Читать книгу Nimm den Himmel in die Hand - Mariella Loos - Страница 5
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Оглавление„Wir wollten gerade unser Begrüßungslied singen. Kommt rein.“
Marie starrte die Frau an. Sie hatte ein breites, wettergegerbtes Gesicht, eine weiß-blonde Kurzhaarfrisur und strahlte von einem Ohr zum anderen. Als Marie sich nicht bewegte, nickte die Frau einladend mit dem Kopf. „Trau dich nur. Du bist Marie, oder?“
Marie zwang sich zu einem Lächeln. „Ja.“
„Freut mich. Ich bin die Heidi.“ Mit festem Händedruck begrüßte die Frau Marie und zog sie gleichzeitig über die Türschwelle.
Die würde besser in die Seniorengruppe des Alpenvereins passen, schoss es Marie durch den Kopf. Oder in die Töpfergruppe der örtlichen Volkshochschule.
Stattdessen leitete Heidi offensichtlich die Krabbelgruppe im Josefszeller Gemeindezentrum. Der Gruppenraum lag im ersten Stock über der Turnhalle. Überall lagen Hüpf-, Werf- und Fahr-Spielzeuge aller Art verteilt, dazwischen stapelten sich Bauklötze, Bälle und Puppen. Auf den wenigen freien Bodenflächen hatten sich etwa zwanzig Teilnehmerinnen zu einem Kreis gruppiert. Die meisten mit einem Baby im Arm.
Jetzt schauten alle Frauen Marie erwartungsvoll entgegen, und sie konnte gerade noch den aufwallenden Fluchtreflex unterdrücken. Ich bin hier eindeutig falsch, dachte Marie. Laut sagte sie: „Freut mich auch.“
„Na dann, hereinspaziert“, säuselte Heidi und schob Marie auf den Kreis zu, worauf die Frauen zur Seite wichen und einen Platz frei machten. Heidi lächelte und deutete auf das Umhängepaket vor Maries Bauch. „Und das ist …?“
„Das ist Sophie“, antwortete Marie. Dabei hielt sie die Hände schützend um das Tragetuch mit ihrer Tochter. „Aber sie schläft. Vielleicht sollte ich lieber …“ Sie tat zwei Schritte nach hinten.
Doch Heidi griff nach Maries Arm und schob sie samt der schlafenden Sophie zurück in den Kreis. „Das ist kein Problem. Die Kleinen spüren die Gemeinschaft auch im Schlaf.“
Marie stöhnte insgeheim. Sie hatte keine Chance, hier schnell wieder rauszukommen, so viel stand fest.
Heidi klatschte in die Hände. „Na gut, dann fangen wir an.“
Zehn Minuten später wusste Marie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Fassungslos musterte sie die Mütter, die sich im Kreis an den Händen hielten oder ihre Babys schunkelten und dabei mit glücklichen Gesichtern Kinderlieder sangen.
Gerade waren die letzten Töne von „Es geht ein Bi-Ba-Butzemann“ verklungen. Zwei Frauen streckten die Hände immer noch wie zu einem Helm geformt über den Kopf, wo sie sie beim letzten „Fidibum“ hingesteckt hatten.
„Sehr schön!“ Das war Heidi. Sie klatschte in die Hände. „So, liebe Marie, jetzt bist du an der Reihe. Es ist bei uns üblich, dass jede neue Mutter einen Liederwunsch sagt. Was magst du denn?“
„Ähm, also, ich weiß nicht“, stotterte Marie. Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte in die Runde aufmunternd dreinblickender Frauengesichter.
„Nur keine Angst“, meinte Heidi.
„Also, das ist wirklich lieb von euch“, stammelte Marie. Dabei fiel ihr Blick auf die Frau zwei Positionen neben ihr, die immer noch die Hände über dem Kopf hielt. Plötzlich konnte Marie nicht mehr. Sie drehte sich ruckartig um und drückte die Hand vor den Mund. Um nicht laut loszuprusten, hüstelte sie mehrmals.
„Tut mir leid“, presste sie hervor. „Es war wirklich nett hier, aber ich muss los.“ Noch einmal hustete sie, dann packte sie ihre Jacke und hastete nach draußen.
