Читать книгу Echnaton im Feuersturm - Mario Monteiro - Страница 6

DIE TIGERTATZE

Оглавление

Der kunstvoll vergoldete Adlerkopf warf einen gespenstischen Schatten durch das Labor des weltweit bekannten Ägyptologen. Drei Stunden nach Mitternacht bewegte sich im unteren Teil des bekannten Hauses eine Tür. Der Professor, an häufige Nachtarbeit gewohnt, begab sich leise in die unteren Räume und richtete für eine halbe Minute den Lichtstrahl seiner Taschenlampe über Tausende von Jahren alte Figuren und pharaonischen Halsketten. Der Wissenschaftler griff zum Lichtschalter. Zu spät! Schnell wie ein hungriger Tiger, legte Bernhard Polle seine mächtigen Tatzen um den Hals des Professors. Der Atemluft beraubt, sank der Forscher in Sekunden zusammen. So kam es dazu, dass Heinz Birnbaum Millionen scheffelte und Polle zwei Jahrzehnte im Gefängnis verbrachte.

Zwanzig Jahre später

Das hochgewachsene gazellenhafte Mädchen flitzte zur Tür, um den unerwarteten Besucher zu empfangen.

»Blöder Kerl!«, rief sie dem Buben nach, der das Gartentor bereits zugeschlagen hatte und die enge Straße des eleganten Viertels hinunter rannte. Dann erst bemerkte die Privatsekretärin das flache Päckchen, das zugeklebt und gut verschnürt vor der Haustür lag.

FÜR HEINZ BIRNBAUM stand in unbeholfenen Buchstaben auf einem grünen Zettel, den ein Unbekannter auf das grobe Rupfentuch geklebt hatte.

»Was ist das?« fragte der Millionär, als seine Sekretärin mit der seltsamen Sendung in das elegante, holzgeschnitzte Büro zurück kam.

»Ich weiß es nicht.« Birnbaum wunderte sich über die knappe Information.

»Nun gut. Wer schickte es denn?«

»Kein Absender drauf«, antwortete sie kurz. »Genau so lag es vor der Haustür.« Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, erzählte sie nichts von dem kleinen Jungen, der so schnell die Straße hinuntergerannt war.

»Seltsam«, murmelte Birnbaum. »Ich erwarte keinen.« Und dabei schien ihn irgend etwas zu beunruhigen. Der hagere, schon etwas gebeugte Fünfziger erhob sich vom Sessel und nahm die seltsame Sendung in die Hand. »Ich will mir das doch gleich mal ansehen.«

Doch zwei kurze Telefonate, die seine Absicht unterbrachen und der kurze Besuch des freundlichen Nachbarn hielten ihn zunächst davon ab.

Gegen Nachmittag zogen Gewitterwolken auf und bald dämmerte es.

»Gleich wird es anfangen zu regnen«, meinte das Mädchen. Ein greller Blitz zuckte durch Birnbaums Arbeitszimmer. Dann ein ohrenbetäubender Schlag, der sie zusammenfahren ließ.

»Du kannst jetzt gehen«, erlaubte er dem Mädchen, denn es war inzwischen kurz vor sechs. Dann erst, als er sich allein im Zimmer wusste, befasste er sich mit der geheimnisvollen Sendung.

Es war das Bildnis eines Mannes, das ihn an die Vergangenheit erinnern sollte und ihm nun drohend entgegensah. Wuchtige Kinnladen umschlossen einen großen, fast tierischen Mund mit blutrot aufgeworfenen Lippen und einer fleischigen Boxernase. Graugrüne Augen flackerten in tiefen Höhlen und dichte Brauen wölbten sich unter einer mächtigen Gorillastirn, die nichts verhieß als brutale Gewalt.

Alles in allem ein lebensnahes Bild von Bernhard Polle. Birnbaum begann zu zittern und starrte auf die riesenhaften Hände, die sich ihm entgegen streckten.

