Читать книгу Weil du nur einmal lebst - Marina Selle - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеFrisch geduscht und umgezogen machten wir uns schließlich auf den Weg in den Ort. Die Sonne war bereits tief am Himmel und tauchte alles in ein goldenes, warmes Licht.
Das war meine Lieblingstageszeit. Der Abend. Vor allem im Sommer, wenn es nicht dunkel wurde und es einem so vorkam, als würde es die Zeit und mit ihr all die Regeln und Sorgen nicht geben. Wir fuhren knappe zehn Minuten mit dem Auto, dann waren wir im Ort angekommen. Es war ein ziemlich kleiner Ort und allmählich wunderte ich mich nicht mehr, dass es hier keinen Bahnhof gab. Wir fuhren ein paar Umwege, weil Maddie mir die Stadt zeigen wollte und so bekam ich einen kleinen Überblick von ihrer Heimat.
Es gab zwei Bäckereien, eine kleine Bücherei, eine Kirche mit einem wunderschönen, gepflasterten Platz davor, eine Hand voll Restaurants und Cafés, zwei Eisdielen, einen Fastfood-Imbiss und ein kleines Geschäft das sich Tulip nannte.
Im Schaufenster lagen Schuhe, Portemonnaies, Schubladengriffe, Tischdecken und Schmuck aus. Maddie erklärte mir, dass man dort alles kaufen konnte, was eigentlich kein Mensch brauchte und dass sie gerade deshalb so gerne dorthin ging. Weiter außerhalb gab es unzählige Bauernhöfe mit eigenen kleinen Hofläden oder einem kleinen Stand an der Straße, die allerdings nie von irgendwem bewacht wurden. Man konnte sich einfach das wegnehmen, was man haben wollte und dann das Geld dafür in eine kleine Spardose werfen.
Ich war sehr erstaunt darüber, wie vertrauensvoll die Leute hier miteinander umzugehen schienen, aber gleichzeitig war ich auch ziemlich beeindruckt.
Bei mir zu Hause wäre so etwas nicht vorstellbar, da war ich mir sicher.
Wir fuhren zu einem Restaurant, das etwas außerhalb der Stadt lag.
Es war klein und wirkte sehr gemütlich, als wir dort ankamen. Es lag an einem kleinen See und es gab sowohl innen einen Essraum als auch außen, eine große Terrasse direkt am Wasser, auf der einige Tische standen.
Das Restaurant war überraschend gut besucht, aber es waren noch ein paar Tische frei. Wir beschlossen, uns auf die Terrasse zu setzen, die jetzt im Abendlicht von Kerzen beleuchtet wurde.
Wir setzten uns an einen Tisch ganz am Rand der Terrasse, sodass wir einen guten Blick auf den See hatten. Jemand hatte kleine Papierboote gefaltet und Teelichter hineingestellt und sie dann auf der Wasseroberfläche verteilt.
Es sah wirklich wunderschön aus.
„Guten Abend. Was kann…Oh hallo Maddie! Schön dich mal wieder hier zu sehen!
Wie geht es dir?“, fragte die Kellnerin.
Ich sah sie ein wenig verwundert an, aber hier kannte wohl jeder jeden.
„Gut“, sagte Maddie, „danke. Und dir?“
„Ja, es geht. Es hat sich nicht viel geändert, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben. Rosie geht es immer noch nicht besser und ich bin ehrlich gesagt auch ziemlich am Ende mit meinen Nerven, aber was kann ich schon machen? Ich habe alles ausprobiert, aber nichts hat geholfen. Ist das etwa deine Nichte? Lory, nicht wahr? Ich bin Amanda, Maddies alte Schulfreundin. Sie hat mir erzählt, dass du für den Sommer kommen würdest. Schön, dich mal kennen zu lernen.“
„Ja, hi“, sagte ich etwas schüchtern und wusste nicht so recht, was ich jetzt tun sollte.
Aber Maddie fragte auch schon weiter.