Vor der Tür lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand und kicherte wie ein kleines Mädchen. Was für eine alberne Vorstellung! Warum trafen sich erwachsene Frauen und verbrachten ihre wertvolle Zeit damit, Butzemänner zu besingen, während die Kinder schliefen oder mit anderen Dingen beschäftigt waren?
Inzwischen hatte die Gruppe den Gesang wieder aufgenommen: Durch die gekippten Fenster hüpften „Zehn kleine Zappelmänner“ an Maries Ohren vorbei. Erst als sie die andere Seite des Platzes erreicht hatte, waren die Töne nicht mehr zu hören.
Marie atmete tief ein. Endlich wieder draußen! Ohne sich noch einmal umzuschauen, bog sie in die kleine Straße und ging bis zum Ortsrand, wo der Weg den Berg hinauf abzweigte. Einige Meter schlängelte er sich neben dem Bach durch die Landschaft, dann wurde er steiler. Nach kurzer Zeit war von dem freundlichen Plätschern des Wassers nichts mehr zu hören. Marie schnaufte und wischte sich die ersten Schweißtropfen vom Gesicht. Jetzt spürte sie Sophies Gewicht überdeutlich. Die Gurte des Tragetuchs zogen ihre Schultern nach unten, und sie musste sich konzentrieren, um im Nacken einigermaßen entspannt zu bleiben. Nach der kurzen Strecke durch den Wald wurde der Weg noch steiler.
Maries Herz pochte laut, und sie musste wieder an die Krabbelgruppe denken. Was hatte ihre Schwiegermutter sich nur dabei gedacht, sie dorthin zu schicken? „Du musst mit Sophie unter Leute“, hatte Christl gesagt, „die Kleine braucht Gesellschaft.“ Von wegen! In Zukunft würde Sophie mit in den Stall kommen, wenn sie Gesellschaft brauchte. Basta!
Völlig außer Atem kam Marie zu Hause auf dem Sonnhof an. Die Mittagssonne tauchte die junge Wiese in grelles Licht, und von der Hauswand strahlte ihr eine einladende Wärme entgegen. Kurz überlegte Marie, ob sie sich auf die Bank davor setzen, die Augen schließen und gemeinsam mit Sophie einen Mittagsschlaf halten sollte. Dann entschied sie sich anders und ging ins Haus.
Der Sonnhof war schon immer ihr zweites Zuhause gewesen. In ihrer Kindheit war Marie fast täglich hergekommen, um ihren besten Freund Georg zu besuchen. Gemeinsam hatten sie die Tiere versorgt und bei Christl und Max, Georgs Eltern, in der Küche gesessen. Obwohl ihr alles hier vertraut und ans Herz gewachsen war, war es für Marie nicht leicht gewesen, nach der Hochzeit mit Georg endgültig hierherzuziehen. Nur widerwillig hatte sie sich von ihrer gemütlichen Hütte auf der anderen Seite des Berges getrennt, wo sie zuvor gewohnt hatte. Aber für Sophie war das Leben hier, in der Nähe der Oma und umgeben von Wiesen und einem Hofleben, sicher schöner als die Einsamkeit dort oben. Und trotzdem … Manchmal vermisste Marie ihre alte Umgebung immer noch.