Friedrich Backhaus hatte von Anfang an nicht daran gezweifelt. »Das ist fast ein Drohgemälde«, flüsterte er seinem Vetter ins Ohr. »Die zwanzig Jahre sind nun eben um.«

Auch Vetter Backhaus studierte minutenlang die schreckliche Fratze auf dem Bild und blickte zuweilen in das bleiche Gesicht Birnbaums. »Polle ist jetzt ein freier Mann.« Wenn er sich wirklich rächen wolle, wird er nicht aufzuhalten sein, meinte Backhaus. Dabei fiel ihm die Uhr auf, die der Künstler des Bildes im Hintergrund gemalt hatte. Die Zeiger deuteten auf zwei und in der Ecke links oben entdeckten sie die Nummer 276. Backhaus schien das nicht zu verstehen. »Die Nummer?« fragte er seinen Vetter. »Was soll denn diese Nummer bedeuten?«

Birnbaum schien die Frage überhört zu haben. Backhaus gab nicht nach. »Heinz«, fragte er ein zweites Mal. »Sag mir schnell! »2 …7 … 6 Was soll denn das?«

Birnbaum sah auf. Wie abwesend starrte er vor sich hin. Befand er sich vielleicht zum zweiten Mal in jenem Zimmer, als sie sich den goldenen Adlerkopf holten. Damals vor 22 Jahren.

»Es war am 27. Juni«, keuchte Birnbaum »… ein paar Stunden nach Mitternacht.«

Jetzt saß er zusammengefallen an seinem Mahagoni-Tisch und ließ die Finger langsam über die kostbare Platte gleiten. Kalter Schweiß perlte über seine Stirn, während der auf das schreckliche Bild stierte. War die Vergangenheit dabei, ihn einzuholen?

»Du bleibst doch bei mir, wenn er … kommt?«

»Das ist doch klar.« Friedrich Backhaus war der letzte noch lebende Verwandte des Millionärs. Dabei hatte ihm Heinz Birnbaum schon vor Jahren erlaubt, in der Villa zu wohnen. Viel mehr als das. Als eingefleischter Junggeselle hatte er sich das sogar gewünscht. Aus diesem Grund waren beide Vettern schon vor Jahren überein gekommen, Backhaus dürfe sich im oberen Stock eine kleine Wohnung einrichten. Jetzt jedoch, in der kritischen Stunde sieht Backhaus wie Birnbaum als wahres Nervenbündel durch das Haus schleicht. So versucht er seinen Vetter zu beruhigen. Beim Anblick des Furcht erregenden Bildes entschließen sie sich sofort, das Fernsehzimmer zu einer Festung auszubauen. Backhaus verschraubt als erstes die Fensterläden mit schweren Brettern. So wird es unmöglich sein, dass Polle aus dem Garten in das Zimmer eindringt. Mit einer alten Armeepistole in der Hand, lächelt er seinem Vetter zu.

»Lass ihn nur kommen!« Birnbaum starrt immer noch unentwegt auf die einzige Tür des Raumes, die sie mit einem schweren Eichentisch verrammeln. Bei Anbruch der Nacht beginnt es wieder zu regnen. Stunden verrinnen in qualvollem Warten. Hilflos und bleich kauert Birnbaum im Ledersessel, blickt auf die verrammelten Fenster, dann wieder zur Tür, sieht auf Backhaus, der inzwischen eingenickt ist. Im Morgengrauen, kurz vor vier, richtet sich Birnbaum auf und rüttelt an Backhaus’ Schultern. Es ist einwandfrei zu hören. Backhaus fährt aus dem Schlaf.

»Ich habe ihn gehört«, piepst Birnbaum »Er ist im Haus.«

Backhaus schleicht mit entsicherter Waffe an die verrammelte Tür, nimmt dort die Hand an sein Ohr, um genau zu hören. »Tatsächlich«, flüstert er. Auch Backhaus hört die Schritte auf der Treppe. »Er muss im Hause sein.«

»Pst. Er ist auf der Treppe, hörst du nicht?« Birnbaums Stimme ist nur noch ein leises Piepsen. Dann knarren Stufen. »Da wieder«, flüstert er hinter Backhaus stehend. Schweigend stehen sie vor der Tür und hören die Stufen knarren. Das konnte nur Polle sein.

Langsam, Schritt auf Schritt scheint er jetzt die Treppe herab zu steigen. Birnbaum zittert um sein Leben. Jetzt gleich, jetzt muss er unten sein, doch auf dem dicken Teppich in der Diele können sie schließlich nichts mehr hören.

Die beiden Männer im verrammelten Zimmer halten den Atem an. Birnbaum verkrallt sich im Ledersessel,. Backhaus sitzt mit entsicherter Waffe neben ihm und richtet den Lauf der Pistole auf die Tür. Wird der Unheimliche im nächsten Moment die Tür aufbrechen, dann über den Eichentisch springen, um Birnbaum anzufallen und sein Werk zu vollenden?

Kann Polle mit seiner Bärenkraft alles überrumpeln, selbst unter Bedrohung der Schusswaffe vor ihnen stehen und sie beide zerreißen? Schwach, wie ein nasser Lappen hängt Birnbaum vor seinem Vetter, während Backhaus nur unauffällig auf Birnbaums schlotternde Knie sieht.

