg noch steiler. Zum Glück hatte Marie Übung und genug Kraft vom häufigen Kinderwagenschieben, sodass sie bald darauf am Tor des Sonnhofs ankamen.
Inzwischen war die Dunkelheit weit fortgeschritten, und die ersten Sterne leuchteten am Himmel auf. In ihrem Schein konnte Marie erkennen, dass der Traktor im Unterstand parkte. Georg musste daheim sein. Marie seufzte erleichtert. Sie schob den Kinderwagen bis zum Haus und stellte ihn unter dem kleinen Vordach ab. Von hier aus konnte sie sehen, dass die Weide vor der Pferdepension leer war, die Tiere hatten sich wohl nach drinnen zurückgezogen. Sie hob Sophie aus dem Wagen und drückte die Haustür mit der Schulter auf. Wie immer war nicht abgeschlossen.
Zu ihrem Erstaunen war von Georg keine Spur, in der Wohnung brannte kein Licht. Marie schälte Sophie aus ihrem Skianzug und stellte sie im Kinderzimmer auf den Boden, wo die Kleine sofort anfing, einen Eimer mit Bauklötzen auszuleeren. Nebenan im Schlafzimmer war es auch dunkel. Marie wollte schon weiter in die Küche laufen, da zog etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie drückte den Lichtschalter. Der Kleiderschrank stand offen, was an sich nicht ungewöhnlich war. Allerdings lagen davor in einem wilden Haufen Georgs Kleidungsstücke auf dem Boden. Das war schon ungewöhnlich. Er musste eilig etwas aus seinem Fach gezogen haben. Marie runzelte die Stirn. Sie versuchte sich zu erinnern, ob er etwas erzählt hatte. Wollte er abends ausgehen? Nein, davon hatte er nichts gesagt. Ganz sicher nicht.
Marie schüttelte nachdenklich den Kopf, sammelte Georgs Sachen auf und räumte alles zurück in den Schrank. Dabei fiel ihr auf, dass auch die große Reisetasche fehlte. Normalerweise bewahrte Georg sie direkt hinter seinen Pullovern auf. Seltsam. Die Tasche benutzte er nur, wenn er viele Dinge auf einmal transportieren musste, zum Beispiel, wenn er einen Angelausflug mit seinem Freund unternahm oder sie gemeinsam einen Kurzurlaub machten. Marie schüttelte den Kopf und schloss die Schranktür. Bestimmt gab es eine ganz einfache Erklärung für sein Verschwinden, und sie würde sie erfahren, wenn Georg nach Hause kam.
Fast zwei Stunden später war ihr Mann jedoch immer noch nicht daheim. Marie hatte Sophie gebadet, ihr Abendessen zubereitet und ihr vorgelesen. Zwischendrin hatte sie mehrmals vergeblich versucht, Georg zu erreichen.
Nachdem sie ihre Tochter ins Bett gebracht hatte, ging Marie durch das Treppenhaus ins obere Stockwerk und klopfte an die Wohnungstür ihrer Schwiegermutter Christl. Die beiden hatten schon immer ein gutes Verhältnis gehabt. Wenn Marie als Kind ihren Freund Georg besucht hatte, war sie bei der Familie Gruber immer herzlich aufgenommen worden. Seit dem Tod von Christls Mann Max waren die beiden Frauen sich noch einmal nähergekommen. Marie war ihrer Schwiegermutter damals nicht nur als Krankenschwester eine Hilfe gewesen, sie hatte die ältere Frau auch in vielen Gesprächen und mit einem offenen Ohr für ihre Sorgen trösten können. Später war Marie auf dem Sonnhof eingezogen, und sie hatten die Wohnungen aufgeteilt. Christl war eine angenehme Mitbewohnerin. Sie war oft unterwegs, manchmal trafen sie sich mehrere Tage nicht. Wenn sie gebraucht wurde, war Christl jedoch immer da. Vor allem war sie immer bereit, sich um ihre einzige Enkeltochter zu kümmern.
Während Marie vor der Tür wartete, hörte sie drinnen den Fernseher. Es dauerte ein paar Minuten, bis ihre Schwiegermutter es zur Tür schaffte. Seit dem Tod von Max war Christl ruhiger geworden. Sie hatte sich von der Hofarbeit zurückgezogen und verbrachte die Abende oft mit Quizsendungen.
„Hallo, komm doch rein“, begrüßte sie Marie herzlich. Die beiden Frauen umarmten sich, dann folgte Marie ihrer Schwiegermutter ins Wohnzimmer. Christl schaltete den Fernseher leise und bedeutete Marie, sich auf das kleine Sofa zu setzen. Sie selber nahm gegenüber auf dem Sessel Platz. „Schläft Sophie?“, fragte sie.
„Ja, ist vorhin eingeschlafen“, antwortete Marie. Die nächste Frage ihrer Schwiegermutter ließ Marie zusammenzucken. Insgeheim hatte sie wohl gehofft, Christl wüsste etwas über ihren Sohn, das sie, Marie, vergessen hatte.
„Ist Georg unten?“, erkundigte sich Christl stattdessen.