Marie legte die schlafende Sophie vorsichtig in ihr Gitterbett, holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und setzte sich vor den Computer im Wohnzimmer. Das rote Kuvert auf dem Bildschirm kündigte eine neue Nachricht an. Marie klickte auf das Symbol und las den Text. Es war die Einladung zur Eröffnung einer neuen Klinik für Gefäßkrankheiten in Österreich. Marie seufzte. Abgesehen davon, dass sie keine Zeit hatte, zu so einem Event zu reisen: Was hätte sie dort tun sollen? Und vor allem: Worüber hätte sie sich unterhalten sollen? „Ich war OP-Schwester, bis die einzige Klinik im Umkreis geschlossen hat. Jetzt bin ich Mutter und Bäuerin“, hätte sie erzählen können. Oder: „Ich hatte das Angebot, mit Ärzte ohne Grenzen nach Afrika zu gehen und danach die OP-Stationsleitung in dem neuen Krankenhaus zu übernehmen, das hier im Tal entstehen soll. Aber ich habe abgelehnt und wohne heute bei meinem Mann auf dem Hof und helfe beim Kühehüten.“
Auch wenn Marie zufrieden war mit ihrer Entscheidung: Bei solchen Anlässen spürte sie eine kleine Sehnsucht nach ihrem alten Leben. Sie schaltete den Computer aus und schlenderte zurück in die Küche. Vielleicht sollte sie anfangen zu kochen? Georg war die ganze Woche nicht zu Hause gewesen. Während seines vierwöchigen Landwirtschaftskurses in Rosenheim hatte er ein Zimmer in der Nähe des Seminarhauses gemietet. Heute Abend würde er heimkommen. Allerdings sicher nicht vor zwanzig Uhr, es war also sinnlos, jetzt schon ein Essen vorzubereiten. Marie runzelte die Stirn. Sie könnte Wäsche waschen. Oder putzen. In den Stall musste sie nicht, dafür war zurzeit der neue Hofhelfer Franz zuständig. Marie seufzte noch einmal. Sie hatte einfach keine Lust auf Hausarbeit. In letzter Zeit erschienen ihr die Tage so lang. Die Energie, mit der sie früher durchs Leben gehüpft war, hatte sich unter einer Decke aus Langeweile und Müdigkeit versteckt. Oft war Marie schon mittags so erschöpft, dass sie den ganzen Nachmittag auf dem Sofa verbrachte. Sophie störte das nicht, die war sechs Monate alt und schlief tagsüber viel.
Ein Schnaufen nebenan verkündete, dass Sophie jetzt wach war. Marie betrat das Kinderzimmer und musste lächeln, als sie die Kleine vor sich hinbrabbeln und mit den Ärmchen winken sah. Was für ein Geschenk dieses Kind war! Wie dumm von ihr, sich selbst zu bemitleiden, statt das Muttersein in vollen Zügen zu genießen!
Die nächsten zwei Stunden verbrachte sie damit, Sophie zu füttern und zu wickeln und gemeinsam mit ihr auf dem Boden zu spielen. Heute entschieden sie sich für die Rassel und ein Stoffbuch. Schließlich war Sophie wieder müde und ließ sich ohne Murren in ihr Bett legen.
Marie beobachtete fasziniert, wie der kleine Brustkorb sich hob und senkte und die Augen hinter den winzigen Lidern ihre Bewegungen einstellten. Als sie sicher war, dass Sophie fest schlief, schlüpfte sie in ihre Schuhe und ging vors Haus.
Die Sonne hatte sich hinter einen Wolkenschleier verzogen. Es würde noch ein paar Wochen dauern, bis der Sommer den Frühling ablöste. Marie fröstelte und zog die Strickjacke eng um den Körper. Während der Schwangerschaft hatte sie stark zugenommen, aber jetzt, ein halbes Jahr nach der Geburt, war ihr Körper dünner als vorher.
Obwohl die Bank an der Hauswand inzwischen im Schatten lag, war ihr Holz noch warm. Marie setzte sich und ließ den Blick über den Hof wandern. Auf einem sonnigen Fleck rekelte sich die kleine Katze und zwinkerte ihr zu. Dahinter erinnerte das karge Beet Marie an ihren erfolglosen Versuch, einen Rosengarten anzulegen wie vor ihrer Hütte. Plötzlich zog ein weißes Etwas im Zaun neben dem Eingang Maries Aufmerksamkeit auf sich. Sie stand auf und ging darauf zu. Es war ein Kuvert. Seit Georg den Hofbetrieb auf elektronische Kommunikation umgestellt hatte, erhielten sie nicht mehr viel Post. Wenn doch eine Sendung kam, hängte der Briefträger sie gern zwischen die Zaunlatten, statt sie in den Kasten zu stecken. Marie zog den Umschlag heraus. Es war ihm anzusehen, dass er schon eine Weile unterwegs war. Die Ecken waren abgewetzt, die Briefmarken hatten sich an den Rändern aufgewellt. Im Empfängerfeld stand Maries Name, einen Absender gab es nicht. Marie öffnete den Umschlag und fischte eine rosa Karte heraus. In der Mitte prangte ein gedruckter Text, der in Reimform zum Baby gratulierte. Darum angeordnet waren handschriftliche Notizen, persönliche Wünsche und Unterschriften. Marie entzifferte die Namen und las, was die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen geschrieben hatten. Ganz oben standen die Worte ihres früheren Chefs, Dr. Schröder. Er wünschte ihr persönlich alles Gute mit der neuen Familie und sandte die besten Wünsche.