»Sollen wir nicht nachsehen?« fragt Backhaus leise.

Birnbaum fährt erschreckt zusammen. War sein Vetter total verrückt geworden? »Nein, um Gottes Willen. Nicht … bitte!« Nur mit dieser alten Pistole in der Hand. Was könnten sie damit gegen Polle ausrichten? Backhaus legt die Waffe beiseite. Kam es auf eine weitere Stunde an? So lehnt er sich zurück und schläft von Neuem ein. Vom nahen Kirchturm schlägt es fünf, als Backhaus die Augen öffnet.

»Noch etwas warten«, fleht ihn Birnbaum an. Als sie es schließlich riskieren, den Tisch leise beiseite zu ziehen, ist es halb sechs. Friedrich Backhaus tritt mit entsicherter Waffe hinaus auf den Korridor. Durch die Ritzen des Fensterladens schimmert das Licht des anbrechenden Tages.

»Schlafen gehen!«, raunt Backhaus und lief auf die Treppe zu. Birnbaum schlurft todmüde zum Ausgang in den Garten. Etwas frische Luft wird ihm gut tun, meint er jetzt. So riskiert er ein paar Schritte hinaus auf den Rasen. Nach und nach entweicht die Spannung der vergangenen Nacht. Ruhig blickt er auf den Rasen. Die glasklaren Perlen des taufrischen Grases waren das letzte, was Heinz Birnbaum von dieser Welt gesehen hatte.

*

Kommissar Hellwig kletterte mit denkbar mieser Laune aus dem Ranger. Ein Wunder war es nicht. Kurz vor Mitternacht war es ein blödsinniger Dirnenmord, der ihn aus dem Bett riss, kaum hatte er sich hingelegt. Als er dann auf Birnbaums Rasen erschien, traf er die Kollegen der Mordkommission schon vollzählig an.

»Guten Morgen die Herren«, mimte er Munterkeit. »So früh schon am Werk?«

»Na ja, Herr Hellwig, ein anderer war schon vor uns hier«, versuchte der Fotograf anzubringen, erregte jedoch nur Hellwigs Missfallen. Um dem Schlimmsten aus dem Weg zu gehen, knipste er noch ein paar Aufnahmen des Toten, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Rasen lag.

»Hier habt ihr das Opfer angetroffen?« fragte Hellwig als erstes. Daran hatte keiner gedacht. Doch der vor kurzem geschorene Rasen zeigte keinerlei Schleifspuren.

»Also nicht weit von jener Tür, die von der Diele in den Garten führt. Hellwig machte sich Notizen. »Übrigens Doktor. Sie sprachen am Telefon von Würgespuren?« Die Frage war an Dr. Bellinghaus gerichtet. »Stimmt das wirklich?« Der Arzt bestätigte. »Mir scheint übrigens, auf der rechten Seite hat er stärker zugepackt«

»Aufnahmen gemacht, junger Mann?« schoss der Kommissar auf den Fotografen zu.

»Jawohl, Herr Hellwig!«

»Sie sagten, er, Dr. Bellinghaus? Könnte es nicht eine sie gewesen sein?«

Dr. Bellinghaus war dabei die Frage zu verneinen, zog es jedoch vor, momentan zu schweigen und lediglich mit einer unsicheren Kopfbewegung seine Unsicherheit auszudrücken. »Sehen Sie mal hier rechts, sehen Sie sich das mal ganz genau an.« Aha, ich sehe schon etwas. Ist das nicht … so etwas wie …«

»Ein Ring … ein Fingerring«, flüsterte Dr. Bellinghaus.

» also keinerlei Handschuhe. Sehr interessant«, folgerte Hellwig, »keine Angst, identifiziert zu werden oder nur eine Affekthandlung. Nun ja, wir werden ja sehen.«

»Wann starb der Mann nach Ihrer Meinung?« Die Frage war an Dr. Bellinghaus gerichtet.

»Vor zwei Stunden vielleicht. Viel länger sicher nicht.«

»Hm, machte Hellwig und sah zu Bellinghaus hinüber. Wenn man als Arzt immer nur Tote angucken muss …« Aber wenn es darum ging, die Todeszeit zu ermitteln, dann war Bellinghaus einsame Spitze.

»Wer hat den Toten denn zuerst entdeckt«, wollte der Kommissar als erstes wissen.

