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„Ich fahre dann los. Bis später.“ Georg beugte sich über seine Tochter und drückte sie an sich. Dabei vergrub er die Nase in Sophies weichen Kinderhaaren. Seine kleine Familie erfüllte ihn mit Stolz und Dankbarkeit. Und seit seine Frau ihr Glück in der neuen Pferdepension gefunden hatte, war sie endlich wieder so ausgeglichen und fröhlich wie früher.

„Mach’s gut“, antwortete Marie, „bis spätestens heute Abend.“

Nach einem zärtlichen Abschiedskuss eilte Georg aus der Küche in den Flur. Er griff nach seiner dicken Jacke, entschied sich dann aber für die ungefütterte daneben. Schließlich schlüpfte er in die robusten Arbeitsschuhe und verließ das Haus. Draußen kniff er die Augen zusammen. Bis auf ein paar kleine Wolken war der Himmel unbedeckt. Es würde wohl mild werden in den kommenden Tagen. Das war gut für seinen Betrieb. So konnten sie die Felder früh vorbereiten, und die Bodenbearbeitung und Aussaat mit seinem neuen Werkzeug konnte rechtzeitig beginnen.

Vor neun Monaten hatte Georg einen Kurs für angehende Bio-Bauern besucht. Seitdem war viel passiert. Er hatte seinen Betrieb Schritt für Schritt umgestellt. Er hatte die Restbestände an Dünger und Pflanzenschutzmitteln verkauft und sich stattdessen mit neuen umweltverträglicheren Alternativen eingedeckt. Und er hatte sich für den Kauf des Geohobels entschieden, den sie ihnen im Kurs empfohlen hatten. Er freute sich darauf, das neue Gerät abzuholen, mit dem sich die Bodenoberfläche angeblich deutlich besser und nachhaltiger würde bearbeiten lassen. Beschwingt lief er durch das Hoftor nach draußen. Ein paar Schritte entfernt hatten er und sein Vater Max vor Jahren einen offenen Unterstand für den Traktor und das große Werkzeug gebaut. Georg betrat den großen Verschlag und stolperte beinahe über einen Rasenmäher. Hier drinnen müsste er dringend einmal aufräumen. Aber im Moment war zu viel zu tun, und die wenige freie Zeit verbrachte er lieber mit seiner kleinen Familie. Während er zwei Heugabeln und den Rasenmäher an ihren Platz räumte, dachte er über den neuen Biobetrieb nach. Seit vielen Jahren hatte er davon geträumt, den Hof entsprechend umzubauen. Sein Vater Max hatte davon nichts wissen wollen. Nach dessen Tod hatte Georg zunächst die Mühe und das finanzielle Risiko gescheut. Marie hatte ihn schließlich davon überzeugt, dass ein besserer Zeitpunkt für die Veränderung nicht kommen würde. Immerhin lebten sie nur zum Teil aus den Einnahmen vom Hof. Die kleine Milchwirtschaft und die wenigen Felder trugen einfach nicht genug ein. Zum Glück verdienten sie mit der Vermietung eines Ferienhauses und der Verpachtung einiger Felder im Tal noch etwas Geld dazu. Nur so war es möglich, den Betrieb des Sonnhofes aufrechtzuerhalten. Wenn er all diese Umstände bedachte, war Georg gleich noch viel stolzer, dass sie den Umbau zum Biobetrieb inzwischen erfolgreich gemeistert hatten. In diesem Jahr würden sie zum ersten Mal fast komplett nach den Regeln des alternativen Landbaus arbeiten. Georg kletterte auf den Traktor und ließ den Motor an. Als er aus dem Unterstand nach draußen rollte, kam ein Sonnenstrahl hinter dem Berggipfel hervor und strahlte ihm direkt ins Gesicht. Georg lächelte. Hier war es schön, hier war er zu Hause und hier war er glücklich.

Zufrieden machte er sich auf die Fahrt ins Tal. Das erste Stück war holprig, und er musste aufpassen, um den Traktor auf dem schmalen Weg zu halten. Das Waldstück auf halber Strecke umfuhr er in einem weiten Bogen. Kurz darauf schwenkte er in den breiten Feldweg ein. Ab hier war die Fahrt angenehmer. Es ging noch ein Stück sanft bergab und anschließend auf einer Landstraße bis ins übernächste Dorf.

Ungefähr eine Stunde später rollte Georg in den Hof von „Landmaschinenbau Kieninger“. Als er abstieg, kam ihm Werner Kieninger entgegen, der Sohn der Familie, der vor Kurzem das Geschäft übernommen hatte. Georg kannte ihn seit Jahren und begrüßte ihn freundschaftlich.

„Na, dann komm, ich zeige dir dein neues Baby“, meinte Kieninger.

Georg war begeistert von seinem neuen Werkzeug, das in Wirklichkeit noch besser aussah als im Katalog. Eine Weile diskutierten sie über die Vorzüge des Geohobels, der den Boden in genau der richtigen Tiefe bearbeiten und gleichzeitig die optimale Saatmenge ausbringen konnte, sodass der Besitzer auf chemische Hilfsmittel verzichten konnte. Danach befestigten sie den Geohobel am Traktor und testeten ihn auf dem Feld des benachbarten Hofes.

Es war später Nachmittag, als Georg sich von Kieninger verabschiedete und sich auf den Heimweg begab. Mit dem angehängten Hobel konnte er nur langsam fahren, es würde eine ganze Weile dauern, bis er daheim war. Er tastete nach der Box, die Marie ihm heute Morgen zugesteckt hatte. Drinnen lagen zwei belegte Brote und ein Apfel. Dankbar machte er sich darüber her. Während er vor sich hin tuckerte, wanderten seine Gedanken zu Marie. Er freute sich auf sie und vor allem auf ihren gemeinsamen Abend.

