Читать книгу Die Suche hat ein Ende - Mario Walz - Страница 5

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In die Dunkelheit hinein wird mir klar, wie glücklich ich bin.

Der Weckruf meines Mobiltelefons singt ein Vogelgezwitscher in den frühen Morgen. Ich öffne die Augen und sehe als erstes den strahlend blauen Himmel, der endlich den Frühling ankündigt. Ein weiteres, wärmendes Gefühl in mir: Ich hatte genug von dieser ewig währenden Kältephase.

Mit schnellem Griff beende ich den Gesang des virtuellen Vogels in seinem Plastikgehäuse und lege mich noch einmal in mein nachtwarmes Bettzeug. Mit offenen Augen denke ich weiter, denke in den Tag hinein, was er mir bringen wird, und wohin dieses Leben führen mag. Ich erhebe meinen schlaflahmen Körper von der Matratze und steige in die kalten Klamotten.

Ich liebe die Ruhe des Morgens, wenn der Tag sich langsam aus der Dunkelheit schält und in der Stille der Frieden in allem zu spüren ist. Mittlerweile genieße ich es auch, dass ich hier draußen auf dem Land wohne, fernab der »Zivilisation«. Es hat sicher auch einige Nachteile. Ich habe lange damit gehadert, für jeden Schritt in mein Auto steigen zu müssen und wenn ich es geschafft habe, das nächste Dorf zu erreichen, fast nur von Rentnern umgeben zu sein.

Einmal in der Woche muss ich dann in die Stadt, das Pulsieren des Lebens in mich einsaugen, Lebendigkeit sehen und fühlen, das Prickeln des Seins erleben. Was mir weniger gefällt sind all die manipulativen und bedrückenden Energien, die durch den urbanen Raum schwingen: Kauf mich! Nimm mich mit! Schau mich an! Und stumme, aber verzweifelte Hilferufe der dort lebenden und in sich verschlossenen Wesen.

Aber um all meine unterschiedlichen Bedürfnisse auszuleben, gibt es im Augenblick keine andere Möglichkeit. Gleichzeitig an zwei Orten zu leben, scheint mir noch nicht machbar, also lebe ich diese Zwiespältigkeit zeitlich getrennt. Auf jeden Fall liebe ich die Einsamkeit hier. Besonders, wenn sie von Stille begleitet ist, wie in den frühen Morgenstunden. Das Licht strahlt in einer jungfräulichen Frische und Unvoreingenommenheit. Und wenn der Wind keine Wolken hierher treibt, vermischen sich meine Gedanken, Gefühle und körperlichen Empfindungen mit den Strahlen der aufgehenden Sonne.

Der Einsamkeit ist alles zu verdanken.

Schon 1988, als ich mich entschloss, ganz alleine in eine fremde Stadt zu ziehen – wenn auch nur für ein halbes Jahr und ohne die dort gebräuchliche Sprache zu sprechen –, war die Einsamkeit nicht nur ein altbekannter Freund, der wieder aufgetaucht war, um mein Leben zu beschweren: Sie war der Katalysator für die damals beginnende Suche nach dem, was ich wirklich bin. Der Beginn meines wahren Daseins. Der Start in mein bewusstes, selbstverantwortliches Leben. Denn vor dieser Zeit hatte ich nur reagiert.

Nach dem Eintauchen in die zunächst bedrückende Einsamkeit und nach dem Wahrnehmen, was dieses Alleinsein mir schenken wollte, war ich wie umgewandelt. Ich bekam eine Ahnung davon, wie es ist, wahrhaft ICH zu sein.

Heute lasse ich mich hineinfallen in dieses Alleinsein, das sich wie ein sorgender Mantel um mich legt. Der mich aber nicht einschnürt, die Luft raubt und mich nicht mehr zu Atem kommen lässt, sondern der mich umgarnt, und liebevoll meine eigene Größe erahnen lässt. Ich spüre wie die Dichte der Einsamkeit nur einen Moment davon entfernt ist, zu explodieren. Um sich von Innen nach Außen zu stülpen. Um die Kraft dieses Urknalls in mein Leben zu katapultieren. Um die Einsamkeit in EINS–samkeit zu verwandeln. Diesen Augenblick erwarte ich sehnlichst. Ich nähre mich von diesem Gefühl, denn es kündet von kommenden Zeiten.

Nach der morgendlichen Routine des Waschens, Rasierens und Frühstückens setze ich mich an meinen Computer. Hier beantworte ich zahlreiche E–Mails, schicke einige Anfragen los und informiere mich, wie viel Geld noch mein Konto erfreut. Erstaunlich, wie sich Beständigkeit in einem Leben steter Veränderung durch ein immer wiederkehrendes Auffüllen meines Kontos zeigt. Ich bin schon immer davon ausgegangen, dass ich genügend Geld habe. Dass ich das, was ich brauche, auch bekomme. Und wenn ich mal nur noch 10 DM besaß, bin ich davon ins Kino gegangen um den Nullpunkt zu erreichen, um den Neustart zu initiieren. Und um der »Macht« die Chance zu geben, mir neues Geld zukommen zu lassen.