Marie starrte auf die Zeilen. Es fühlte sich an, als liege ihr Abschied von Dr. Schröder Jahre zurück. Dabei war es gerade mal fünfzehn Monate her, dass er ihr das reizvollste Angebot ihrer beruflichen Karriere gemacht hatte. Gemeinsam mit ihm und seinem Team hätte sie in einer Spezialklinik für schwierige Operationen in Burkina Faso arbeiten sollen. Für die Zeit nach ihrer Rückkehr hatte der Chefarzt ihr die Leitung der OP-Abteilung in der neuen Klinik in Aussicht gestellt, die hier im Tal entstehen sollte. Marie war schon am Flughafen gewesen, als sie bemerkt hatte, dass sie schwanger war.
Die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Was sollte das jetzt? Sie würde doch nicht weinen, weil sie statt in der Entwicklungshilfe in Afrika zu Hause bei Mann und Kind war! Marie schluckte die Tränen hinunter, steckte die Karte in die Hosentasche und ging mit energischen Schritten über den Hof auf die Scheune zu.
Früher hatten Georgs Eltern in dem kleinen Holzhäuschen das Heu für die Kühe gelagert. Vor ein paar Jahren hatte es eine Futterumstellung gegeben. Seitdem wurde die Scheune hauptsächlich als Gerümpellager genutzt. Und bis vor seinem Tod vor einem halben Jahr als Zuhause für Boris, das altersschwache Pferd, das sie zur Pflege übernommen hatten, als der benachbarte Pferdehof den Betrieb aufgegeben hatte.
Ohne selbst den Grund dafür zu wissen, zog Marie die Holztür auf und betrat die Scheune. Ein Geruch nach Heu und Tier schlug ihr entgegen. Mit einem Mal zog sich ihr Magen zusammen. Die Abwesenheit von Boris war so spürbar, dass Marie übel wurde. Sie hatte sich noch lange nicht daran gewöhnt, dass er nicht mehr da war. Früher war sie jeden Tag gekommen, um ihn zu versorgen, und auch wenn er nicht ihr eigenes Pferd war, wusste jeder, dass sie und Boris zusammengehörten. Für Marie war der graue Trakehner ein Freund gewesen. Sie setzte sich auf den Boden und atmete tief ein und aus. Dann schloss sie die Augen. Was war los mit ihr? Warum konnte sie sich nicht über ihr Leben freuen? Warum reichte es ihr nicht, sich um ihre Tochter zu kümmern, so wie andere Mütter? Was fehlte ihr? Zu ihrer Unzufriedenheit gesellte sich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur so undankbar sein? Ihr ging es gut, sie hatte ein gesundes Kind, einen Mann, der sie liebte, und einen Hof für sich und ihre Familie. Dennoch vermisste sie irgendetwas. Aber was? War es die Arbeit? Marie war gerne OP-Schwester gewesen, doch im Moment hatte sie keine Chance, in den Beruf zurückzukehren. Die nächste Klinik war kilometerweit entfernt, und es war undenkbar, dort im Schichtdienst zu arbeiten. Davon abgesehen wollte sie Sophie bei niemandem für längere Zeit in Obhut lassen. Andererseits würde sie es nicht aushalten, die nächsten Jahre als Mutter und Hausfrau auf dem Hof zu verbringen. Was könnte sie tun? Einen anderen Beruf als OP-Schwester hatte sie nicht gelernt. Irgendeine Tätigkeit, die sie besonders gut konnte? Nein, ihr fiel nichts ein. Außer …
Marie öffnete die Augen und blinzelte. Doch, da gab es etwas. Bei dem Gedanken löste sich der Druck auf ihrem Magen. Oh ja, das war eine geniale Idee! Marie sprang auf und rannte zurück ins Haus. Ihr Trübsinn war wie weggeblasen. Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen? Sie schaute auf die Uhr – noch mindestens zwei Stunden, bis Georg vor der Tür stand. Dann würde sie ihm alles erzählen. Er würde ihre Begeisterung teilen, ganz sicher. Marie pfiff fröhlich vor sich hin und öffnete den Kühlschrank, um die Zutaten für das Abendessen herauszuholen und die Flasche Champagner hineinzustellen, die sie für besondere Anlässe gekauft hatten.