Читать книгу Weil du nur einmal lebst - Marina Selle - Страница 6
4. Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Morgen wachte ich von den Sonnenstrahlen auf, die trotz der dünnen Vorhänge in mein Zimmer kamen und auf mein Gesicht schienen.
Ich schaltete mein Handy an und warf einen Blick auf die Uhr. Halb zehn.
Ich schlug meine Bettdecke zurück und stand auf, wobei mein Blick nach draußen aus dem Fenster fiel. Es war ein wirklich schöner Morgen, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten munter. Ich ging zu meinem Koffer und suchte mir eine Jeans, ein luftiges Top und Unterwäsche heraus und ging ins Badezimmer.
Um wach zu werden, sprang ich unter die Dusche und stellte den Strahl auf kaltes Wasser ein. Das kühle Wasser lief mir den Rücken hinunter und über mein Gesicht und allmählich fühlte ich mich wacher.
Ich wusch mich und shampoonierte meine Haare ein, bevor ich alles mit angenehm warmen Wasser wieder ausspülte.
Dann stellte ich das Wasser aus und trocknete mich ab.
Ich zog mich an und öffnete das Badezimmerfenster, woraufhin mir frische Luft entgegenflog, die nach Wald roch.
Ich fragte mich, wann Maddie wieder vom Rathaus zurück sein würde, aber ich vermutete, dass solche Angelegenheiten wohl etwas dauern konnten, also ging ich runter in die Küche, um mir schon mal Frühstück zu machen.
Durch die Fenster der Haustür fiel warmes Licht in den Hausflur und ich konnte es kaum erwarten, bei dem herrlichen Wetter die Gegend zu erkunden. Die Küche war ein kleiner, heller Raum, mit weißen Holzmöbeln und etwas abgenutzten Griffen an den Schranktüren, aber alles in allem sah es wirklich schön aus. In der Ecke stand ein kleiner, runder Esstisch und davor war ein großes Fenster. Es reichte über die halbe Höhe der Wand und man hatte eine gute Sicht auf den Hof, wenn man dort saß.
Ich durchsuchte alle Hochschränke, bis ich schließlich eine Packung Cornflakes fand und holte mir Milch aus dem Kühlschrank und eine Schüssel aus dem Geschirregal. Die Milch war nicht wie bei uns zu Hause in Pakete abgefüllt worden, sondern in etwa gleichgroße Milchkrüge.
Es sah ganz so aus, als würde Maddie sie frisch von einem Milchbauern aus der Umgebung bekommen. Ich fand diese Vorstellung total romantisch.
Ich mixte mir alles zusammen in die Schüssel und beschloss, mein Frühstück auf der Veranda zu essen.
Die Veranda war nicht gerade groß, aber es gab eine Art hängenden Sessel, der so aussah wie eine kleine Einzel-Hollywoodschaukel, die mit Kissen ausgelegt und urgemütlich war. In der anderen Ecke stand ein kleiner, alter Metalltisch mit schöner Verzierung am Rand und zwei Stühlen daneben.
Ich setzte mich an den Tisch, damit ich mit nicht so leicht die Cornflakes über den Schoß schütten konnte, wie in dem Sessel und wollte gerade anfangen zu essen, als ich merkte, dass mir ein Löffel fehlte.
Ich rollte mit den Augen und stand wieder auf. So etwas passierte mir ständig. Ich war glücklicherweise nicht vergesslich, was Geburtstage oder so etwas anging, aber solche Kleinigkeiten vergaß ich andauernd.
Ich ging wieder ins Haus und suchte in den zahlreichen Schubladen nach einem Löffel. Ich fand einen alten und schon ziemlich verbogenen aus Silber und nahm ihn mit. Als ich wieder durch die Haustür nach draußen trat, war mein Platz plötzlich nicht mehr leer. Noah saß auf einem der beiden Stühle und inspizierte meine Schüssel. Als er mich sah, lächelte er mich freundlich an.
„Du solltest dich beeilen, sonst werden sie noch matschig“, sagte er und zeigte auf die Schüssel.
Ich lächelte zurück.
„Ich mag das so“, antwortete ich und ging zu ihm hinüber.