Und wirklich: Es ist so, dass ich immer in den letzten Augenblicken, kurz vor dem Verzweifeln, zu irgendwelchen Einkünften komme. Das Geld oder die dazu notwendigen Jobs fallen quasi vom Himmel. Mittlerweile hab ich darin solch großes Vertrauen, dass ich unbekümmert in den Tag hinein leben kann. Die Momente, Tage oder manchmal sogar Monate des Nichtstuns versuche ich zu genießen. Denn es zeigte sich immer, dass ich gut versorgt bin.

Es hat aber seine – oft leidvolle – Zeit gedauert, diese zehrenden Momente scheinbar finanziellen Stillstands zwischen dem Gelderhalten zu genießen. Aber je näher ich meinem wahren inneren Wesen komme, desto sicherer bin ich in allem, was mir geschieht. Letztlich ist es eh nur meine eigene Gedankenwelt, die mein Leben bestimmt. Und sollte irgendetwas einmal nicht funktionieren, wie ich es mir vorstelle, weiß ich, dass ich nicht genau auf mich oder in mich gehört habe. Denn irgendwo sitzt dann ein kleines Teufelchen in seiner Zelle und kämpft um seine gewohnheitsbedingte Macht.

Das Telefon klingelt. Ein Auftrag. Typisch! Gerade wo ich mich an das tägliche Dahintreiben gewöhnt habe. Eine Frauenstimme. Sie erzählt mir, dass sie vor Kurzem in dieses Haus gezogen sind und sich seitdem unwohl fühlen. Ihr Mann arbeitet, aber sie ist den ganzen Tag in diesem neuen alten Haus und sie wird immer müder, energieloser, verzweifelter.

Eine Bekannte hat sie darauf hingewiesen, dass die Ursache des Problems an dem Haus liegen könnte, und gab ihr meine Telefonnummer. Ob ich da was machen, verändern könnte. Ich erkläre darauf hin meine Arbeitsweise und wir einigen uns auf einen Besichtigungstermin.

Alltag: Einkaufen, Kinder von der Schule holen, Kochen. In der Anfangszeit war dieser fremdbestimmte Rhythmus nicht einfach für mich, obwohl ich es liebe, mit den Kindern zusammen zu sein. Und ich habe wirklich außerordentliches Glück mit den Dreien. Ich habe immer versucht, von zu Hause aus zu arbeiten, um ihnen nahe zu sein und um mitzubekommen, wie sie heranwachsen. Vater zu sein ist definitiv anders als alleine durch das Leben zu gehen. Der Fokus ist völlig verändert und in der Familienhierarchie plötzlich hinten anzustehen, ist für ein chefseingewöhntes Männerdasein keine leichte Entwicklung.

Aber mit Veränderungen kam ich glücklicherweise schon immer gut zurecht. Und so war der Sprung von eins/zwei zu drei/vier/fünf interessanterweise schnell und problemlos machbar.

Seit einem Jahr arbeitet Petra wieder und ich kümmere mich neben einigen Jobs und hausmännischen Tätigkeiten die meiste Zeit um das kindliche Dasein. Und es hat dem meinem auch nicht geschadet.

Die paar Jahre, die wir hingeben, um den Kindern eine felsenfeste Verbindung zu sich selbst zu geben, sind es absolut wert. Abgesehen davon, was wir selbst dadurch erhalten. In Anbetracht der Tatsache, wie lange wir leben, sind fünfzehn Jahre intensives Sichumdiekinderkümmern ein Klacks. Ich beobachte in all der künstlichen Hektik und dem manipulierten Karrieredenken, dass die Kinder immer mehr verkümmern und zum Spielball von Industrie, Politik und Medienanstalten werden. Eine traurige Entwicklung, die ich nicht nachvollziehen kann.

Ich lehne mich beruhigt zurück und betrachte meine geliebten Gören. Die Kunst des Erziehens liegt eher im nicht Zerstören dessen, was die Kinder bereits mitbringen, als im Aufdrängen unsinniger Regeln und Richtlinien. Gib ihnen ihre und deine Zeit und bleib locker, wenn das Umfeld in Panik ausbricht.

Meine Ältesten gehen jetzt zur Schule – keine staatliche – und ich bin froh, dass wir diesen alternativen Weg der schulischen Ausbildung gewählt haben. Auch wenn diese Schulform etwas modernisiert werden könnte, schenkt sie den Kindern doch Zeit, sich in Ruhe entwickeln zu können. Ich hielt noch nie viel von sturem Auswendiglernen nur um des Wissens willen.

Denn was genau lernen die Kinder denn da? Oder was haben wir gelernt? All die Dinge, die uns beigebracht wurden, sind doch nur Halbwahrheiten und als wissenschaftliche Tatsachen bekundete Theorien einiger weniger Menschen.

Vor Kurzem las ich, dass alle Beweise für die Evolutionstheorie locker auf einen Billardtisch passen. Ein Besuch im Neandertalmuseum bestätigt diesen Verdacht. Aufgrund weniger wieauchimmerinterpretierter Knochenfunde wurde unsere gesamte Geschichte herbeitheoretisiert. Ein Hoch auf die Sherlock Holmes der Knochenfunde.

Die Wissenschaft bestimmt unser gesellschaftliches Denken. Und die meisten Menschen glauben nur, was sie sehen und erschaffen sich genau durch diese engstirnige Sichtweise ihre und somit unsere Welt. Das ganze Leben besteht aus Theorien und ich suche die mir passenden aus.

