Читать книгу Paris. Eine Stadt in Biographien - Marina Bohlmann-Modersohn - Страница 10

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VOLTAIRE

1694–1778

Der große Aufklärer aus Paris sah die Philosophie als das »einzige Heilpflaster, das man auf die Wunden legen kann, die man von allen Seiten empfängt. Es heilt nicht, aber es lindert. Und das ist viel«.

War es, eigenen Angaben zufolge, der 20. Februar 1694 oder der 21. November desselben Jahres, an dem François Arouet, berühmt geworden unter dem Pseudonym Voltaire, in Paris geboren wurde? Sein genaues Geburtsdatum konnte bis heute nicht nachgewiesen werden. Aber man weiß, dass die Wiege des Wunderkindes dort stand, wo einst die alte Königsburg war und sich heute der mächtige Palais de Justice ( ▶ F 5) erhebt. Im Herzen der Stadt also, an die Südseite der kleinen Palastkapelle Sainte-Chapelle grenzend.

Hier hatten die Eltern, François Arouet und seine adlige Frau Marie Catherine Daumart de Mauléon, eine Dienstwohnung bezogen. Als Notar am Pariser Justizpalast stand sie dem Vater zu. Bis zu seinem Arbeitsplatz waren es nur wenige Meter.

Die Mutter stirbt früh, der Junge ist gerade mal sieben Jahre alt. Mit neun schickt ihn der Vater zu den Jesuiten auf das teure Internat Collège Louis-le-Grand in der Rue Saint-Jacques im Quartier Latin, gleich gegenüber der Universität Sorbonne 42 ( ▶ F 6). Eine exklusive Schule, auf der die Söhne der führenden Familien Frankreichs erzogen werden. Noch heute dient das traditionsreiche Gymnasium als Sprungbrett für ein Studium an den Pariser Elitehochschulen. François Arouet macht mit 17 seinen Abschluss und beginnt, dem Wunsch des Vaters folgend und eher widerwillig, mit dem Jurastudium, das bricht er aber bald schon wieder ab. Er wird Gehilfe in einer Anwaltskanzlei. Alles, was den Vielleser wirklich interessiert, ist die Literatur. Eigentlich möchte er Schriftsteller werden, aber ihm ist auch bewusst: Wenn er als freier Autor überleben will, muss er sich von der königlichen Familie protegiert wissen. Im elterlichen Salon hatte der wache Knabe die Kunst der Konversation und einen kosmopolitischen Lebensstil kennengelernt. Bei den Arouets gehen Advokaten und Professoren ein und aus, Mitglieder der Bourgeoisie, zu der Ärzte, Kaufleute, Professoren, Finanziers und auch Aristokraten gehörten.

Das Café Procope 9 ( ▶ E 5) in der Rue de l’Ancienne Comédie gibt es seit mehr als 400 Jahren, bis heute ist es ein gut frequentiertes Restaurant. Seinen Namen verdankt es dem Sizilianer Francesco Procopio, der 1670 nach Paris gekommen war. Es gilt als ältestes Kaffeehaus der Welt, und die kleine Straße im Herzen von Saint-Germain heißt Rue de l’Ancienne Comédie, weil sich gleich gegenüber dem Café das Theater der königlichen Schauspieltruppe »Comédie du Roy« befand. Aus dieser Truppe ging die Staatsschauspielgruppe Comédie Française hervor.

Die Comédie Française 13 ( ▶ E 3) ist Frankreichs ältestes Nationaltheater. Seit 300 Jahren widmet sich das Haus den Klassikern Racine, Corneille und Molière. Im Foyer steht jener Sessel, auf dem Molière in seiner Rolle des eingebildeten Kranken (»Le malade imaginaire«) am 17. Februar 1673 saß, als ihn ein fürchterliches Unwohlsein befiel. Der Todkranke wurde nach Hause getragen, wo er nach einem Hustenanfall an einem Blutsturz starb.

Zurück zum Café Procope. Montesquieu besucht es, auch Jean-Jacques Rousseau. Vernetzt durch einen regen Briefverkehr, macht sich im Procope die politische Opposition des vorrevolutionären Frankreich Gedanken über eine neue Staatslehre, der eine freiheitliche Verfassung zugrunde liegen soll.