»Der Gärtner, Herr Kommissar«, meldete sich ein Wachtmeister, der vom Nachtdienst kam und sich auf dem Heimweg befand. Der Gärtner sei auf die Straße gerannt und ihm geradewegs in die Arme gelaufen. Ganz kopflos sei der Mann gewesen, behauptete der Polizist.

Friedhold stand in seinen Gummistiefeln und mit der grünen Schürze an der Wand des kleinen Gartenhauses, den Blick starr auf den Kiesweg gerichtet. Kriminalassistent Besserer beobachtete ihn und vermutete, der Gärtner lausche angestrengt. Hellwig stopfte seine Pfeife und ging langsam auf den Mann zu.

»So, so. So war das also! Sie haben Herrn Birnbaum als erster gesehen?«

Der Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht und den kräftigen Armen traute sich nicht, sofort zu antworten. Vielleicht überlegte er lange, was er sagen sollte. Die Falten auf beiden Seiten der Mundwinkel vertieften sich. Endlich nickte er stumm.

»Und dann rannten sie im Eiltempo auf die Straße?«, drängte der Kommissar. »Warum denn so eilig?«

»Ich … ich wollte doch Hilfe holen.« Der Gärtner Friedhold zitterte und sah ängstlich in das Gesicht des Kommissars. »Polizei … Polizei holen wollte ich gleich.« Und plötzlich richtete er sich steil auf und flüsterte kaum hörbar: »Er hat Herrn Birnbaum umgebracht.«

»Umgebracht?«, fragte Hellwig schnell. »Woher wollen Sie wissen, dass Herr Birnbaum umgebracht wurde?«

Der Gärtner sah auf seine Gummistiefel, zog an seiner Mütze und fuhr mit beiden Händen aufgeregt über seine Schürze. Er wollte es doch sagen, wollte wirklich alles erzählen. Elfriede hatte ihm doch das mit dem Bild erzählt. Dieses schreckliche Gesicht von dem Kerl. Und dass Herr Birnbaum solche Angst gehabt hätte. Deshalb hätten die beiden Herren auch die Fenster so gut verrammelt.

»Warum sagen Sie nicht alles?«, fragte ihn Hellwig schroff. »Woher wissen Sie, dass Herr Birnbaum umgebracht wurde?«

»Ich … nein, Ich habe nichts getan.« Friedhold hatte solche Angst.

»Was ist mit dem Foto?«, machte Hellwig weiter.

»Kein Foto«, sagte der Gärtner leise. »So ein Bild … ein furchtbares Bild!«

Na ja, sagte sich Hellwig. Man muss ihm etwas Zeit lassen. »Was für ein Bild denn?«, hakte Hellwig nach.

»Aber ich weiß es doch nur von Elfriede«, sagte der Gärtner schnell.

»Wer ist Elfriede?«

»Die Köchin«, murmelte der Gärtner. »Sie kommt immer um acht.«

Hellwig sah auf die Uhr, betrachtete nebenbei die Schwielen an den kräftigen Händen des Gärtners. Wenn man sich diesen Mann genau ansah … Hellwig verjagte den Gedanken so schnell wie er gekommen war.

»Auf jeden Fall waren Sie als erster im Garten«, stocherte Hellwig weiter. »Vielleicht sogar zur gleichen Zeit, als Birnbaum sterben musste?« Hellwig sah ihn seltsam an, neigte den Kopf etwas zur Seite und stieß eine Tabakwolke aus. »Oder lebte er sogar noch, als Sie in den Garten kamen?«

»Nein Herr …« Ängstlich beteuerte er, nichts gesehen und nichts gehört zu haben und dabei fing er an zu weinen ohne vom Anblick auf den Toten loszukommen.

Ein greller Schrei riss Hellwig aus seinen Gedanken. Wie aus dem Boden geschossen, stand Elfriede plötzlich auf dem Rasen und sah sich der Truppe Hellwigs gegenüber, die hinter dem toten Birnbaum standen.

»Na erst mal guten Morgen«, wurde sie von Hellwig begrüßt. »Wie sind Sie denn hier hereinspaziert?«

»Mit dem Schlüssel natürlich«, japste sie. »So wie jeden Morgen.« Trotz des Entsetzens in ihren Augen, schien sie die Frage Hellwigs entrüstet zu haben. »Schließlich hab ich Schlüssel fürs ganze Haus«, sagte sie wichtig. »Und das seit zwanzig Jahren!«

Hellwig sah sie schweigend an, musterte nebenbei ihre Schuhe. Peinlich sauber geputzt, fiel ihm auf.