Bei meiner Bemerkung schüttelte er sich angeekelt und lachte dann.
„Du hast einen furchtbaren Geschmack!“, sagte er dann und lachte vergnügt.
Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich auf den anderen Stuhl.
„Meinetwegen“, antwortete ich und fing an, die Cornflakes zu essen.
Noah beobachtete mich die ganze Zeit dabei, das spürte ich, aber ich zwang mich, einfach nicht hinzusehen.
„Ist was?“, fragte ich dann doch nach einer Weile.
„Du kommst also aus South Carolina?“, fragte er interessiert und überhörte meine Frage einfach.
Ich nickte mit vollem Mund.
„Wieso?“, fragte ich, als ich den Bissen heruntergeschluckt hatte.
„Ach nur so. Ich bin einfach neugierig. Ich weiß gerne, mit wem ich es zu tun habe, weißt du?“
Ich sah ihm forschend ins Gesicht.
„Aber das erfährst du doch nicht, nur weil du weißt, woher die Leute kommen.“ Noah dachte einen Moment nach.
„Na ja, eigentlich nicht, das stimmt. Aber dann erzähl mir doch etwas anderes über dich, damit ich wirklich weiß, mit wem ich es hier zu tun habe.“
Er grinste mich verschmitzt an und ich konnte nicht anders, als ihn zurück anzugrinsen. Sein Lächeln war ansteckend, da konnte man einfach nichts machen. „Na ja“, sagte ich etwas unschlüssig, was er wohl hören wollte, „ich bin 18 Jahre alt, meine Lieblingsfarbe ist lavendel, glaub ich, und meine Lieblingstiere sind Hunde.“ „Das war’s schon?“, fragte Noah und sah mich wartend an.
Ich nickte zurückhaltend und stopfte mir schnell noch einen Löffel Cornflakes in den Mund, damit ich etwas Zeit zum Überlegen hatte, falls er mich weiter ausfragen würde.
Er zuckte mit den Schultern. Er sah etwas enttäuscht aus.
„Also gut. Sag mir Bescheid, wenn du mir wirklich etwas über dich erzählen willst.“
Sprachlos sah ich ihn an. Was sollte das den jetzt heißen? Hatte ich etwa irgendetwas Falsches gesagt? Ich meine, ja, offensichtlich hatte ich das, aber was sollte es denn gewesen sein? Etwas gekränkt legte ich meinen Löffel zurück in die Schüssel.
Ich erwartete, dass Noah jetzt gehen würde, aber er blieb noch etwas sitzen. „Kann ich dich vielleicht um einen Gefallen bitten?“, fragte er mich und sah mich bittend an.
„Klar“, sagte ich, auch wenn ich nicht wirklich Lust dazu hatte, ihm zu helfen. Ich wollte lieber einen langen Spaziergang machen und die Gegend erkunden, aber ich wollte mich hier nicht direkt unbeliebt machen, also stimmte ich vorsichtshalber zu. „Würdest du vielleicht für mich in die Stadt fahren und das hier für die Woodsteps besorgen? Ich schaffe es heute nicht mehr, aber es muss unbedingt noch heute dort abgegeben werden. Du kannst den roten Wagen von Maddie nehmen, den brauche ich heute nicht.“ Er gab mir einen Zettel, auf dem ein paar Medikamente aufgelistet waren, und zwanzig Dollar.
Für einen Jungen hatte Noah eine erstaunlich schöne Handschrift. Sie war wild geschwungen, aber trotzdem ordentlich.
„Ja natürlich“, sagte ich und steckte den Zettel in meine Hosentasche.
„Wenn du mir die Adresse von den Woodsteps und die von dem Laden aufschreibst, bei dem ich das alles bekommen kann.“
„Selbstverständlich“, sagte Noah und lächelte mich dankbar an. Dann schrieb er die Adressen auf die Rückseite der Einkaufsliste und schob sie mir über den Tisch hin. „Du bist meine Rettung, weißt du das eigentlich?“, fragte er mich und ich lächelte ihn erfreut an.
„Ja, ich weiß“, antwortete ich und stand auf.