Was nicht heißt, dass diese dann die eine, absolute, objektive Wahrheit wäre, denn es gibt so viele Wahrheiten, wie es wahrheitssuchende Menschen gibt. Wenn alle wüssten, dass ihre persönliche Wahrheit nur eine von vielen möglichen Wirklichkeiten ist, wäre das nicht für uns alle eine Befreiung? All die Mühsal und Unzufriedenheit des Daseins enttarnt als ein Trick unserer Wahrnehmung, oder besser unseres inneren emotionalen Zustandes.

Die Freiheit ruft seit Langem laut in die Welt, aber nur Wenige hören zu. Denn frei sein bringt Verantwortung, Veränderung und Ungewissheit.

Ungewissheit: Was koche ich heute?

Erstaunlich, dass ich es überhaupt geschafft habe, mir das Zusammenbrutzeln von Essbarem beizubringen, und dann auch noch so, dass die Kinder es mögen. Aber es gibt Tage wie heute, an welchen meine Eingebung hinsichtlich kreativen Kochens nicht funktioniert. Das zeigt sich darin, dass alles anbrennt und verkocht serviert wird.

Wir sitzen am Tisch, der von der Sonne beschienen ist. Meine Gedanken werden von einem kreischenden Milan zum Horizont gezogen, der dort nach Essbarem Ausschau hält. Ich lasse meine Gabel sinken und sehe, wie mein Sohn zwischen den Nudeln herumstochert. Zaghaft wird eine kleine Nudel auf die Spitze der Gabel gebracht, und am Mund wie ein Fremdkörper mit den Zähnen abgenommen. Das kann mich ja manchmal echt aufregen, aber heute bin ich gelassen.

Wahrscheinlich brauchen die Kinder gar nicht so viel zu essen, wie wir »Verantwortliche« denken. Und wer weiß schon genau, was gesund ist. Ich bin dahin gehend auch nicht so strikt, wie es meine Frau ist. Wenn es schmeckt, können Pizza und Schokolade genauso gut sein. Der Genuss und das damit verbundene gute Gefühl ist doch letztens das Wichtige. Ich sage zu ihm, er soll es lassen, und schicke die Drei ihre Hausaufgaben machen oder spielen gehen.

Der Vorteil hier auf dem Land ist die Freiheit, welche die Kinder hier ausleben können. Und die Freiheit, die ich habe, wenn sie ihr eigenes Leben leben.

Wohnung und Küche sind aufgeräumt und glänzen einigermaßen. Ich falle in den Nachmittag, der heute von den ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres erleuchtet wird. Ein Kaffee, ein gutes Buch und der Tag zieht langsam in den Abend hinein.

In der nachmittäglichen Stille, die noch nicht vom gleichgeschalteten Dröhnen der nachbarlichen Gartenmaschinenfraktion gestört ist – was dem Sommerdasein auf dem Lande erheblich zum Nachteil gereicht –, beginnen meine Gedanken, inspiriert von Worten aus dem gelesenen Buch, in die Ferne zu schweifen.

Kann es tatsächlich sein, dass ich gemütlich hier herumsitze und das Leben genieße. Während alle anderen, gestresst von Arbeit und gesellschaftlichen Pflichten, sich und ihre Seele aufreiben? Alle jammern, wie wenig Zeit sie haben, wie viel sie arbeiten müssen, wie stressig ihre Kinder seien, und dass sie keine Zeit für sich selbst haben.

Mir geht das nicht so. Selbst wenn ich einen Job oder sogar mehrere zu erledigen hatte. Ich wusste immer, dass ich rechtzeitig zur Deadline fertig sein werde. Die Panik von Mitarbeitern oder Auftraggebern sprang nie auf mich über. Ich habe über 16 Jahre auf Termin gearbeitet, und es ist nie vorgekommen, dass ich nicht rechtzeitig fertig geworden war. Das hinterlässt Spuren. Ich habe eben diese Sicherheit in mir, dass alles gut und rechtzeitig endet.

Hm. Früher – als Jugendlicher – war ich bei weitem nicht so optimistisch. Ich war eher ein Zwangspessimist. Habe immer das schlechte erwartet. So war ich dann nicht überrascht, wenn sich die Befürchtungen bewahrheiteten. Sehr witzig. Aber seit ich mein eigenes Leben gefunden hatte und meinen Gefühlen folge, hat sich alles komplett verändert.

Im Vergleich zu den meisten Menschen lebe ich ganz anders. Ich bin ganz anders. Das war auch schon in meiner Kindheit und Jugend so. Es existierte etwas in mir, das mich von den anderen Kindern absonderte, isolierte. Und dieses Anderssein bedrückte mich. Oft fragte ich mich: Warum nur bin ich so anders? Ich empfand diese Andersartigkeit als Leid und oft betete ich, so sein zu können, wie die anderen. Aber ich war und bin einfach anders.

Und ich war schon so, als ich das allererste Mal auf diesen Planeten kam, um diese neu erschaffene Welt kennenzulernen, um zu helfen sie aufzubauen. Wie aufregend das alles war. Eine Realität, die so fest war, so dicht und in der es diese unfassbare Vielfalt an Gefühlen gab. Im Gegensatz zu der farbenfrohen Wildheit der ersten irdischen Tage ist das Dasein heutzutage recht behäbig und eintönig. Das Leben heute hat einfach andere Qualitäten.