»So lange arbeite ich schon für Herrn Birnbaum.« Dann heulte sie los, nachdem sie erfahren hatte, was geschehen war. »Schrecklich, wie schrecklich das mit dem Herrn Birnbaum!«

»Aha«, meinte Hellwig leise. »Sie haben also Schlüssel für das ganze Haus?«, wollte Hellwig wissen.

»Natürlich … das heißt«, und damit verbesserte sie sich, »nur nicht zu den beiden Zimmern von Herrn Backhaus.« Es klang verbittert. »Der Herr Backhaus ist doch immer so komisch«, klagte sie.

Dann blickte sie ängstlich auf die Gruppe der Mordkommission und flüsterte Hellwig zu, dass Backhaus sie nur auf seine Zimmer lasse, wenn er dabei sei.

»Und wo ist denn dieser Herr Backhaus jetzt?«, wollte Hellwig wissen.

»Um diese Zeit ist er immer zu Hause«, setzte sie dreist hinzu und zeigte dabei auf die oberen Räume der teuren Villa. »Sein hellblauer Ford steht doch in der Garage.«

»Ach!«, rief Hellwig überrascht. »Da schläft der Vetter seelenruhig und im Garten liegt ein Toter!«

»Schläft wie ein Murmeltier«, bemerkte Kriminalassistent Besserer, als sie zum sechsten Mal an die Türen von Friedrich Backhaus klopften.

»Aufbrechen in diesem Fall!«, befahl Hellwig.

Dann standen sie vor dem Bett von Friedrich Backhaus. Der Gesuchte lag vollständig angekleidet auf dem Bett. Sein Mund war leicht geöffnet, doch er schnarchte nicht.

»Er kann nicht schnarchen«, erklärte Dr. Bellinghaus. »Denn er ist tot.«

»Ach du grüne Neune«, entfuhr es Hellwig und dabei blickte er auf die halb ausgetrunkene Tasse auf dem kleinen Ecktisch. Dr. Bellinghaus roch am Mund des Toten. »Wahrscheinlich ein schweres Alkaloid«, vermutete er sofort. »So vor knapp einer Stunde vielleicht.«

Elfriede saß weinend in der Küche, als sich Hellwig um sie kümmerte.

»Haben Sie endlich Herrn Backhaus geweckt?«, fragte sie leise.

Hellwig überhörte die neugierige Frage. »Sagen Sie mal, Frau Elfriede … wie ist das eigentlich mit dem Kaffee?«

Sie schien ihn nicht zu verstehen. »Ich meine, tranken die Herren denn morgens immer Kaffee? Sie hätten doch dann und wann auch Tee trinken können … oder Schokolade? Oder heiße Milch? Oder so etwas?«

»Nein, nein«, erfuhr er von Elfriede. »Kaffee, immer nur Kaffee«, bestätigte sie. »Immer Kaffee. Jeden Abend muss ich die Kanne vorbereiten. Kaffeepulver hinein geben und sonst nichts.«

Hellwig stützte sein Kinn in die Hand und überlegte. »Jeden Abend, sagten Sie?«

»Ja. Jeden Abend. Sehen Sie, Herr …«

»… Hellwig … sagen Sie immer nur Hellwig, das genügt.«

»Also abends, sehen Sie Herr Hellwig. In dieser Thermos-Kanne hier …« Elfriede wollte die Karaffe nehmen und offenbar fiel ihr erst jetzt auf, dass die Kanne auf dem Spülstein stand. »Das Ding steht doch sonst immer auf dem Küchentisch«, sagte sie nebenbei. »Haben Sie vielleicht …?«

»Nein.« Hellwig lächelte zum ersten Mal. »Ich habe nicht.« Warum wunderte sich die Frau? Warum stand die Kanne nicht auf dem Tisch? So wie immer?

»Nescafé«, erklärte sie. »Immer die gleiche Menge Pulver in die Kanne und kochendes Wasser drüber«, belehrte sie den Polizisten. »Jedes Kind kann das.«

Hellwig sah sie seltsam an. Jedes Kind kann das! Hatte sie nicht das gesagt? »Und wo haben Sie denn das Kaffeepulver stehen?«

Elfriede zeigte ihm die Dose.

»Die muss ich leider mitnehmen«, erklärte Hellwig.

Dann könne sie doch Herrn Backhaus keinen Kaffee machen, protestierte sie.

»Er wird keinen Kaffee mehr trinken«, sagte der Kommissar leise und entschied, ihr es jetzt zu sagen. Elfriede sank auf dem Küchenhocker zusammen und weinte wieder. Nun wird man sie wohl auch nicht mehr brauchen. Hellwig wartete, bis sie sich beruhigt hatte.