„Wir sehen uns dann ein anderes Mal“, sagte ich und verschwand im Haus. In der Küche stellte ich mein Besteck und die Schüssel in die Spülmaschine und ging anschließend hoch in mein Zimmer um meine Tasche zu holen.
Ich schrieb Maddie einen Zettel und klebte ihn an die Küchentür und steckte dann die zwanzig Dollar in mein Portmonnaie.
Ich fragte mich, ob ich noch etwas mehr Geld von mir mitnehmen sollte, um vielleicht ein bisschen in der Stadt zu bummlen, aber dann ließ ich es bleiben. Ich wollte die Sachen lieber so schnell wie möglich abgeben, wenn es doch so dringend war.
Hinter mir schloss ich die Haustür ab und ging zum Auto.
Ich schloss den Wagen auf und setzte mich hinter das Steuer.
Meine Tasche ließ ich auf den Rücksitz fallen und startete dann den Motor. Ich fragte mich, ob Noah immer solche Arbeiten erledigte. Für andere Leute einkaufen und wenn es nötig war, für sie ein paar Leisten an die Wände zu montieren.
Ich gab die Adresse der Apotheke im Navi ein und fuhr dann die Auffahrt hinunter. Der Kies knirschte leise unter den Reifen des Autos und als ich in den Weg Richtung Stadt bog, fuhr ich in ein riesiges Schlagloch.
Die Straßen hier sind wohl nicht ganz so gut erhalten wie bei mir zu Hause, dachte ich und folgte den Anweisungen des Navis.
Nach zehn Minuten hielt ich vor einem alten Backsteingebäude.
Es war ein kleines Haus mit einem großen Blumenbeet und zwei Bänken davor und die Parkplätze waren rar.
Zum Glück fand ich noch eine winzig kleine Lücke und quetschte mich hinein.
Ich schnappte mir meine Tasche, stieg aus und schloss das Auto ab, dann sah ich mich um.
Vor der Apotheke floss ein breiter Bach entlang, der sich durch die gesamte
Stadt zu ziehen schien. An dessen Rand wuchsen Gras und ein paar schöne, wilde Blumen. Ich überlegte kurz, mich für einen Moment auf eine der Bänke zu setzten, aber ich entschied mich dagegen. Stattdessen betrat ich die Apotheke und ging zu einer blonden Frau an die Kasse.
„Hallo. Ich hätte gerne alles von diesem Zettel hier“, sagte ich freundlich und reichte der Frau hinter dem Tresen den Einkaufszettel.
Sie nickte lächelnd und gab etwas in ihren Computer ein.
„Einen Moment bitte“, sagte die Frau und verschwand in einem Raum hinter der Kasse.
Ich nutzte die Zeit und sah mich ein wenig um. Ich entdeckte eine Packung süßer Hustenbonbons und legte sie ebenfalls auf den Tresen.
Dann kam die Frau wieder. In der Hand hatte sie vier verschiedene Medikamente.
Sie legte sie vor mich hin und ich holte meinen Zwanzigerschein aus der Tasche.
„Reicht das?“, fragte ich und hielt ihn ihr hin.
„Nein, es fehlen noch sechs Dollar achtzig. Soll ich den Rest auf Rechnung setzen?“, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.
Ich zögerte ein wenig.
„Ja, ich denke schon. Ähm, auf Woodstep denke ich mal.“
Ich dachte nicht, dass die Frau mir glauben würde, vor allem nicht, wenn ich so wenig überzeugt klang, aber stattdessen nickte sie einfach nur wissend und packte mir die Einkäufe in eine kleine Plastiktüte.
„Na dann wünsche ich gute Besserung“, sagte die Frau und zwang sich zu einem Lächeln, was jedoch ziemlich misslang, da ihr Gesichtsausdruck eher nach Bedrücktheit aussah als nach Freude.
Etwas verwirrt bedankte ich mich und ging aus dem Laden.