Gemeinsam mit dem Mathematiker und Physiker Jean Baptiste Le Rond d’Alembert gibt Denis Diderot seine »Encyclopédie«, die »Enzyklopädie oder das allumfassende Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe«, heraus, das Hauptwerk der Aufklärung. Es erscheint von 1751 bis 1765 in 17 Text- und elf Bildbänden.

Zu den Autoren zählen die besten Köpfe des Jahrhunderts, darunter auch ein gewisser »Monsieur de Voltaire«. Mit diesem Adelsnamen unterzeichnet der Sohn des Bourgeois Arouet seine Schriften seit der erfolgreichen Premiere seiner Tragödie »Oedipe« an der führenden Pariser Bühne Comédie Française.

Voltaires Stammtisch steht noch heute im Procope. Geht man weiter in die Rue de Mazarine, kommt man zu einem versteckten Platz mit einer marmornen Skulptur. Die spöttisch lächelnde Gestalt mit der hohen Stirn stellt Voltaire dar. Wenige Schritte von hier, am Quai Voltaire Nr. 27 ( ▶ E 4), erinnert eine Gedenktafel an den Philosophen, der 1778 in diesem Haus starb.

Am 4. Februar 1726 war Voltaire nach einer skandalösen Auseinandersetzung mit dem Spross einer der führenden Familien Frankreichs wieder einmal in die Bastille eingeliefert worden. Diese einflussreiche Familie Rohan hatte es doch bei der Pariser Regierung tatsächlich durchgesetzt, dass er aus Frankreich entfernt wurde. Voltaire reiste nach London. Seine Emigration dauerte mehr als zwei Jahre. Die politischen Verhältnisse »im Land der Freiheit« beeindruckten ihn. Sie sicherten allen Bürgern, vom Adligen bis zum Arbeiter, per Gesetz Gedankenfreiheit und ein menschenwürdiges Dasein zu. Überhaupt war England auf dem Gebiet der Aufklärung bereits ein wesentliches Stück weiter als der Rest Europas. Voltaire schrieb. Die Kritik an den Zuständen der französischen Monarchie ist in Voltaires »Lettres philosophiques« (»Philosophische Briefe«) unüberhörbar.

VOLTAIRES BUCH WIRD VERBRANNT

Ein Manifest voller Sprengstoff. Voltaire weiß das genau, lässt das Buch, zurück in Paris, dennoch heimlich drucken und in den Salons vertreiben. Kein Wunder, dass sich König und Kirche über den Hofpoeten ärgern. Die Behörden beschlagnahmen das Buch als staatsgefährdend und verbrennen es. Aus Furcht vor Verfolgung verschwindet Voltaire erneut aus Paris. Das Glück will es, dass er kürzlich bei einem Dîner die elf Jahre jüngere Marquise Emilie du Châtelet kennengelernt hat, die ihm, mit dem Einverständnis ihres Mannes, auf ihrem Schloss in der Champagne Zuflucht gewährt und ab Juli 1734 seine Geliebte wird.

Dank der Beziehungen, die diese vielseitig begabte, vor allem literarisch interessierte Frau zu den Pariser Behörden hat, kann der Philosoph hier auf dem idyllischen Land ein relativ ungestörtes, mondänes Leben führen. Nach 15 Jahren von ihm gelangweilt, wendet sich die Marquise einem neuen Liebhaber zu, erwartet ein Kind und stirbt 1749 im Kindbett. Voltaire ist erschüttert. »Ich habe die Hälfte von meinem Selbst verloren, einen Geist, der meinen vollendet ergänzt«, schreibt er über den Verlust. Das bedeutet den Abschied von Cirey und die Übersiedlung in sein Haus in der Rue Traversière, die heute Rue Molière ( ▶ E 3) heißt.

An der Stelle des Hauses Nummer 43 stand ein Palais, das Voltaire und die Marquise de Châtelet bewohnten, wenn sie in Paris waren. Von hier aus folgt der vermögende und bewunderte Literat im Juni 1750 einer Einladung Friedrich II. von Preußen nach Potsdam. Als er nach über drei Jahren und völlig zerstritten mit dem preußischen Herrscher von Berlin nach Paris zurückkehren möchte, gibt der französische Hof ihm zu verstehen, dass König und Minister kein Interesse haben, ihn wieder aufzunehmen.