»Ich muss die Kanne spülen«, sagte sie mit leerem Blick. Hellwig konnte das Schlimmste nur im letzten Moment verhindern. Doch dann entdeckten sie zusammen, dass die Kanne schon gespült wurde. Hellwig sah die Kanne sehr genau an und blickte dann Elfriede in die Augen.

Hier passt verschiedenes überhaupt nicht zusammen, reimte er sich.

»Aber niemand hat heute morgen schon gespült.«

»Warum denn nicht?«, fragte Hellwig schnell.

»Das haben die Herren doch nie gemacht.«

Hellwig überlegte und setzte dann von Neuem an. »Noch etwas, Frau Elfriede. Wer außer Ihnen hat auch noch Schlüssel zu diesem Haus?«

Elfriede spreizte die Finger und begann langsam abzuzählen. »Also, natürlich Herr Birnbaum, dann Herr Backhaus und ich selber.« Jetzt schien sie nachzudenken. »Ja, ja und Frau Suzanne. Die muss auch Schlüssel haben.«

»Und wer ist Frau Suzanne?«

»Ach das Flittchen, das die Briefe schreibt«, sagte die Frau ziemlich bissig. »Aber heute ist ja Freitag. Freitags kommt sie nicht. Von Freitag bis Montag Früh hat sie frei. Da tut sie nicht die Bohne!«

*

Herbert Hellwig warf schon frühmorgens einen Stapel Prozessakten auf den Tisch seines Assistenten. »Hier. Lesen Sie mal! Hab ich für Sie besorgt. Das ist die Geschichte mit dem Goldenen Adler.«

»Ein Weinlokal?«, traute sich Besserer zu fragen.

»Würde Ihnen so passen! Mir auch. Leider geht es dabei um den Raub eines fast dreitausend Jahre alten Kunstwerks aus Alt-Ägypten, in das Heinz Birnbaum und auch Bernhard Polle verwickelt waren. Schön und gut. Das ist nun auch schon wieder zwanzig Jahre her. Dieser Polle hatte damals den Eigentümer der Figur erwürgt und dieser Birnbaum verschwand mit dem Adler, was weiß ich wohin. Genaues konnte man damals nicht erfahren.«

»Und dieser Adler?«, wollte Besserer wissen. »Wo ist der denn hingekommen?«

Hellwig zuckte mit den Schultern. »Abgeflogen ist er. Bis er eines Tages in Birnbaums Antiquitätensammlung landete. Birnbaum muss in dieser Geschichte irgend etwas gedreht haben. Genaueres hat man jedoch nie erfahren. Jedenfalls hat Polle einen Mord auf dem Gewissen und verschwand für zwanzig Jahre hinter Schloss und Riegel.«

»Wenn ich Polle wäre …!« Besserer bewegte seine Hände krallenartig.

Hellwig drohte mit dem Zeigefinger.

»Aber Birnbaums Vetter Backhaus? Was hatte er damit zu tun? Und vor allem. Wie kam er denn um?«

»Das bringen wir noch raus.«

»Selbstmord vielleicht?«

Hellwig hielt es für ausgeschlossen. »Welcher Selbstmörder beseitigt denn die Spuren des eigenen Giftes. Okay. Sie finden nachher den Knaller, mit dem er sich erschossen hat oder einen Strick, vielleicht einen Dolch. Mit einer Giftampulle oder einer Tablettenpackung ist es nicht ganz so klar. Nein, Besserer, die Frage ist doch, wer reinigte die Thermoskanne? Und dann dieses Ölgemälde. Wer hat denn dieses Bild fabriziert? Einen Verstärker an einen Recorder angeschlossen, Kaffeepulver … Mann Gottes! Ein ganzes Fundbüro«, mokierte sich der Kommissar.

»Wo ist übrigens die Ampulle, die Sie im Müllkübel gefunden haben?«

»Noch auf dem Labor zur Untersuchung.«

Kommissar Hellwig hing mit seinen Gedanken noch immer an dem CD-Player. »Was sollte das Ding eigentlich?«

»Weiß auch nichts Gescheites«, gab Besserer zu. »Stand oben im Zimmer von diesem Backhaus. Seltsam ist nur, dass der Apparat mit der Sprechanlage unten in der Diele gekoppelt war. Außerdem war noch dieser Miniwecker zwischengeschaltet.«

»Versteh ich nicht ganz«, gab Hellwig zu. »Was sollte das denn?«

»Der Tonträger muss nur einmal abgelaufen sein. Das hatte wohl mit dem Miniwecker zu tun. Und zwar morgens um halb fünf!«

»Also an diesem Morgen, an dem die beiden starben«, folgerte Hellwig, »Aber Besserer, was gab’s denn da Besonderes zu hören?«

»Nicht viel. Eigentlich gar nichts. Knarrende Geräusche eben. So wie wenn jemand die Treppe runter kommt.«

Das soll einer verstehen. Hellwig kratzte sich am Kinn. Dann schnappte er sich sein Telefon und sprach mit Professor Burgstedt von der Kunstakademie.

