Читать книгу DIE WELT MEIN HERZ - Mario Salazar - Страница 5
ERINNERUNG IMMER WIEDER DIESE EINE I
ОглавлениеEs ist Nacht. Irmgard und Waldtraut sitzen auf einer Bank. Neben ihnen machen ihre Hunde Platz.
IRMGARD Hast du noch deinen Zahn?
WALDTRAUT Ich habe ihn lieber herausgezogen, damit ich ihn nicht verliere. So wie früher, als wir Kinder waren, nicht solche alten Tanten wie heute. Ich habe Garn um den Zahn gewickelt, das Garn an der Türklinke festgezogen und dann die Tür ruckartig aufgestoßen. Zack, da war der Zahn draußen.
IRMGARD Dann hast du jetzt keinen einzigen Zahn mehr im Mund?
WALDTRAUT Wozu brauche ich noch Zähne? Ich esse und spreche kaum. Das macht mir nichts aus, nicht zu sprechen oder nichts zu essen.
IRMGARD Solange wir uns unterhalten können, ist es mir auch egal, wie viele Zähne du noch hast. Ich wollte es einfach nur so wissen.
WALDTRAUT Kommst du morgen zu Willis Geburtstag?
IRMGARD Natürlich komme ich zu Willis Geburtstag. Ich komme immer zu Willis Geburtstag.
WALDTRAUT Willi feiert seinen 112. Geburtstag. Ob wir auch so alt werden?
IRMGARD Das wollen wir mal nicht hoffen.
WALDTRAUT Ich habe ihm schon eine Kirschtorte gekauft.
IRMGARD Gut, dass sich unsere Hunde so gut verstehen.
WALDTRAUT Warum willst du 112 Jahre alt werden?
IRMGARD Ich will nicht 112 Jahre alt werden. Du willst 112 Jahre alt werden. Von mir aus, kann es morgen schon vorbei sein.
WALDTRAUT Aber dann kannst du nicht zu Willis Geburtstag kommen.
IRMGARD Das sage ich nur so dahin. Ich meine, wenn es morgen vorbei ist, ist es nicht zu früh. Wie geht es Rainer?
WALDTRAUT Der Rainer ist immer noch auf Dienstreise. Den Rudi bringst du aber mit.
IRMGARD Ich hatte eine Affäre mit Rainer. Da ward ihr beide schon verheiratet.
WALDTRAUT Der Rudi freut sich bestimmt auf den Willi. Die Beiden, wie die immer so schön zusammen Geburtstag feiern.
IRMGARD Rainer hat dir immer gesagt, er fährt auf Dienstreise. Er ist mit mir in den Forst Grunewald gefahren, hat dort ein Zimmer gemietet. Wir haben eine Woche, manchmal auch zwei Wochen lang gekuschelt.
WALDTRAUT Ich weiß, dass der Rainer eine Affäre mit dir hatte. Du weißt, dass ich das weiß. Er war mein Mann. Ich habe Kinder mit ihm. Du erzählst mir das schon seit zwanzig Jahren.
IRMGARD Er war dein Mann. Und ihr hattet Kinder zusammen. Mich hat er geliebt.
WALDTRAUT Du kannst ihn haben.
IRMGARD Wen kann ich haben? Den Rainer?
WALDTRAUT Ja, ich gebe dir den Rainer. Du weißt ja, wo er liegt. Du kannst das Grab pflegen, wenn du willst. Die Grabmiete musst aber du zahlen.
IRMGARD Und du? Was machst du? Willst du für Rainer was haben?
WALDTRAUT Für Rainer was haben? Beim Rainer kann ich froh sein, dass ich den los bin.
IRMGARD Und ich darf den Rainer wirklich haben?
WALDTRAUT Aber du musst die Grabmiete bezahlen.
IRMGARD Wie lange ist das her, dass der Rainer gestorben ist? Sind das 15 Jahre? 20 Jahre?