Mir viel ein, dass ich noch die Bonbons gekauft hatte und sie jetzt mit auf der Rechnung der Woodsteps waren, aber wenn ich schon ihre Einkäufe nach Hause lieferte, würde die Familie sicher nichts dagegen haben, mir die für das kleine Geld zu schenken. Auf dem Weg zurück zu meinem Auto sah ich eine der beiden Eisdielen des Dorfes und überlegte, ob ich noch etwas Geld in meiner Handtasche hatte, um mir ein Eis zu kaufen. Ich ging zum Auto und sah nach, aber meine Handtasche war leer. Doch ich hatte Glück, in dem Handschuhfach des Wagens lag noch etwas Geld. Vermutlich eine Notreserve. Ich nahm das Geld und lief quer über den kleinen Marktplatz, dann betrat ich die Eisdiele.
Hier drin war die Luft furchtbar kühl und ich fragte mich, wie es die Mitarbeiter hier aushielten, ohne sich zu erkälten.
Ich bestellte mir eine Kugel Cookies und eine Kugel Banane und bezahlte.
Dann ging ich zurück zu den Bänken vor der Apotheke und setzte mich darauf.
Genüsslich schleckte ich mein Eis und lauschte dem Plätschern des Baches.
Ich sah auf meinem Handy nach, ob meine Mutter mir schon auf meine Nachricht von gestern Abend geantwortet hatte, aber es war noch nichts gekommen.
Wahrscheinlich stürzte sie sich in ihre Arbeit. Jetzt wo ich nicht mehr da war und sie sich nicht über mich ärgern konnte, hatte sie ja endlich mal genug Zeit für solche Dinge.
Ich beschloss ihr ein Selfie zu schicken und knipste ein Foto von mir, mit dem Eis in meiner Hand.
Dazu schrieb ich:
Hallo Mom, bin gerade in der Stadt, ein paar Besorgungen (sozusagen für Maddie) machen.
Hier ist schönes Wetter und ich sage dir, die machen hier das beste Eis überhaupt! Ich hoffe dir geht es gut und du arbeitest nicht zu viel! Antworte bitte bald, ich würde mich freuen, was von dir zu hören. Liebste Grüße und 100 Küsse an dich!
Ich sendete die Nachricht und beeilte mich, mein Eis auf zu essen.
Wenn ich heute noch einen Erkundungsspaziergang machen wollte, dann sollte ich mich beeilen, die Sachen bei den Woodsteps abzugeben.
Ich fuhr nach der vom Navi angezeigten Route, aber irgendwie schaffte ich es trotzdem, mich zweimal zu verfahren. Einmal bog ich zu spät ab und fuhr geradewegs auf einen kleinen See zu, der aus irgendeinem Grund nicht im Navi eingezeichnet war und das zweite Mal bog ich zu früh ab und kam mitten auf einem Feldweg aus.
Nach einer guten halben Stunde jedoch, schaffte ich es schließlich, am Haus der Woodsteps anzukommen. Ich parkte den Wagen am Straßenrand und stieg aus.
Die Woodsteps wohnten in einem relativ großen Haus am Waldrand.
Ganz in der Nähe befand sich der See, in dem ich fast das Auto versenkt hätte und vor dem Haus war nur Feld. Es sah wirklich schön aus.
Der Vorgarten und die Büsche und Blumen sahen zwar ein bisschen chaotisch aus, aber dagegen hatte ich nichts. Ganz im Gegenteil, lieber würde ich in einem chaotischen und dafür gemütlichen Haus wohnen als in einem modernen und sterilen.
Ich griff nach der Plastiktüte mit den Medikamenten und stieg die Stufen zum Haus hinauf. Das Holz ächzte unter meinem Gewicht, obwohl ich nicht besonders schwer für meine Größe war. Ich klingelte und sah verstohlen durch das kleine, runde Fenster in der Tür, ob jemand zu Hause war.
Ich konnte nichts sehen, aber kurz darauf hörte ich eine gehetzte Frauenstimme im Haus murmeln.
Dann wurde plötzlich die Tür geöffnet.
Hastig trat ich einen Schritt zurück und versuchte nicht ertappt auszusehen. Nicht dass Mrs Woodstep noch dachte, ich wäre eine Spannerin oder so etwas in der Art.
Eine Frau mittleren Alters trat aus dem Haus und sah mich fragend an.