»Drei Maler kämen hauptsächlich in Frage«, meinte Burgstedt. »Hellwig schickte seinen Assistenten mit den Adressen los, Sehen Sie mal zu, was Sie rauskriegen!«

Erich Zupping war der zweite Maler, den Besserer im Atelier erwischte.

»Ja«, bestätigte Zupping sofort. »Ich habe das gemalt. Nach einem Foto, das man mir brachte. Ich will da in nichts hineinkommen«, verteidigte sich der Künstler. »Ich musste das malen.«

»Warum mussten Sie?«, wollte Besserer hören.

Zupping sah den Polizisten nicht an. Er reinigte an einem Ausguss ein Paar Pinsel und blickte über die Schulter nach hinten. »Ist das ein Verhör?«

»Nein, nicht gerade. Aber warum mussten Sie es malen?«

»Mein Gott!« Der Maler sah Besserer seltsam an. »Ich bin nun mal Künstler und schließlich müssen wir auch von etwas leben. Und Backhaus hat sehr gut bezahlt.«

*

Herbert Hellwig schien aus allen Wolken zu fallen, nachdem ihm der Bezirksnotar das von Birnbaum gemachte Testament erklärte.

»Heinz Birnbaum hat also sein Testament geändert?«, erkundigte sich der Kommissar.

»Sagen wir einmal so. Er hat Bestimmungen für seinen vermutlichen Erben getroffen. Und dieser Erbe… ein Alleinerbe, um ganz korrekt zu sein -, wäre Friedrich Backhaus geworden. Backhaus starb jedoch noch am gleichen Tag. Und für diesen Fall gibt es laut Testament nur einen Ersatzerben und das ist eben Frau Suzanne Breitenbach. Wenn ich richtig orientiert bin, die Privatsekretärin von Heinz Birnbaum.«

Hellwig nickte. Dann schüttelte er den Kopf. »Wer soll den nun Erbe des Riesenvermögens werden? Doch nicht etwa die Sekretärin?«

»Genau Frau Breitenbach wird Erbin sein«, erklärte der Notar.

Hellwig hatte schon vieles erlebt. Doch das war doch etwas zu viel. Auch Assistent Besserer brachte den Mund nicht mehr richtig zu.

»Die Geschichte ist nur folgende:«, dozierte Hellwig, »Birnbaum hatte nämlich in seinem Büro eine Kopie des Testaments verwahrt.«

»… und seine Sekretärin hatte Zugang zu allen Dokumenten, also auch …«

»Genau so ist es. Wenn Suzanne Breitenbach Birnbaums Vertraute war, dann hatte sie sicher die Möglichkeit, das Testament zu lesen.«

»Ein einwandfreies Tatmotiv«, unterbrach ihn sein Assistent und Hellwig gab ihm recht.

»Genau so ist es und ich habe diese Dame auf 15 Uhr bestellt.«

Sie sei an die See gefahren, behauptete Suzanne als erstes, als sie dem Kommissar gegenüber saß.

»Ach ja, das ist ja so schrecklich, das mit Herrn Birnbaum.«

Seltsam, dachte Hellwig. Über den Vetter Backhaus verlor sie kein Wort.

»Wann fuhren Sie denn zur See?«

»Am Freitag in aller Frühe«, sagte sie. »Gegen sechs, viertel nach sechs höchstens.«

Aha, prompte Erinnerung, fiel Hellwig auf. Die muss nicht lange überlegen.

»So früh schon unterwegs?« Es klang sanft. »Das war ja fast zur gleichen Zeit, als Herr Birnbaum sterben musste. Ihr Chef, Frau Breitenbach wenn ich richtig informiert bin.«

Nach alter Gewohnheit blickte Hellwig unauffällig auf ihre Hände. Ziemlich nassgeschwitzt sahen sie aus. Trotz laufender Klimaanlage.