WALDTRAUT Der Rainer ist nicht tot. Der liegt aufm Friedhof. Du musst die Grabmiete zahlen. Solange du die Grabmiete zahlst, ist er nicht tot.
IRMGARD Und das mit deinem Zahn macht dir gar nichts aus? Ohne Zähne kannst du nicht mehr richtig essen oder sprechen. Da fällt dir das ganze Essen ausm Mund. Die ganze Sprache läuft den Mund herunter.
WALDTRAUT Du hattest nie Kinder, Irmgard.
IRMGARD Du hast doch auch keine Kinder.
WALDTRAUT Aber ich hatte mal welche. Das weiß man ja bei der Geburt nicht, dass die eigenen Kinder vor einem sterben und man der letzte Mensch auf Erden sein wird.
IRMGARD Dafür musste ich nicht so viel weinen wie du. Wenn man keine Kinder hat, kann man auch keine Kinder verlieren.
WALDTRAUT Du hast dafür dein ganzes Leben lang geweint. Es war nie jemand da, den du hättest verlieren können.
IRMGARD Jetzt habe ich Rainer.
WALDTRAUT Rainer ist tot.
IRMGARD Solange ich die Grabmiete bezahle, lebt er noch. Außerdem habe ich Rudi.
WALDTRAUT Wenn der Rainer auf Dienstreisen war, hat er mir immer so schöne Geschenke mitgebracht. Einmal, da war er in Moskau. In Moskau, als noch der Kommunismus da war. Ich dachte schon, den Rainer sehe ich nicht wieder. Die malen den da rot an und sperren den in so ein Gulag. Mitgebracht hat er mir eine Schneekugel mit einem Panzer drin. Oder Paris, da hat er mir eine Schneekugel mit Eifelturm mitgebracht.
IRMGARD Und aus London hat er dir eine Schneekugel mit Big Ben mitgebracht. Das haben wir alles auf dem Flohmarkt gekauft. Rainer war nicht auf Dienstreise. Wir haben uns jedes Mal in diesem Hotel am See im Grunewald getroffen.
WALDTRAUT Über die Geschenke habe ich mich immer so gefreut. Und den Kindern hat er auch immer was mitgebracht.
IRMGARD Ja, über die Kinder hat er viel gesprochen. Er hat nur von den Kindern gesprochen und darüber, dass er gerne auch mit mir Kinder hätte haben wollen, dass das aber nicht ging, weil er ja schon Kinder mit dir hatte.
WALDTRAUT Wir hatten so schöne Kinder. Ihre Gräber schenke ich dir nicht. Niemals bekommst du die Gräber meiner Kinder.
IRMGARD Deine Kinder sind deine Kinder. Die kannst du nicht verschenken. Da rede ich dir nicht rein.
WALDTRAUT Klaus, der Kleine, der konnte dich nie leiden. Der hat gewusst, dass du mit seinem Vater irgendwo absteigst. Und die Irene hat das auch gewusst.
IRMGARD Du hast es doch auch gewusst.
WALDTRAUT Er war mein Mann. Wenn ich was gesagt hätte, hätte er mich verlassen. Also habe ich nichts gesagt. Für die Kinder. Damit die einen Vater haben.
IRMGARD Kommst du dann noch mit zu Rainers Grab, wenn du mir jetzt sein Grab schenkst?
WALDTRAUT Zu Rainers Grab kannst du alleine gehen. Was geht mich der Rainer an? Der ist tot. Du kannst ihn haben.
IRMGARD Ich werde mich gut um Rainer kümmern, so wie ich mich immer um ihn gekümmert habe.
WALDTRAUT Mach, was du willst mit Rainer. Und wenn du ihn ausbuddelst. Das ist mir egal. Die Hauptsache ist, du kommst morgen zu Willis Geburtstag und bringst ihm nicht so ein ekliges Schweineohr mit wie im letzten Jahr.