Und dann erkannte ich sie plötzlich, es war Amanda, die Kellnerin aus dem Restaurant! Und mit einem Mal wusste ich auch für wen die ganzen Medikamente waren.
Sie schien mich auch zu erkennen, denn plötzlich huschte ein freundliches Lächeln über ihr Gesicht.
„Oh hallo Lory! Was machst du denn hier?“, fragte sie und sah mich erfreut an.
„Hi Mrs Woodstep“, sagte ich und lächelte unsicher.
„Ach, nenn mich Amanda, meine Liebe. Komm doch rein, Lory. Möchtest du eine Limo?“
Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte. Eigentlich wollte ich nur schnell die Sachen abgeben und dann wieder gehen, aber dieses Angebot konnte ich schlecht ablehnen, ohne unfreundlich zu wirken, fand ich. Also ging ich ins Haus.
„Ja, vielen Dank“, sagte ich und streifte meine Schuhe im Flur ab.
„Ach, die musst du hier nicht ausziehen“, sagte Amanda und machte eine gelassene Handbewegung in Richtung meiner Schuhe. „Wir nehmen das hier nicht so genau.“
Ich ließ meine Schuhe trotzdem dort stehen und folgte Amanda in die Küche.
Dort goss sie mir ein Glas frischer Limonade ein und stellte es mir auf den
Küchentisch. Sie setzte sich hin und zeigte gastfreundlich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Also, wieso bist du hergekommen?“, fragte sie freundlich.
„Sicherlich nicht, um mit einer alten Frau wie mir zu sprechen, oder?“
Sie lachte zurückhaltend und ich sah sie ein wenig unsicher an.
„Aber sie sind doch nicht alt!“, sagte ich und hoffte, dass es auch so ehrlich klang wie es gemeint war.
Amanda lächelte etwas verlegen und fuhr sich durch ihr schulterlanges, blondes Haar.
Ich nahm einen schnellen Schluck von meiner Limo und legte dann die Tüte auf den Tisch, die ich die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte.
„Noah hat mich gebeten, diese Sachen hier für sie zu besorgen. Eigentlich wollte er das heute selber machen, aber ihm ist wohl etwas dazwischen gekommen.“ Amanda sah in die Tüte und wurde plötzlich ernst.
„Ja danke Lory, das ist wirklich sehr nett von dir. Ich schaffe es momentan einfach nicht, mich um meine Tochter zu kümmern und dann auch noch einkaufen zu gehen. Entschuldige bitte die Unordnung hier, aber für solche Sachen habe ich momentan beim besten Willen auch keine Zeit.“
Ich sah Mrs Woodstep verständnisvoll an und biss mir auf die Unterlippe.
Es fiel mir schwer solche bedrückenden Gespräche zu führen, ich wusste nie, was ich sagen konnte, ohne den anderen Leuten damit auf die Füße zu treten, vor allem wenn ich nicht genau über deren Situation Bescheid wusste.
„Weißt du Lory, die Medikamente sind für meine Tochter Rosie. Sie…“
„Ja ich weiß, unterbrach ich Amanda schnell, damit sie es nicht aussprechen musste. „Maddie hat mir schon alles erzählt. Also nicht alles, nur das Nötigste, was ich wissen muss“, korrigierte ich mich schnell und knetete meine Finger unter dem Tisch. Hoffentlich dachte Amanda jetzt nicht, dass meine Tante alles aus dem Nähkästchen plauderte und jedem Rosies und Amandas Probleme ausbreitete.
„Ist schon gut. Ich weiß wie du das meinst. Maddie und ich sind schon seit Weigkeiten befreundet, ich weiß, wie sie tickt“, sagte Amanda und lächelte mich gutmütig an.
„Wer ist das Mom?!“, rief eine Mädchenstimme von oben hinunter.
Sie klang hell und schön, aber gleichzeitig auch irgendwie schwach und ein wenig heiser.
„Es ist Lory. Sie ist die Nichte von Maddie, sie ist den Sommer über hier. Sie ist so alt wie du!“, antwortete Amanda. Sie sah irgendwie hoffnungsvoll aus.
„Jedenfalls danke ich dir für die Medizin, Lory. Bekommst du noch Geld?“, fragte sie mich und suchte schon ihre Hosentaschen nach Geld ab.