Ich bin heute viel ruhiger als in meinen ersten Leben. Nein. Es ist eher so, als hätte ich alles erreicht, was ich erleben wollte, und jetzt fehlt nur noch diese eine Erfahrung, die Königserfahrung. Und diese finde ich nicht in geschäftigem Tun oder abenteuerlichem Treiben, sondern inmitten des absoluten Nichts.

Was nicht heißt, dass ich mich hier einem klösterlichen Dasein hingebe. Oh nein. Im Gegenteil sogar: Das Genießen all dessen, was im irdischen Körper angeboten ist, die Fülle in jedem Moment zu spüren, da geht es lang.

Meine Gedanken bleiben an den hellen Streifen am Himmel hängen ...

So langsam neigt sich die Sonne dem Horizont. Zenon und Millennia sind heruntergekommen und beginnen laut lachend irgendein Spiel zu spielen. Es ist Zeit, sich mit den Kindern zu beschäftigen und mich der abendlichen Routine hinzugeben. Petra kommt heute erst sehr spät nach Hause, sodass ich den Abend allein verbringe. Ob ich mich der Hypnose eines Spielfilmes hingeben sollte? Aber irgendwie war der Tag zu schön um durch hektische Bilder, die sich nachhaltig ins Bewusstsein brennen, geschmälert zu werden. Ich wanke, ob ich weiter diesen Roman zu Ende lesen sollte, oder doch besser eine Betrachtung physikalischer Theorien. Und entscheide mich für eines meiner Lieblingscomics. Auch wenn jetzt gute Musik dazu passen würde, lasse ich doch die Dunkelheit klingen.

Nachts hören sich all die Geräusche des Hauses viel interessanter an. Manche Geräusche kommen wohl auch kaum vom Haus, aber ich störe mich nicht daran. Wenn ich ständig daran denken würde, dass mich die anderen beobachten, könnte ich ja nicht mehr normal leben, oder?

Da ist es doch ganz gut, dass das Bewusstsein sich nur das heraussucht, was es gerade erfahren mag.

Gewohnheitsgemäß schlafen die Kinder in seliger Ruhe. Es ist wirklich erstaunlich, wie großartig die drei sind. Ist es uns zu verdanken? Oder liegt es einfach daran, dass wir ein derart großes Glück und problemfreie Kinder bekommen haben?

Ich betrachte im Dunklen ihre süßen Gesichter und kann mich stundenlang in dieser Schönheit verlieren. Aber auf Dauer ist es ungemütlich, auf dem kleinen Holzpferd zu stehen, um die beiden im Hochbett liegenden Engel zu betrachten. Ich steige vom Pferd, gehe noch mal ins Badezimmer und dann zu Bett. Ein Blick in den dunklen Himmel: Endlich wieder Sterne.

Schon als Kind stand ich am Fenster und betrachtete den nächtlichen Sternenhimmel. Zu jener Zeit ging es mir nicht besonders gut. Aber ich hatte mir dieses Dasein ausgesucht, um alles Erfahrene noch einmal zu erleben. Und in den ersten Jahren – naja es waren wohl fast 22 – hatte ich mein wahres inneres Wesen vergessen.

Sicher, es gab Ahnungen und nebulöse Gefühle. Unverstandene Wahrnehmungen und erschreckende Träume. Das Alleinsein zog mich unter das Dachfenster, wo ich vergeblich auf das Erscheinen meiner Freunde aus früheren Zeiten wartete. Aber sie ließen lange – zu lange – auf sich warten.

Und so starre ich zu den Sternen, sehe die Lichter der uns sichtbaren Sonnen und versuche an der Farbe des Lichtes herauszufinden, ob es sich um Sterne oder Satelliten handelt. Ich schlafe ein und in meinen Träumen begegnen sich Wünsche, Hoffnungen und Erinnerungen.

Ich sitze in meinem Auto, höre Violent Femmes und bin auf dem Weg zu meinem neuen Auftrag. Im Gegensatz zu früher bereite ich mich nicht mehr durch meditative Gesänge auf meine Arbeit vor. Ich weiß, dass ich ständig im Kontakt bin. Nein, dass alles, was ich benötige, in mir liegt. Jederzeit und augenblicklich abrufbar. So, wie ich ohne nachzudenken den Button an meinem Handy drücke, um einen Anruf entgegen zu nehmen.

Der Geruch nach altem Schaumstoff und das Chrom am Lenkrad geben mir ein gutes Gefühl. Der Wagen schnurrt gemütlich über die Landstraße. Ich habe keine Eile. Ich bin immer pünktlich. Ohne auf die Uhr zu schauen, meinem inneren Gefühl folgend, das irgendwann sagt: Go! Da ist es egal, ob ich eine Stunde noch im Stau stehen muss, oder beim Tanken aufgehalten werde. Oder ob ich nur fünf Minuten von meinem Ziel entfernt bin: irgendwie ist das alles inbegriffen. Ich bin immer pünktlich, ohne mir dahin gehend Mühe zu geben.

Wir fließen also in Richtung Haus meines Auftraggebers. Es liegt recht abseits in einem Tal, das schon beim Durchfahren eine dumpfe Schwere erahnen lässt, durch die das morgendliche Sonnenlicht kaum durchdringen kann. Im Oberbergischen existieren viele Täler, die unter solch einer Düsternis leiden.