1754 zieht Voltaire, inzwischen 60 und Frankreichs berühmtester Schriftsteller, mit seiner Nichte Marie-Louise in die französische Schweiz. Auf seinem Landsitz empfängt der »ungekrönte König Europas« Gäste aus allen Winkeln des Kontinents. Flugblätter, Romane, Erzählungen – das Arbeitspensum des Philosophen umfasst bis zu 18 Stunden täglich. Nahezu 14 000 Briefe entstammen seiner Feder. Jetzt, wo er weder höfische noch andere Pflichten hat und fern von Paris lebt, ist seine literarische Produktivität so groß wie nie zuvor. Sein Roman »Candide« wird ein Meisterwerk, und der Erfolg des »Philosophischen Wörterbuchs«, eine visionäre Zusammenfassung seiner philosophischen Gedanken über Toleranz, Menschenrechte und Gedankenfreiheit, ist sensationell.

DAS SCHAUERLICHE FINALE NACH VOLTAIRES TOD

Februar 1778. Voltaire ist über 80 Jahre alt und schwer krank. Noch einmal möchte er seine Heimatstadt Paris sehen. Die Einreise wird ihm zwar nicht verweigert, aber der König lässt verkünden, er lege auf eine Begegnung mit dem rebellischen Literaten keinen Wert. Ganz anders das Pariser Volk. Es säumt die Straßen und jubelt, als die Kutsche mit dem alten Herrn einfährt.

Nach der triumphalen Aufführung seines Dramas »Irène« am 30. Mai 1778 in der Comédie Française wird Voltaire, mittlerweile 83, als Held gefeiert, während er zu Hause im Sterben liegt. Voltaire wünscht sich ein kirchliches Begräbnis, verweigert aber auf dem Totenbett die Kommunion. Er stirbt noch am selben Abend.

Kein Nachruf, kein Staatsbegräbnis, keine kirchliche, nicht einmal eine einfache Bestattung. Dass es so kommen würde, darüber war sich Voltaires Familie schon vor seinem Tod einig. Darum wurde noch in der Todesnacht ein Arzt gerufen, der den Leichnam sezierte und einbalsamierte. Das Gehirn des Verstorbenen behielt der Arzt, Voltaires Herz wurde dem Marquis de Vilette, Erbe von Ferney, zur Aufbewahrung gegeben.

Kaum vorstellbar, was dann geschah: Mit Hausrock und Nachtmütze bekleidet setzt man den Toten in eine Kutsche und fährt in die Champagne. Der Abt von Scellières, ein Neffe Voltaires, will eine kirchliche Bestattung für seinen Onkel. Was ihm zwar gelingt, aber zu seiner Amtsentlassung führt.

Erst im Zuge der Revolution beschließt die Nationalversammlung, Voltaire an seinem 13. Todestag am 30. Mai 1791 in das Pariser Panthéon 36 ( ▶ F 6) zu überführen. Doch damit ist dem großen Mann immer noch nicht seine ewige Ruhe vergönnt. 1814 brechen rechtsextreme Monarchisten den Sarg auf und verbuddeln seine sterblichen Überreste auf einem Stück Acker nahe der Seine. Sie sind nie mehr gefunden worden.

Übrig geblieben ist das Herz des großen Aufklärers. Es liegt in einer großen goldenen Urne und wird in der Bibliothèque Nationale 5 ( ▶ E 3) im Zentrum der Stadt aufbewahrt.

BIBLIOTHÈQUE NATIONALE 5E 3

4, rue Vivienne, 2. Arr.

www.bnf.fr

▶ Métro: Bourse

CAFÉ PROCOPE 9E 5

Rue de l’Ancienne Comédie, 6. Arr.

www.procope.com

▶ Métro: St-Germain-des-Prés

COMÉDIE FRANÇAISE 13E 3

2, rue de Richelieu, 1. Arr.

www.comedie-francaise.fr

▶ Métro: Palais Royal Musée du Louvre

PANTHÉON 36F 6

Pl. du Panthéon, 5. Arr.

www.pantheonparis.com

▶ RER: Luxembourg

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