„Nein, nein, Noah hat mir etwas gegeben. Aber es hat nicht ganz gereicht, ich habe es auf ihre Rechnung stellen lassen. Ich habe mir auch eine Packung Hustenbonbons gekauft, ich hoffe das ist ihnen Recht.“
„Aber Lory!“, lachte Amanda unbeschwert, „natürlich ist mir das Recht. Du bist hier jederzeit willkommen, also wenn du etwas brauchst oder so, dann komm gerne her, das ist überhaupt kein Problem.“
Ich lächelte dankbar und wollte mich gerade zum Gehen wenden, als ich plötzlich Schritte auf der Treppe hörte.
Ein zierliches, blasses Mädchen mit fast hüftlangem, blonden Haar und feinen Sommersprossen auf Nase und Wangen kam zaghaft die Treppe herunter gelaufen und sah mich prüfend an. Sie trug ein kurzes Nachthemd, was wohl eher mal ein Baseball-Shirt gewesen, dem Mädchen allerdings viel zu groß war.
„Hi“, sagte das Mädchen zaghaft, „ich bin Rosie.“
„Hi Rosie. Ich bin Lory. Wie… geht es dir…?“
Ich verzog das Gesicht, als ich bemerkte, was ich da gerade gefragt hatte und setzte hastig zu einer Entschuldigung an.
„Nein schon gut, Lory. Ich habe es satt, dass sich niemand traut mich das zu fragen, weißt du. Mir geht es nicht besonders gut, ich bin müde, ich habe Arm- und
Beinschmerzen und mir ist todeslangweilig. Und wie geht es dir?“
Ich schluckte und sah hilfesuchend zu Amanda. Aber sie schien wie in einer Art Bann gefangen zu sein, sie rührte sich kein Stück, sondern starrte nur ihre Tochter an, als sei sie eine Art Geistergestalt oder so etwas in der Art.
„Also mir geht es eigentlich ganz gut“, antwortete ich zaghaft.
„Es ist schönes Wetter draußen und ich habe Ferien. Abgesehen davon habe ich keine
Schmerzen, also denke ich, dass es mir wohl ganz gut geht, ja…“
Zögernd sah ich Rosie an. Ich hoffte ich hatte nichts Falsches gesagt, aber offensichtlich gab sich Rosie mit meiner Antwort zufrieden.
„Gut. Das freut mich für dich, ehrlich. Ich wünschte nur, ich könnte das Gleiche von mir behaupten“, sagte sie und ging zum Kühlschrank, um auch sich ein Glas Limo einzugießen. Sie trank ein paar kleine Schlucke davon und sah dann ihre Mutter an.
„Die ist gut. Hast du sie selbst gemacht?“
Ihre Mutter schien auf einmal aus ihrer Starre zu erwachen und nickte stumm.
„Cool“, sagte Rosie und ging wieder auf die Treppe zu.
„Es war nett, dich kennen zu lernen, Lory. Bestell Maddie schöne Grüße, sie ist wirklich eine nette Frau. Sie hat ein großes Herz, weißt du. Du kannst dich glücklich schätzen, ihre Nichte zu sein. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich werde mich wohl wieder hinlegen. Vielleicht reden wir ein anderes Mal weiter. Irgendwann, vielleicht nicht unbedingt hier, aber eines Tages.“
Sie winkte mir zu und ging dann mit dem Glas Limo in der Hand die Treppe wieder hoch. Amanda schwieg noch bis sie die Tür von Rosies Zimmer ins Schloss fallen hörte, dann sprang sie von ihrem Stuhl auf und ging hastig mit mir nach draußen.
Wir standen auf der Veranda und sie schloss schnell die Haustür hinter sich, bevor sie anfing, auf mich einzureden.
„Lory! Das war der Wahnsinn! Rosie hat seit über einer Woche mit keinem mehr geredet außer mit mir. Und das auch nur bei den nötigsten Dingen. Wie hast du das bloß gemacht?!“
Verwirrt blickte ich Amanda an. Was wollte sie denn darauf für eine Antwort haben?