Es handelt sich um ein altes Haus, was ja zu erwarten war. Umgeben von ähnlichen Bauernhäusern, schmiegt es sich an einen die Sonne verdeckenden Hügel. Es ist kühl als ich aussteige. Die Sonne konnte ihre Kraft noch nicht entfalten und ihre Strahlen erreichen das Haus noch nicht. Eine Frau und ein Mann stehen in der Tür. Gespannte Gesichter betrachten meinen alten Wagen und wie ich den beiden entgegen gehe.

Auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Menschen. Kaum zu glauben, dass beide ein Paar sind. Er scheint es gewohnt zu sein, einen Anzug zu tragen. Seine Miene ist unbestimmt, seine Augen zeigen Misstrauen. Ihre Augen spiegeln Unsicherheit, aber auch Hoffnung. Es ist immer das Gleiche: Die Frauen fühlen und wagen mutige Schritte in unbekanntes Terrain und die Männer ziehen dazu skeptisch die Augenbrauen hoch.

Ich begebe mich in das Haus und spüre sofort die Dichte und den Nebel, der in dem Haus festgehalten ist. Durch ein mit Nippes und Souvenirs vollgestelltes Zimmer werde ich in das Esszimmer geführt. Kaffeeduft steht im Raum. Aber leider nur Bohnenkaffee, der schon einige Minuten zu lange auf der Wärmplatte der Ungenießbarkeit entgegenzieht.

Nach den üblichen Begrüßungsformeln und Kennenlernsätzen kommen wir langsam zur Sache. Sie erzählt, er nickt und beobachtet. Ich fühle mich sondiert, auf dem Prüfstand, aber wenn ich hierher gerufen bin, hat es etwas zu bedeuten und ich bin demnach genau der Richtige. Das beruhigt und lässt mich weiterhin sicher in mir selbst den Problemen zuhören.

Mir ist schnell klar, worum es geht: Der Mann verfolgt seine Karriere und die Frau traut sich nicht, sich selbst zu leben. Eigentlich kein Problem, das mit dem Haus zu tun hätte. Aber es ist oft so, dass unbewusste Ängste und Gedanken im äußeren Umfeld eine Resonanz suchen. Das kann eine Krankheit sein, ein Unfall oder ein Haus, in dem es spukt oder irgendwelche Wasseradern das gesunde Zusammenleben verhindern.

Generell haben all diese Erscheinungen ihre besondere Realität: die Krankheit, der Unfall oder auch ein von unpassenden Energien gebeuteltes Haus oder Wohnung. Und für alles gibt es entsprechende Hilfe. Aber das dahinterliegende, ursächliche Problem derjenigen, die unter den Geschehnissen leiden, bleibt meist im Geheimen.

Ich erkläre der Frau und ihrem Mann in verständlichen Worten wo der Knackpunkt liegt. Dass ihr Problem erst einmal genau definiert werden sollte, und dass letztlich nur sie beide die Schwierigkeiten bereinigen können. Wie ich erwartet hatte: Der Mann fand die Hausuntersuchung schon merkwürdig genug, aber dass da etwas auf einer tieferen Ebene als der unteren Hautschicht existieren und passieren soll, ist zu viel für ihn. Da er aus beruflichen Gründen gehen muss, verabschiedet er sich unbehaglich, und stürmt dann nach kurzem Zögern mit fesselndem Blick auf seine Gattin aus dem Haus.

In solch einem Fall würde ich an dem Haus eh nicht viel verändern. Schließlich müssen beide darin leben. Und wenn die Energie zum Fließen käme, würde die Frau zwar einen Schubs bekommen um ihre erhoffte Veränderungen zu starten, er aber würde sich unbehaglicher und ausgesperrter fühlen. Schwierige Situation.

Ich erkläre dies, und im folgenden Gespräch taut die gute Frau auf und legt erst richtig los. Sie erzählt mir, wie glücklich sie vorher waren, und dass sie seit dem Umzug immer weiter auseinanderfühlen, immer mehr streiten und sie immer unglücklicher wird. Dabei war sie zuvor so lebenslustig.

Wenn man sich die Mühe macht, die Gesichter der Menschen genau zu betrachten, kann man recht schnell die inneren, emotionalen Zustände ins Gesicht gezeichnet erkennen. Oft beobachte ich Menschen, die hauptsächlich auf der rechten Seite lachen oder deren Mimik auf einer einzigen Gesichtshälfte reduziert ist. Das sagt schon einiges über das wahre innere Wesen eines Menschen.

Bei mir selbst war es früher auch so, dass ich nur rechts gelacht hatte. Wenn mich jemand von links begrüßte und ich zurücklächelte, musste ich extra den Kopf drehen, damit derjenige auch mitbekam, dass ich ihn anlächelte. Verrückt. Ich erinnere mich noch gut an den Moment, in dem ich urplötzlich und ohne Absicht ein Lächeln auf der linken Gesichtsseite zustande brachte. Ich war zunächst völlig von den Socken und freute mich danach wie Bolle, da dies ein äußerliches Zeichen für eine tiefsitzende innere Heilung bedeutete.