„Wie geht es Rosie denn?“
Sie klang ziemlich besorgt dabei, aber ich wusste nicht, um wen es sich dabei handeln könnte. Mad hatte in meiner Gegenwart noch niemanden namens Rosie erwähnt. Der Gesichtsausdruck von Amanda veränderte sich plötzlich. Man sah ihr deutlich an, dass sie eigentlich lieber nicht darüber reden wollte, aber meine Tante schien das nicht zu bemerken. Oder sie übersah es einfach.
„Sie will nicht mehr aus dem Haus gehen“, sagte sie mit gesenkter Stimme. „Das geht jetzt seit mehr als einer Woche so, und seitdem ist sie so verzweifelt, dass sie sich nur noch vom Bett bis zum Kühlschrank und zur Toilette bewegt. Es ist schrecklich. Ich meine, das kenne ich überhaupt nicht von ihr.“
Amandas Augen waren voller Besorgnis bei diesen Worten und es versetzte mir einen kleinen Stich, als ich das sah. Ich wusste zwar nach wie vor nicht, wer diese Rosie war, aber Amanda schien sehr an ihr zu hängen. Wahrscheinlich war es ihre Mutter, die langsam aber sicher auf den Tod zusteuerte.
„Das tut mir wirklich sehr leid“, sagte meine Tante mitleidig und sah Amanda in die Augen.
Diese nickte dankend und fragte uns dann nach unseren Geränkewünschen.
Wir bestellten und Amanda verschwand wieder im Restaurant.
„Wer ist diese Rosie?“, fragte ich schließlich, „ihre Mutter?“
Ein Grinsen legte sich auf Maddies Gesicht.
„Ihre Mutter? Nein, die ist schon lange tot. Sie war einen nervige, alte Nörglerin, aber irgendwie mochten sie doch alle. Ich weiß bis heute nicht warum, aber sie hatte so etwas an sich...“ „Na und wer ist Rosie dann?“, fragte ich noch einmal, weil ich das Gefühl hatte, dass Maddie meiner Frage aus dem Weg zu gehen versuchte.
„Es ist ihre Tochter“, sagte sie nach einem kurzen Zögern, „sie hat akute Leukämie.
Du weißt doch was das ist oder?“
Ich nickte. „Blutkrebs.“
„Ja“, sagte meine Tante und sah auf den stillen Teich.
„Sie ist ein wirklich fröhliches und aufgeschlossenes Mädchen gewesen, bis vor einer Woche. Sie war eine echte Träumerin, sie hat gerne Geschichten erzählt, Abenteuer erlebt und all solche Dinge. Sie war so lebensbejahend. Aber dann hat der Arzt vor einer Woche diese schlimme Diagnose gestellt und jetzt geht es ihr, wie du gehört hast, wirklich schlecht. Sie liegt von morgens bis abends in ihrem Bett und liest oder hört CDs. Manchmal macht sie auch gar nichts. Sie liegt dann da und starrt aus dem Fenster oder sie weint. Sie weint viel in letzter Zeit…“
Wow. Das musste ich erst einmal verdauen. Plötzlich hatte ich überhaupt keinen Hunger mehr und ich wollte nicht mehr hier in diesem Restaurant sitzen.
„Wie alt ist sie?“, fragte ich neugierig, obwohl ich mich fragte, ob das eigentlich groß einen Unterschied machte. Es muss immer unendlich schwer sein, einen geliebten Menschen zu verlieren, ob es nun ein dreijähriges Kind oder eine siebzig jährige Rentnerin war.
„18.“
Genauso alt wie ich. Ich schluckte. Kurz stellte ich mir vor, was ich wohl tun würde, wenn ich so eine schlimme Krankheit hätte, aber ich schob den Gedanken schnell wieder weg. Es war eine schreckliche Vorstellung, die ich mir nicht weiter ausmalen wollte.
Zum Glück unterbrach Amanda meine Gedanken, als sie die Getränke brachte.
„So, eine große Limonade und eine Apfelschorle, bitte sehr. Was möchtet ihr essen?“
Nach einer weiteren Stunde hatten wir das Restaurant wieder verlassen.