Marie überlegte einen kurzen Moment. Was sollte sie Georgs Mutter sagen? Einerseits hätte sie ihr gerne erzählt, was los war, und mit Christl darüber gesprochen, warum Georg sich nicht meldete, und vor allem, wozu er seine Reisetasche mitgenommen haben könnte. Möglicherweise hatte Christl eine überzeugende Erklärung, die Marie beruhigen würde. Andererseits könnte es auch sein, dass Christl dann anfing, sich Sorgen zu machen. Das wollte Marie vermeiden, also erwiderte sie: „Der ist unterwegs.“
Danach blieb sie noch eine Weile sitzen und lauschte Christls Erzählungen. Es ging um Bekannte aus dem Dorf und darum, was der Bürgermeister mit der alten Sporthalle vorhatte. Marie hörte nur mit einem Ohr zu und war froh, als sie sich nach etwa zehn Minuten verabschieden konnte.
„Gute Nacht, und grüß mir meinen Sohn und meine Enkelin“, sagte Christl noch an der Tür und kehrte zurück ins Wohnzimmer.
Die lauter werdende Stimme des Quizmasters folgte Marie, während sie die Treppen nach unten stieg und ihre eigene Wohnung betrat. Im Flur merkte sie sofort, dass Georg immer noch nicht da war. Seine Jacke hing nicht am Haken, seine Schuhe standen nicht auf dem Boden. Dennoch ging Marie in jedes Zimmer und schaltete kurz Licht an, um sich zu vergewissern. Sie überprüfte auch ihr Handy noch einmal, das Festnetztelefon und den Anrufbeantworter. Fehlanzeige. Um sich abzulenken, beschloss sie, die Wohnung von den Spuren des Tages zu befreien. Zunächst räumte sie in der Küche Tisch und Spüle frei, schaltete die Spülmaschine ein und wischte die Arbeitsplatte. Nachdem sie auch noch im Wohnzimmer für Ordnung gesorgt, die schmutzige Wäsche nach Farben sortiert und die Waschmaschine befüllt und zum Laufen gebracht hatte, war ihre Nervosität so gewachsen, dass Marie es fast nicht mehr aushielt. Es passte einfach nicht zu Georg, sich nicht bei ihr zu melden. Wenn er spontan beschlossen hätte, wegzufahren – was einerseits nicht seine Art war und andererseits die Arbeit auf dem Hof nicht zuließ -, hätte er sie auf jeden Fall informiert. Es sei denn, er kann nicht, schoss es Marie durch den Kopf. Womöglich hatte er einen Unfall gehabt. Warum er dann allerdings die Reisetasche gepackt hatte, war nicht erklärbar. Sie musste etwas tun.
Marie marschierte ins Wohnzimmer und nahm das Telefon aus der Station. Zuerst rief sie bei ihren Eltern an. Werner klang erstaunt, als er antwortete. „Marie, was ist los?“
„Nichts.“ Marie bemühte sich um einen neutralen Ton, um Werner nicht zu beunruhigen. „Es ist nur so, dass Georg nicht da ist. Ich habe vergessen, wo er hinwollte. Tut mir leid, dass ich dich bemühe, ihr seid sicher am Packen für die Reise, aber könntest du vielleicht nachschauen, ob das Auto da ist?“
„Ja sicher“, antwortete Werner.
Danach öffnete Marie im Menü das Telefonbuch. Die meisten Kontakte hatte sie eingespeichert, ein paar wenige hatte Georg dazugefügt. Es dauerte nicht lange, bis sie die Nummer gefunden und gewählt hatte. Während es tutete, warf Marie einen Blick auf die Wanduhr. Es war schon nach elf Uhr, hoffentlich würde ihr Anruf niemanden wecken. Nach ein paar weiteren Sekunden wurde abgehoben.
„Hallo.“
„Hallo, Markus, ich bin’s, Marie.“
Marie kannte Markus seit ihrer Schulzeit, aber nur flüchtig. Er war zwei Klassen über ihr gewesen, und sie hatten sich bei Partys und Schulveranstaltungen gelegentlich unterhalten. In erster Linie war er jedoch Georgs engster Freund. Schon immer gewesen. Dementsprechend erstaunt schien Markus über Maries Anruf zu sein.
„Marie, was gibt es?“, fragte er.
Marie zögerte. Der Freund hörte sich nicht so an, als habe er Informationen über Georg. Dennoch versuchte sie ihr Glück. „Ist Georg bei dir?“, fragte sie zurück.
Die Antwort kam prompt. „Nein, ist er nicht. Ist etwas passiert?“
Maries erster Impuls war, abzuwiegeln und schnell wieder aufzulegen. Georg würde es sicher übertrieben finden, dass sie seinen Freund anrief. Doch ihre Beunruhigung war inzwischen zu groß, um sie Markus gegenüber zu verheimlichen. „Nein. Er ist heute früh mit dem Traktor los und seitdem nicht zurück. Ich dachte, vielleicht weißt du …“ Sie brachte den Satz nicht zu Ende.
Offenbar hatte Markus die Sorge in ihrer Stimme bemerkt. „Hey, ist sicher nichts Schlimmes geschehen“, meinte er in beruhigendem Ton. „Vielleicht ist er in der Kneipe hängen geblieben.“
„Ja, vielleicht“, entgegnete Marie und verabschiedete sich. Was für ein Fehlschlag. Markus wusste doch bestimmt genauso gut wie sie, wie unwahrscheinlich es war, dass Georg in die Kneipe gegangen war. Das passte ganz und gar nicht zu ihm. Im nächsten Moment klingelte das Telefon.
„Hallo Marie“, sagte Werner, „euer Auto ist weg.“
Marie räusperte sich. „Alles klar, danke. Dann kann ich mir denken, wo er ist. Gute Nacht und gute Reise.“
Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte Marie nach draußen in die Dunkelheit. Natürlich hatte sie gelogen: Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo Georg mit dem Auto hingefahren sein könnte.