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Marie setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Offenbar war sie auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen. Ein Geräusch hatte sie geweckt. Es kam aus dem Flur. Als Marie die Füße auf den kalten Boden stellte, merkte sie, wie steif ihre Beine waren. Mit einem „Klick“ sprang die Stehlampe an, und Georgs Kopf erschien in der Tür. Er lächelte.

„Oh, du bist noch wach, super. Es war so leise im Haus, ich dachte schon, ihr schlaft beide.“

Marie ging auf ihn zu und umarmte ihn. „Sophie ist schon lange im Bett, und ich bin hier kurz eingenickt. Wie spät ist es?“

„Fast halb elf.“ In Georgs Stimme schwang Bedauern mit. „Tut mir leid, dass ich so spät bin.“ Er küsste Marie auf den Mund, dann fasste er sie an der Hand und zog sie zurück ins Wohnzimmer. „Dafür habe ich dir etwas mitgebracht.“

Marie roch den Alkohol in seinem Atem. Das war ungewöhnlich, Georg trank so gut wie nie. „Hast du …“, fing sie an.

„Hab ich was?“

„Ach nichts.“ Marie wusste selber nicht, warum sie den Satz nicht zu Ende führte.

Georg griff in die Hosentasche und holte eine kleine Papiertüte heraus. „Für dich.“

„Danke.“ Behutsam schüttete Marie den Inhalt in ihre Hand. Es waren zwei rosafarbene Ohrstecker und eine silberne Kette mit einem Anhänger in Tropfenform. Sie schob sich die Haare hinter die Ohren und steckte die Stecker in die Ohren. „Danke“, sagte sie noch einmal und lächelte. Die Kette ließ sie in die Hosentasche gleiten.

„Gefallen sie dir?“, fragte Georg.

Marie zögerte kurz, dann nickte sie. „Schon. Aber wenn du mir Geschenke machst, hat das meistens einen Grund.“

Georg grinste, als sei er ertappt worden. „Wieso? Ich wollte dir einfach was mitbringen.“ Er nahm Marie in den Arm, drückte sie und hob sie ein Stück vom Boden hoch. „Ich habe noch eine Überraschung für dich.“

Jetzt war Marie endgültig wach. „Echt? Ich auch.“

Zehn Minuten später saßen sie sich am Tisch in der Küche gegenüber. Marie hatte Kakao gekocht und jedem einen dampfenden Becher hingestellt. Ihr Bauch kribbelte, und sie hielt sich mit den Händen an der Tasse fest. Sie kannte Georg. Er brauchte immer Zeit, um sich auf ein wichtiges Gespräch einzustimmen. Deswegen hatte sie beschlossen, sich erst seine Neuigkeiten anzuhören. „Fang du an.“

Georg fuhr sich durch die Haare und holte tief Luft. „Du weißt, dass ich bei der Cousine meiner Mutter war. Sie heißt Ursula. Ihre Familie hat bis vor Kurzem irgendwo in Norddeutschland gewohnt. Ich hab sie zum letzten Mal getroffen, als ich ein Kind war. Vor ein paar Monaten ist sie mit ihrer Tochter hierher in den Süden gezogen.“

Marie zog fragend die Brauen hoch, während Georg weiterredete.

„Sie wohnen am Stadtrand, ich bin mit Straßenbahn hingefahren. Ursula hat sich wahnsinnig gefreut, mich zu sehen. Am Anfang waren wir allein und sie hat gleich erzählt, was los ist und warum sie sich bei mir gemeldet hat. Es geht um ihre Tochter. Angie ist mit der Schule fertig und weiß nicht, was sie jetzt anfangen soll. Ursula sorgt sich um sie.“

„Wie alt ist das Mädchen?“

„Siebzehn. Scheint total schwierig zu sein. Hat komische Freunde, hängt nur rum. Ihre Mutter befürchtet, dass sie auf die schiefe Bahn gerät.“

„Und was hast du damit zu tun?“

„Ursula meint, Angie bräuchte dringend eine Beschäftigung. Als kleines Mädchen hat sie sich total für Tiere und Bauernhöfe interessiert.“

Allmählich ahnte Marie, worauf das Ganze hinauslief. „Das Mädchen soll uns besuchen?“

„So ungefähr. Ursula hat vorgeschlagen, dass Angie ein Praktikum bei uns macht. Sie hat den ganzen Sommer Zeit und kann mitarbeiten, die Tiere versorgen, beim Umbau helfen. Und sie könnte sich ab und zu um Sophie kümmern.“

Marie runzelte die Stirn. Irgendetwas an dem Plan stimmte nicht, sie war nur noch nicht dahintergekommen, was es war.