Das Essen war lecker, aber ich hatte es nicht richtig genießen können.
Ich war sehr empfindlich, was schlimme Neuigkeiten anging, sie schlugen mir immer ziemlich auf den Magen.
Auf der Rückfahrt sprachen wir kaum ein Wort.
Maddie erzählte mir, dass sie morgen früh einen Termin im Rathaus hatte.
Es war wegen irgendetwas, das für die Pension geklärt werden musste, mehr habe ich aber auch nicht verstanden. Ich habe ehrlich gesagt auch nicht richtig zugehört. Jedenfalls würde ich morgen früh alleine zu Hause sein, vorausgesetzt Noah klingelte nicht, weil er irgendetwas brauchte.
„Ich muss dich noch warnen“, sagte Maddie zu mir, als wir schon fast zu Hause waren, „Noah kommt öfter mal ins Haus um sich etwas zu Trinken oder zu Essen zu holen, also wunder dich nicht, wenn er plötzlich in meiner Küche steht. Er hat ja einen Schlüssel, also muss er nicht klingeln. Ich hoffe er macht nicht so viel Lärm, dass es dich aufweckt.“
„Ich bin nicht so ein Langschläfer“, behauptete ich, um Maddie zu beruhigen.
„Wahrscheinlich werde ich sowieso schon wach sein, wenn er kommen sollte.“
Als wir zu Hause ankamen, war es bereits zehn Uhr.
Ich ging in mein Zimmer und packte das Nötigste aus meinem Koffer aus, aber ich war zu müde von der Reise und all den neuen Eindrücken, um alles auszuräumen. Ich beschloss, das auf morgen zu verschieben und ging mit meinem Schlafanzug und meinem Kulturbeutel in das Badezimmer auf der oberen Etage.
Maddie hatte sich großzügigerweise dazu bereit erklärt, mir das Badezimmer den ganzen Sommer über zu überlassen. Sie würde stattdessen das kleinere im Erdgeschoss benutzen.
Ich schminkte mich ab und wusch mir mein Gesicht mit kaltem Wasser, was mich normalerweise irgendwie beruhigte und wieder herunterkommen ließ, aber dieses Mal funktionierte es leider nicht wirklich.
Schnell putzte ich meine Zähne und zog mich um, meine Klamotten warf ich einfach auf den Schreibtischstuhl in meinem Zimmer.
Dann öffnete ich die beiden Fenster neben meinem Bett und zog die Vorhänge zu, bevor ich mich auf mein weiches Bett fallen ließ.
Ich warf ein paar von den Dekokissen herunter und schaltete die Nachttischlampe aus.
Dann lag ich einige Minuten da und machte nichts.
Ich versuchte zu schlafen, aber ich konnte es nicht.
Ich versuchte langsam von fünfzig runterzuzählen, aber auch das brachte nicht den gewünschten Erfolg.
Dann machte ich das Licht wieder an und nahm mein Handy vom Nachttisch. Ich wollte eine SMS an meine Mutter schreiben, als ich sah, dass sie mir auf meine vorherige Nachricht geantwortet hatte.
Hallo mein Schatz!
Schön, dass du gut angekommen bist.
Wie ist das Wetter?
Hier ist es etwas bewölkt, aber trotzdem warm.
Bestell Tante Maddie schöne Grüße von mir!
Und denk dran, wenn irgendetwas ist, dann ruf mich jederzeit an oder komm zurück nach Hause.
Ich hoffe du verbringst einen schönen Sommer!
Alles liebe, Mom
Ich las die Nachricht und drückte auf Antworten.
Hi Mom,
das Wetter hier ist toll! Genau richtig, nicht zu heiß, aber angenehm warm. Ich war gerade mit Maddie Essen in einem total schönen Restaurant an einem kleinen See. Die Pension sieht wirklich toll aus (also zumindest von außen). Die Räume sind schon renoviert, müssen aber noch eingerichtet werden und so.