Sobald Georg am Sonnhof angekommen war, stellte er den Traktor unter, zog den Schlüssel ab und ließ ihn in die Brusttasche seiner Arbeitshose gleiten. Dabei berührten seine Finger das Kuvert. Den Brief hatte er ganz vergessen. Am Morgen hatte er im Briefkasten nachgesehen. Werbesendungen und Rechnungen hatte er liegen gelassen, aber dieses Schreiben war ungewöhnlich, also hatte er es mitgenommen. Über den Besuch beim Maschinenbauer hatte er es ganz vergessen. Das Kuvert war schon etwas zerknittert. Im Empfängerfeld stand sein Name, einen Absender gab es nicht. Offensichtlich hatte jemand sich die Mühe gemacht, auf den Berg zu steigen und ihm persönlich einen Brief einzuwerfen. Wer tat so etwas? Georg runzelte die Stirn. Er beschloss, das Kuvert erst zu öffnen, nachdem er sich von dem gröbsten Schmutz befreit hatte.

Er betrat das Haus, zog die schlammigen Schuhe aus und ließ sie im Treppenhaus stehen. Marie, Sophie und er bewohnten die Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss, seine Mutter Christl die kleinere Wohnung im ersten Stock. Im Moment schien niemand da zu sein. Georg trat über die Schwelle. „Jemand zu Hause?“, fragte er in die Stille. Keine Antwort.

Sobald er geduscht und sich frische Sachen angezogen hatte, griff er nach dem Brief und ging in die Küche. In der Spüle standen zwei benutzte Teller. Marie und Sophie hatten offensichtlich zu Hause zu Mittag gegessen. Georg blieb unschlüssig im Raum stehen und drehte das Kuvert noch einmal in seinen Händen. Vielleicht war der Brief für Marie und er sollte lieber auf sie warten? Nein, da stand eindeutig Georg Gruber. Also holte er ein Messer aus der Schublade und schlitzte das Kuvert auf. Es enthielt zwei Seiten dünnes cremefarbenes Papier, einseitig beschrieben in blauer Tinte. „Hallo Georg“, stand in der ersten Zeile. Obwohl Georg sich nicht erinnern konnte, die Handschrift schon einmal gelesen zu haben, zog sich bei ihrem Anblick etwas in ihm zusammen. Irgendwo ganz hinten in seinem Kopf begann eine Bewegung, eine Erinnerung klopfte an, vorsichtig, aber hartnäckig.

„Ich weiß nicht, ob Du Dich an mich erinnerst“, hieß es in dem Brief. „Es ist fast zehn Jahre her, dass wir uns getroffen haben.“ Georg zwinkerte, und ganz allmählich kroch die Erinnerung weiter nach oben. „Unsere gemeinsame Zeit war kurz. Jedoch hat sie in meinem Leben sehr viel verändert.“ Bei dem nächsten Satz traf es Georg wie ein Schlag. Plötzlich wusste er, von wem der Brief stammte. „Es hat mich sehr verletzt, dass Du einfach verschwunden bist, aber ich habe das schon lange verarbeitet und Dir verziehen. Wir waren damals beide noch jung.“

Oh ja, sie waren jung gewesen. Mit einem Mal blitzten Bilder vor Georgs innerem Auge auf. Er spürte ein Ziehen im Magen und musste sich setzen, bevor er weiterlesen konnte.

„Was ich Dir schreibe, wird Dich überraschen“, stand da. „Aber bitte nimm Dir die Zeit, meine Zeilen bis zum Ende zu lesen.“

Das tat Georg. Zweimal las er Wort für Wort, was in dem Brief stand. Mit jedem Satz wuchs sein Unbehagen. Am liebsten hätte er den Brief zurück in den Briefkasten verbannt. Oder weggeworfen und sofort vergessen. Aber das war unmöglich. Seit Jahren hatte er Angst vor diesem Moment gehabt. Anfangs war sie groß gewesen und hatte ihn täglich begleitet. Aber in den letzten Jahren war nichts geschehen, und er hatte die Gedanken an damals immer mehr verdrängt und die Geschehnisse schließlich fast vergessen. Er hatte nicht mehr daran geglaubt, dass sein früheres Verhalten Folgen haben würde, zehn Jahre waren eine lange Zeit. Aber jetzt war es passiert. Er war entdeckt worden, und damit war die Bedrohung zu ihm zurückgekehrt.

Georg eilte ins Schlafzimmer, zog frische Kleidung aus dem Schrank und stopfte sie in eine Tasche. Den Brief schob er darunter. Noch wusste er nicht, was er tun sollte. Aber ihm war klar, dass er handeln musste. Denn wenn er nichts unternahm, geriet seine Familie in Gefahr. Im Flur zog er sich Jacke und saubere Schuhe an. Einen Moment blieb er stehen und blickte in die Wohnung. Auch wenn es ihm schwerfiel, es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehen. Er gab sich einen Ruck, trat nach draußen und zog die Tür hinter sich zu.

Mit großen Schritten marschierte er ins Tal hinunter. Niemand begegnete ihm auf dem Weg. Unten angekommen, schloss er das Auto auf, das wie immer am Ortsrand parkte, warf seine Tasche auf den Beifahrersitz und brauste los. Immerhin hatte er inzwischen entschieden, in welche Richtung er fahren würde.

Gipfelglück für Anfänger

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