»Sie fuhren also von zuhause weg und dann ging’s direkt an den Strand?« Hellwig sah ihr in die Augen. »Ich meine, ohne Umwege? Sie haben vor ihrer Abfahrt nicht jemand getroffen, der sich an Sie erinnern könnte? Sie fuhren also ohne weiteren Umweg direkt ans Meer. Und Sie haben auf dem Weg ans Meer niemand getroffen? Nirgends vorbeigeschaut? Immerhin. Es hätte doch sein können …?«

»So früh doch nicht«, antwortete sie keck. »Wen soll ich denn getroffen haben. Sagte doch schon, dass ich direkt an die See gefahren bin.«

Ob sie vielleicht nicht doch so ganz kurz in der Villa Birnbaum vorbeigesehen hätte. »Nur einen Moment vielleicht?«, erkundigte sich Hellwig. »Um etwas abzuholen oder dort zu lassen. Schließlich war doch Herr Birnbaum Ihr Chef?«

Hellwig schien es, als ob Farbe aus Ihrem Gesicht gewichen wäre. Trotz der Schminke »Ich sagte doch schon, dass ich freitags meinen freien Tag habe.« Es klang ziemlich patzig. Dann betupfte sie die schweißnasse Stirn mit ihrem Seidentüchlein.

»So, sagten Sie das?«, täuschte der Kommissar. »Waren Sie nun am Freitag Morgen in der Villa Birnbaum oder nicht?«

»Nein.«

»Und dennoch stellten Sie Ihren Wagen in einem Seitenweg der Lessing Straße ab?«

Herrgott noch mal. Der Eichenweg, fiel ihr jetzt ein. Sie musste Zeit gewinnen. Plötzlich war sie mitten im Verhör.

Kommissar Hellwig lächelte nicht mehr, als er einen gelben Zettel aus dem Aktendeckel holte. »Das hier ist ein Strafmandat, Frau Breitenbach. Links auf dem Eichenweg ist nämlich Parkverbot.«

Mit eisigen Augen blickte er über den Tisch. »Sie glaubten wohl, so früh käme niemand vorbei, um Parksünder aufzuschreiben. Das war Ihr Irrtum. Und mitten im Eichenweg hatten Sie Ihren Wagen abgestellt, weil Sie in der Lessingstrasse nicht gesehen werden wollten. Sehen wir uns mal die Uhrzeit auf dem Strafzettel an. Um fünf Uhr vierzehn stand ihr Wagen im Eichenweg. Um diese Zeit waren Sie bereits im Hause von Herrn Birnbaum. Sie gingen durch den Hintereingang in den Garten. In der Küche säuberten Sie die Thermoskanne, hämmerte er auf das Mädchen ein. Die Spuren des schweren Giftes wollten Sie beseitigen. Denn Sie selbst schütteten die lebensgefährliche Substanz in die Kanne. Nichtsahnend bereitete Elfriede Biegner das Kaffeepulver für den nächsten Morgen vor. Die leere Giftampulle warfen sie noch am Abend zuvor in den Müll. Und wieder hatten Sie Pech. Denn am anderen Morgen stieß der Müllwagen mit einem Bus zusammen Die Leute vom Müll verspäteten ihr Tour um eine Stunde. Zeit genug für uns, um das leere Gläschen in der Abfalltonne zu finden. Sie, Frau Breitenbach, sind die Mörderin von Friedrich Backhaus!«

Suzanne brach zusammen und schluchzte, als sie Hellwig abführen ließ.

Nach dem Mittagessen fragte Herbert Hellwig seinen Assistenten: »Wie war das eigentlich mit dem Unfall von Backhaus. Schon was rausgekriegt?«

»Stimmt genau«, berichtete der Assistent. Backhaus hatte vor Jahren tatsächlich einen schweren Motorrad-Unfall. Damals verletzte er sich die linke Hand, während die rechte ihre volle Kraft behielt.

Hellwig grinste »Wie war das noch mit den Würgespuren an Birnbaums Hals?«

Besserer nickte. »Stimmt genau, rechts hat er viel stärker zugepackt.«

»Aber trotzdem«, meinte der Assistent. »Backhaus hin oder her. Was ist nun mit Polle? Hatte er nicht auch sein Tatmotiv?«

»Ganz zweifellos«, gab Hellwig zu. »Doch manchmal spielt das Schicksal mit. Vor einer Stunde hat die Staatsanwaltschaft Bernhard Polle aufgestöbert. Zwei Tage nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt erlitt Polle einen schweren Schlaganfall. Er sitzt gelähmt in einem Rollstuhl und muss gefüttert werden. In seinen Händen kann er keinen Suppenlöffel halten.«

Echnaton im Feuersturm

Подняться наверх