Ich freue mich schon darauf, die Fotos für die Website zu machen, dann kann ich sie dir auch schicken. Maddies Haus ist auch hübsch. Schreibe dir morgen wieder, gute Nacht, deine Lory
Ich schickte die SMS ab und ging dann auf Google, weil ich immer noch nicht das Gefühl hatte, einschlafen zu können.
In die Suchleiste gab ich Leukämie ein.
Sofort wurde ich mit über 732.000 Ergebnissen bombardiert.
Ich klickte auf das erste Ergebnis und las den Text auf der Website.
Leukämie ist eine Erkrankung des blutbildenden und lymphatischen Systems. Es wird unterschieden zwischen der chronischen Leukämie (meist über mehrere Jahre hinweg) und der akuten Leukämie, die innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten zum Tod führen kann.
Ich las nur den Text mit der akuten Leukämie, da ich wissen wollte, an was Rosie erkrankt war.
Akute Leukämie kann oft aus völliger Gesundheit heraus entstehen und sich wie ein schweres Krankheitsbild äußern.
Beim Betroffenen können zum Beispiel Blässe, blaue Flecken und Erschöpfungszustände auftreten.
Des Weiteren sind Menschen mit dieser Krankheit anfälliger für geschwollene Lymphknoten, Milz- und Lebervergrößerungen und manchmal auch Knochenschmerzen.
Teilweise treten auch Gewichtsverlust, Müdigkeit und Appetitlosigkeit auf.
Weiter stand dann da noch, dass die Heilungschancen von Leukämie sehr stark von der Art der Leukämie und vom Alter, Gewicht, etc. des Patienten abhingen. Eine dauerhafte Heilung bei einer Chemotherapie ist allerdings fast unmöglich, da immer ein kleiner Rest der Krebszellen übrig blieb.
Bei 30 bis 40 Prozent der Betroffenen tritt der Krebs nach der Heilung erneut auf. So etwas nennt sich rezidiv. Wenn der Krebs relativ früh erneut auftritt, dann sinken die Heilungschancen des Patienten allerdings stark.
Das waren ziemlich viele unschöne Informationen. Jetzt konnte ich verstehen, warum Rosie nichts mehr unternehmen wollte.
Wenn ich solche Nachrichten bekommen hätte, würde es mir wohl kaum besser gehen.
Ich schaltete mein Handy aus und legte es wieder zurück auf den Nachttisch.
Ich machte das Licht aus und starrte an die Decke.
Das Leben ist unfair, dachte ich. Wieso muss ein junges, fröhliches Mädchen
Krebs bekommen und Angst um ihr Leben haben, während andere Leute, die Kettenraucher oder Alkoholiker sind, und kein Stück auf ihre Gesundheit achteten manchmal über neunzig Jahre alt werden?
Ich beschloss, mir etwas zu überlegen, um Rosie zu helfen.
Ich konnte nicht einfach so zusehen, wie ein Mädchen, im gleichen Alter wie ich, so eine schlimme Zeit durchmachte. Ich wusste nicht, wer dabei alles an ihrer Seite stand, aber selbst wenn es viele Leute waren, es schien ihr nicht besonders gut zu helfen, denn sonst würde sie wohl kaum den ganzen Tag im Bett verbringen.
Aber ich wusste auch nicht, wie ich ihr hätte helfen können.
Vor allem bezweifelte ich, dass sie überhaupt meine Hilfe wollte.
Ich meine, sie kannte mich doch überhaupt nicht.
Und sie wäre mit Sicherheit nicht gerade begeistert davon, wenn sie erfahren würde, dass Maddie und all die anderen Leute alle untereinander über sie redeten und ihre Geschichte verbreiteten.
Ich beschloss, mich morgen um die ganze Sache zu kümmern und jetzt erst einmal zu schlafen.
Ich hatte noch den ganzen Sommer Zeit, mich um diese Angelegenheit zu kümmern. Nur hoffte ich inständig, dass auch Rosie noch den ganzen Sommer hatte.