Georg redete jetzt schneller. „Ich finde das super. Wir unterstützen meine Familie und bekommen gleichzeitig Hilfe. Du bist nicht mehr so allein. Wenn ich wieder zurück bin, kann ich Angie mit aufs Feld nehmen oder sie kann einkaufen, kochen, alles eben.“

Marie kaute auf der Unterlippe. Wo war der Haken?

„Weiß nicht. Wie lange soll sie bleiben? Und wo soll sie wohnen?“

Seit Christl ins obere Stockwerk gezogen war, bewohnten Marie und Georg mit Sophie die Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss. Ein Gästezimmer gab es nicht.

„Ich dachte, erst einmal bei Christl, solange die mit deinen Eltern verreist ist“, erwiderte Georg. „Und dann bau ich die Scheune um. Wenn wir ein bisschen isolieren und Bad und Küchenzeile einbauen, kann man da bequem wohnen. Das hatte ich mir schon länger überlegt. Später können wir vielleicht vermieten. Ich kann gleich dieses Wochenende anfangen. Was meinst du?“

Da war er, der Haken.

„Nein, das geht nicht.“

„Doch, das ist kein Problem. Markus hat schon zugesagt, dass er beim Umbau hilft.“

„Nein.“ Marie sprang auf und stützte sich auf den Tisch. „Das geht eben nicht. Ich brauche die Scheune. Das wollte ich dir gerade sagen.“

„Was? Wozu brauchst du die Scheune?“

„Hör zu“, antwortete Marie. Sie setzte sich wieder und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. „Ich habe in der Woche viel nachgedacht. Ich bin in letzter Zeit so schlapp und so müde.“

Georg runzelte die Stirn. „Bist du krank?“

Marie schüttelte den Kopf. „Nein, das will ich dir ja gerade erklären. Meinem Körper fehlt nichts. Es ist etwas anderes. Boris fehlt mir. Der Umgang mit Pferden. Und mein Beruf.“

„Aha.“

„Ja. Ich muss dringend etwas ändern. Und ich hab auch schon eine Idee.“ Marie machte eine kleine Spannungspause, danach beugte sie sich vor und wurde etwas lauter. „Ich werde in unserer Scheune eine Pferdepension eröffnen.“

Jetzt war es heraus. Marie starrte Georg an und suchte in seinem Gesicht nach den Anzeichen der Begeisterung, auf die sie sich den ganzen Nachmittag gefreut hatte. Leider kamen sie nicht. Stattdessen runzelte Georg die Stirn. „Wie stellst du dir das vor? Wir haben weder Platz noch Geld, um einen weiteren Stall zu bauen.“

Marie schüttelte den Kopf. „Müssen wir auch nicht. Wir benötigen wirklich nur die Scheune. Wenn wir es geschickt anstellen, ist dort genug Platz für drei bis vier Boxen. Außerdem sollten wir den Zaun versetzen, dann können wir vor der Scheune eine schöne Freifläche schaffen.“

Georg schien immer noch nicht überzeugt, also redete Marie weiter.

„Das wird funktionieren, da bin ich ganz sicher. Es gibt so viele Leute, die einen guten Platz für ihr Pferd suchen. Und wir haben ein tolles Gelände. Ich würde das wirklich gerne machen. Ich kann die Pferde versorgen. Vielleicht können wir uns auch um kranke Pferde kümmern. Was meinst du, wie schön das für Sophie wird!“ Marie wurde immer aufgeregter. „Komm schon, Georg, das ist doch eine Wahnsinnsidee. Ich kann dann von hier aus arbeiten, etwas Sinnvolles tun und bin trotzdem für Sophie und den Hof da. Geld verdienen können wir auch, du glaubst gar nicht, was solche Pensionsplätze kosten.“

Georg hatte ihr zugehört, ohne eine Miene zu verziehen. Was war los mit ihm? Warum beglückwünschte er sie nicht zu ihrem genialen Einfall?