Und wenn eine Frau vor mir sitzt, in deren Gesicht herabgezogene Mundwinkel jedes Lachen verbieten, und diese sich selbst Lebenslust diagnostiziert, kann ich das nicht ganz glauben. Diese Frau trägt einen so tiefen Schmerz in sich, dass ihre »Lebenslust« nur der verzweifelte Versuch ist, die Traurigkeit nicht hervorkommen zu lassen. Und jetzt, in der Einsamkeit eines neuen Zuhauses, fernab von Freunden und Ablenkungen, kommt dieser Schmerz wie eine dunkle Gewitterwolke über sie. Und das Haus, in dem sie wohnt, unterstützt diesen Aspekt in vollem Umfang.

Wie sprechen darüber. Ich öffne ihre Wunden und mit sanfter Salbe mitfühlender Worte führe ich sie zu sich selbst. Ich weiß, dass die Worte nur oberflächlich wichtig sind, aber im Hintergrund, unsichtbar, aber für mich deutlich zu spüren, passieren Dinge, die zu erklären ich selbst nicht fähig bin.

Ich spüre, dass der Raum um uns immer größer und heller wird. Ihre Düsterheit und die von emotionalen Verletzungen vernarbte Haut entspannen sich. Bis der entstandene, energetisch lichtvolle Raum ihr Ruhe und Sicherheit gibt. Die Narben beginnen sich zu röten und grauen Nebelschwaden gleich verlassen alte verletzende Worte und unschöne Gedanken ihren Körper. Ich spüre wie sie sich entspannt und gleichzeitig voll zitternder Energie ist.

Wir beenden das Gespräch zu dem Zeitpunkt, an welchem ihr Wesen losgelassen hat, was es loszulassen gibt. Äußerlich ist nicht viel passiert, außer dass zwei Menschen bei schlechtem Kaffee ein intensives Gespräch führen. Aber die Energie, die aus dem Herzen in den Raum geflossen war, hat ihr geholfen sich zu öffnen, sich selbst etwas mehr zu befreien.

Ihrem Wunsch entsprechend gehe ich noch durch die Zimmer, um das Haus auf seinen Energiezustand zu untersuchen. Wie bei vielen alten Häusern steht die energetische Matrix der Mauern auf wackligen Beinen. Die Wände erscheinen schief und dunkel. Manche sehe ich derart gewölbt, dass es mich wundert, wie man hier überhaupt wohnen kann.

Ich frage nach ihrem Schlaf und erhalte bestätigt, dass dieser ruhelos und ermüdend wirkt. Im Schlafzimmer spüre ich den Fluss des am Haus vorbeiziehenden Baches. Seine energetischen Fließmuster durchstreifen das Zimmer der Länge nach und mitten durch das Bett der Hausherren.

Während meiner Untersuchung erkläre ich die Zustände, kann mir aber noch keinen Reim darauf machen, was der Auslöser für eine solch Verschlechterung sein kann. Wasseradern und andere Strahlungen bewirken einiges. Aber dass die Energie eines Hauses so absinkt, dass kaum noch Luft zum Atmen in den Räumen zu sein scheint, kann nur an einer schweren energetischen Verletzung liegen.

Ich dehne mich aus, und wie ich die Räume vollständig ausfülle, zeigt sich in der Ecke ein verängstigtes Wesen. Nein: ein Wesensanteil. Aber diese Angstform kann nicht die Ursache des Problems sein, sondern ist selbst ein Teil des Schmerzes. »Was ist das für eine Tür?« »Ja, die führt in den Keller, aber da geht nie jemand runter«.

Wenn ich diese Worte höre, weiß ich, dass ich mindestens eine halbe Stunde unten zwischen Spinnweben und alten muffigen Dingen auf Ursachenforschung gehen darf. Ich verabschiede mich bis auf Weiteres und steige die alten ausgelatschten Steinstufen in einen düsteren Gewölbekeller hinab. Zwei nackte Glühbirnen hängen inmitten eines großen Nichts und kämpfen mit zartem Zittern gegen die Dunkelheit, die aus Ecken und Wänden in die Mitte des Raumes kriecht. Der Raum ist völlig leer.

Bis auf die verängstigten Augen der jungen, vor Angst starren Frau, die in verschlissenen Kleidern in der Ecke kauert und die beiden Soldaten fixiert. Wie der Hase vor der Schlange. Die Soldaten stellen ihre Waffen an die Wand und lachen. Sie ziehen sie aus, schlagen die unbewegte Frau, deren Seele schon nicht mehr in ihrem Körper wohnt, vergehen sich an ihr und töten sie. Wie eine hängende Schallplatte wiederholt sich die Szene. Immer wieder. Der Schmerz der jungen Frau fließt aus ihrem zerschundenen nebligen Körper in den Raum und saugt jede noch so frische Energie in sich hinein. Wie in ein schwarzes Loch wird alles, was Licht und Leben ist, in den düsteren Schlund der Raum und Zeit übergreifenden Gewalt gezogen.

Aus mir heraus brennt eine große Flamme in spiraler Bewegung, immer größer werdend, der Dunkelheit entgegen. Das Feuer nagt und zieht düstere Wolken aus den Ecken, aus den Wänden heraus, aus dem Ursprung des Schmerzes. Die beiden schemenhaften Gestalten der Soldaten – zurückgelassene Seelenanteile, die abgespalten hier stecken blieben, ohne Hoffnung alleine zurückzufinden, für immer verdammt die gleiche Situation wieder und wieder zu erfüllen –, werden aus der Schleife befreit und bleiben wie leere Hülsen am Boden liegen.