Ich hatte einfach ganz normal mit ihr geredet, sonst nichts.
„Ich weiß nicht. Nichts Besonderes, denke ich mal.
„Oh, das denke ich aber schon. Du hast sie aus ihrem Zimmer bekommen Lory. Das ist in diesen Tagen eine ziemlich große Leistung, weißt du das eigentlich?“ Fast schon erleichtert lächelte Amanda mich an.
„Aber nun gut. Ich weiß, dass ich dich nicht bitten kann, dich mit Rosie anzufreunden und Zeit mit ihr zu verbringen, auch wenn du einen wirklich guten Einfluss auf sie zu haben scheinst, aber ich würde dich trotzdem um einen Gefallen bitten. Wenn du nicht möchtest, dann sei bitte ehrlich, ich will nicht, dass du dich zu etwas verpflichtest fühlst, in Ordnung?“
Ich nickte und wartete auf ihre Frage.
„Wenn du zustimmst, würde ich dich bitten, vielleicht ein paar Arbeiten für mich zu erledigen. So etwas wie einkaufen und rasenmähen oder so. Du musst hier nicht aufräumen oder putzen, nur dass du das weißt, aber die anderen Dinge sind im Moment einfach etwas zu viel für mich. Selbstverständlich bezahle ich dich für deine Hilfe. Ich kann dir zwar nicht viel geben, mein Kellnerjob ist nicht gerade gut bezahlt und die Medikamente für Rosie sind teuer, aber zehn Dollar pro Tag vielleicht?“
Ich zögerte. Eigentlich hatte ich etwas anderes vorgehabt, in diesen Ferien. Ich wollte mich ein bisschen ausruhen von der stressigen Schule, Maddie in der Pension helfen und einfach einen unbeschwerten und freien Sommer verbringen. Allerdings brauchten mich die Woodsteps dringend und ein bisschen Geld konnte ich auch ganz gut gebrauchen. Schließlich ging es für mich in einem Jahr aufs College und ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter mir die kompletten Studiengebühren finanzieren konnte.
„Ich weiß nicht so recht“, sagte ich und sah mich unauffällig im Vorgarten um. Es war wirklich ziemlich unordentlich, überall wuchs Unkraut und Gartengeräte lagen über den Rasen verstreut.
„Also gut“, sagte ich schließlich und sah Amanda gutmütig an.
„Du machst es?“, fragte sie mich überrascht und zog die Augenbrauen hoch. Ganz offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich ihr Angebot annehmen würde.
Ich nickte. „Ja, ich mache den Job. Vorausgesetzt ich habe noch genug Zeit, um Maddie bei den Vorbereitungen für die Pension zu helfen und natürlich auch noch etwas Freizeit.“
„Natürlich!“, rief Amanda mit erleichterter Miene. Ihre Augen leuchteten vor Freude und ich war mir sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
„Selbstverständlich, das ist überhaupt kein Problem! Du brauchst ja auch nicht den ganzen Tag hier zu sein“, erklärte mir Amanda, „es reicht, wenn du kommst, wenn ich dich brauche. Am besten gibst du mir deine Handynummer, dann schreibe ich dir morgens eine SMS, wenn ich den Tag über etwas brauchen werde oder etwas erledigt werden muss.“
„Einverstanden“, sagte ich und tippte meine Nummer in ihr Handy ein.
Sie strahlte mich noch immer an.
„Du bist wirklich ein Engel, Lory!“, sagte sie dann und umarmte mich herzlich.
Ich ließ es zu und schaute dann auf meine Uhr.
„Ich sollte dann jetzt langsam mal zurück nach Hause. Maddie wartet bestimmt schon auf mich“, sagte ich und wusste nicht so recht, ob ich Amanda die Hand geben sollte, oder nicht.
„Ja, tschüss Lory. Und vielen, vielen Dank nochmal. Wenn du morgen früh nach acht Uhr keine SMS auf deinem Handy hast, dann brauchst du auch nicht herzukommen, okay?“
Ich nickte und ging die Treppe der Veranda hinunter.
„Okay. Dann bis morgen vielleicht“, rief ich ihr hinterher, stieg in den Wagen und fuhr weg.