Georg zog die Brauen hoch und legte die Handrücken auf den Tisch. „Marie, wie soll das gehen? Du schaffst es doch jetzt schon kaum mit der Arbeit.“ Er schüttelte den Kopf. „Sei mir nicht bös, aber das alles gefällt mir nicht. Außerdem: Wo soll Angie dann wohnen?“

Marie starrte ihn fassungslos an. „Wieso Angie? Ich hab doch gar nicht gesagt, dass sie kommen soll.“

„Aber ich. Immerhin ist sie meine Familie, und ihre Mutter hat mich um Hilfe gebeten. Da kann ich unmöglich Nein sagen.“

Marie seufzte unwillig. „Wenn es sein muss, dann von mir aus. Sie muss ja nicht unbedingt in der Scheune wohnen. Wir finden bestimmt eine andere Lösung. Vielleicht kann sie bei Christl oben bleiben oder hier im Wohnzimmer schlafen oder …“

Georg unterbrach sie. „Nein. Sie muss in der Scheune wohnen.“

Marie fiel die Kinnlade herunter. „Warum?“

„Weil, weil …“ Georg haute mit der Hand auf den Tisch. „Weil ich es versprochen habe. Das Mädel ist kompliziert. Sie wollte auf keinen Fall mit. Erst als sie das mit der Scheune gehört hat, hat sie sich überreden lassen.“

Langsam, aber sicher fing das Gespräch an, Marie auf die Nerven zu fallen. „Moment. Verstehe ich das richtig? Du hast sie hierher eingeladen und versprochen, dass sie in der Scheune wohnen darf? In unserer Scheune? Die ich für meine berufliche Zukunft brauche?“

Georg verdrehte die Augen. „Verdammt, Marie. Woher sollte ich wissen, dass du so einen verrückten Plan hast!“

Mit einem Knall schlug Marie die Fäuste auf den Tisch. „Verrückter Plan? Spinnst du? Du holst irgendein Mädchen auf den Hof, ohne mich vorher zu fragen, versprichst ihr meine Scheune und sagst, mein Plan sei verrückt?“

„Moment!“ Jetzt sprang Georg auf. „Wieso deine Scheune? Und warum sollte ich dich fragen? Du solltest froh sein, dass ich dir helfen will! Außerdem ist Angie nicht irgendein Mädchen, sie ist meine Cousine!“

Das war Marie zu viel. Sie schnellte hoch und baute sich vor Georg auf. „Ach, so ist das. Diese Tante, die du seit hundert Jahren nicht gesehen hast, schnippt mit dem Finger, und du rennst sofort los und holst ihre Tochter – deine ‚Cousine‘ – zu uns. Und dann erwartest du, dass ich mich freue und mich auch noch bedanke. Das ist nicht dein Ernst, oder?“

Auf einmal erschien ein Kopf in der Küchentür.

„Störe ich? Ich habe geklopft, aber ihr wart so laut. Die Tür war angelehnt.“

Marie fuhr herum. Ihr blieb der Mund offen stehen. In die Küche trat ein Mädchen, das aussah wie aus einem Modekatalog. Lange Beine, kurzes Shirt, blonde Haare bis zum Po. Als sie Marie die Hand entgegenstreckte, schimmerten ihre Nägel rosa und ihre Zähne weiß. „Ich bin Angie. Danke, dass ich kommen durfte.“

Im selben Moment ertönte ein Schrei aus dem Kinderzimmer. Marie drehte sich um und rannte wortlos aus der Küche. Zu gerne hätte sie die Tür hinter sich zugeknallt, beherrschte sich aber in letzter Sekunde, um Sophie nicht zu erschrecken.

Nimm den Himmel in die Hand

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