Die Dunkelheit ist gewichen. Übrig bleibt die fast erloschene Schwade einer einst lebendigen Frau. Auch sie verloren, aus dem Körper gestoßen und in der Schleife des Todes gefangen. Ich fühle nach oben. Die Decke verschwindet in Wellen und gibt ein Licht frei, das stark und hell, aber ohne zu blenden, herableuchtet. Ich reiche ihr meine Hand, voller Angst zuckt sie zurück, doch mit beruhigenden Gedanken nähere ich mich ihr, ergreife ihre durchscheinende Hand und geleite sie zu dem Licht. Wie immer kommen sie den halben Weg herab, nehmen die Frau mit freundlichen Gesten in Empfang und heben sie in lichte Höhen. Von unten sehe ich ihre Freunde, Bekannte, Familie, die sie in die Arme schließen. Sie ist noch immer verwirrt, hin und hergerissen zwischen Unglauben und Freude.

Ich reiße mich aus der warmen Energie, nehme beide Seelenanteile der Soldaten und führe auch diese zu dem Licht. Sie werden angenommen, und können nun zurück, wenn der größere Teil derer Seelenwesen dies geschehen lässt. Debil grinsend stehe ich in einem Gewölbekeller und atme erst einmal in aller Ruhe. Erfüllt von der leuchtenden Energie anderer Welten, die mich glücklich und zufrieden macht.

Immer wieder stoße ich auf den Krieg. So viele Jahre her und dennoch so mächtig und allgegenwärtig. Verlierer alle beide, Täter wie Opfer. Und im dauernden Kreislauf des Stehlens von Energie. Es ging immer nur darum die Energie zu stehlen, oder?

Ich begebe mich nach oben und stoße auf eine verwirrte Frau. Ich erzähle nur soviel, wie ich denke, dass sie wissen muss. Schließlich ist die Hypnose in Bezug auf Geister zu sehr von Angst und grausigen Bildern durchzogen. Meist aus den entsprechenden Filmen, wie Poltergeist oder Schlimmerem. Ich erkläre nun, was ich noch an dem Haus tun könnte. Dass ich aber denke, das ursächliche Problem liegt in ihr. Und wenn sie selbst dieses Problem in sich gelöst hat, lösen sich auch all die Dinge um sie herum. Oder sie stören sie nicht mehr. Eine Frage der Resonanz.

Ich bedanke mich für das Honorar und schreite zu meinem Volvo. Sie schaut mir nachdenklich hinterher, wie ich rückwärts aus dem Hof fahre. Ich bin gespannt, wie es ihr nun weiterhin ergehen wird.

Auf dem Weg zurück nach Hause lasse ich mir alles noch einmal durch den Kopf gehen. Dabei bemerke ich, dass ich mal wieder etwas mitgenommen habe. Obwohl ich mich sicher fühle und unangreifbar bin, kleben sich gerne mal irgendwelche Fremdenergien an mich. Ich konzentriere mich und dehne mich wieder über mein Auto hinaus aus. Ich spüre den Gummi auf dem rauen Asphalt, Details meines Wagens und die vorbeiziehende Landschaft. Ich öffne meinen Nackenbereich und der Rest der mitgenommenen Energien fließt in die Natur hinaus: mein Kopf ist wieder frei.

Als wir damals den Versuch starteten, war uns nicht klar, wie sehr die Menschen sich aus dem allumfassenden Feld lösen würden. Ja, es gab auch vorher schon Energieraub und wie auch immer geartete Kriege, aber in der irdischen Dichte sind Gewalt und Krieg mehr als extrem und exzessiv. Durch die Körperlichkeit ist hier alles viel schlimmer als je zuvor. Und ohne die innere Verbindung zum höchsten Licht, taumeln viele Menschen von einer grauenvollen Erfahrung in die nächste. Wenn wir uns nicht im Schleier des Vergessens verirrt hätten, wenn wir den Überblick und die Liebe in unseren Herzen behalten hätten, wäre es dann anders gekommen? Aber das Spiel, Macht über Andere auszuüben, wird es wohl solange geben, bis wir alle wieder da sind, wo wir angefangen haben. Bescheuert.

Ein Geräusch lässt mich auffahren. Es dauert einen Augenblick bis sich die Grenze zwischen Traum und vermeintlicher Realität einstellt und mir klar wird, wo genau ich bin. Was ist los? Ob eines der Kinder wach war und weinte? Nein. Es ist alles ruhig. So ruhig, dass ich das Fließen des Blutes in meinen Ohren wahrnehme. Es stellen sich weitere Geräusche ein: ein Rauschen – wahrscheinlich die alte Pumpe der Heizungsanlage. Ein Summen – klar der Kühlschrank. Und weitere, aber undefinierbare Geräuschfetzen schweben durch die Nacht. Vielleicht die Katzen, aber kein Geräusch aus den Kinderzimmern.

Ein Blick in mein Zimmer zeigt nur die verfremdeten Silhouetten der Möbel, die vom Mondlicht beschienen ihr Eigenleben bekommen. Fremde Gestalten in fremden Welten, starr vor Schreck, weil ich aufgewacht bin und sie nun mit meinem suchenden Blick banne. Wer hat hier wohl mehr Angst? Die rot glühenden Augen der mittlerweile unvermeidlichen, elektronischen Geräte hab ich mit Fotos zugedeckt. Es würde mich doch irritieren, wenn ich schlafe und dabei aus gespenstischen LED–Augen beobachtet werden würde.

Immer noch grübelnd, was mich wohl aus dem Schlaf gerissen hat, versuche ich den gesponnenen Faden des letzten Traums aufzunehmen und mich wieder in die Geschichte einzuweben. Ob es mir gelingt, kann ich nicht sagen, denn ich bin sogleich in der Tiefe des Schlafes verschwunden.

6:33

Das ansonsten fröhlich in den Morgen krähende Vogelgezwitscher meines Handys ertönt nun grell und erschreckend laut. Bevor ich wach bin, hab ich die Stimmen schon abrupt kaltgestellt. Es ist verdammt früh. Heute bin ich dran, die Kinder zu wecken und in die Schule zu bringen. Jetzt, wo es schon einigermaßen hell ist, macht es mir nicht mehr so viel aus, so früh aufzustehen. Auch wenn ich die nächste halbe Stunde noch nicht voll da bin. Aber im Winter bei Dunkelheit aufzustehen fällt mir unglaublich schwer. Es ist mir ein Rätsel, warum Kinder derart früh aufstehen müssen, um zur Schule zu gehen. Hat man nicht vor Kurzem festgestellt, dass es für alle Beteiligten besser wäre, wenn die Schule erst um neun Uhr begänne?

Für mich auf jeden Fall. Wie schön wäre es, an helllichtem Tag gemeinsam mit den Kindern gemütlich am Frühstückstisch den Tag zu beginnen. Aber in einer Gesellschaft, deren Dasein von Arbeit, Karrierewahn und Angst vor dem Ungewissen bestimmt ist, gibt es wohl kein Platz für Müßiggang.

Ich stelle mich in meine Hosen, zieh das Tshirtpulloverkonglomerat über mich und begebe mich in die Kinderzimmer. Das frühe Aufstehen scheint den Kurzen wenigstens nichts auszumachen, aber die gehen ja auch schon um acht ins Bett. Während ich das Obst für das Frühstück zurechtschneide, den Tee koche und die Brote für die Schule schmiere, ziehen sich die Drei an und regeln ihre kleinen Aufgaben: Tisch decken, Wasser holen, Katzenklo säubern.

Nach dem Frühstück sitze ich da, starre mit halbwachem Blick in den sich über den Horizont ergießenden Tag und warte, bis der Zeitpunkt des Aufbruchs naht. Da wir derart weit draußen wohnen, müssen die Kinder morgens zum Bus gebracht werden, der sie dann zur Schule bringt. Der Weg zur Bushaltestelle ist zu weit um diesen zu Fuß zu erreichen, weswegen wir abwechselnd fahren. Irgendwann findet sich vielleicht das passende Haus, das alle Erfordernisse erfüllt und die Kinder zu Fuß zum Bus oder in die Schule gehen können. Im Augenblick jedoch ist noch tägliches Fahren angesagt.

Ich freue mich jedes Mal, wenn der Winter des Nachts hereinbricht und die Straßen unpassierbar sind. Telefonketten informieren uns dann, dass die Schule ausfällt, weil die Busse nicht aus der Garage kommen. Dann lege ich mich wieder ins Bett und der Tag wird recht gemütlich. Ich finde Schule nicht so wichtig. Hauptsache, die Kinder haben den Raum, sich selbst zu entfalten und bekommen genügend Anregung, sich weiterzuentwickeln. Das gängige Schulsystem ist definitiv veraltet und geht an den tatsächlichen Bedürfnissen der Kinder meilenweit vorbei: Mit fünf Jahren in die Schule und Lernenlernenlernen, benotet und beurteilt zu werden und von Anfang an irgendeinem Stress ausgesetzt sein. Nein danke, das Leben soll doch Spaß machen. Gut, dass es alternative Schulmodelle gibt.

Meine Kinder lieben es, in die Schule zu gehen. Wenn ich da an die anderen denke, die schon im ersten Schuljahr die Schnauze voll haben, voller Stress und von Angstattacken gepeinigt, den Ernst des Lebens beginnen. Grauenvoll. Und wie soll das denn weitergehen?

Ich sitze an der Bushaltestelle im Auto, frierend. Das Glas beschlägt von innen, es ist noch zu kalt morgens. Mit dem Handschuh reibe ich das Fenster klar, damit der Blick auf die Kids an der Bushaltestelle frei wird. Ich beobachte, wie ein Kleinwagen heranfährt. Ein Kind steigt aus, ein Blick zurück ins Auto und es mutig stapft in Richtung Haltestelle. Bevor es auch nur einen Meter entfernt ist, verschwindet das Fahrzeug wieder im morgendlichen Verkehrschaos.

Da läuft das siebenjährige Mädchen ganz allein, mit sich selbst Mut machenden Schritten zu einer Haltestelle im Nirgendwo. Warum lässt man ein noch so junges Kind allein an der Haltestelle stehen? Nicht dass ich overprotecting wäre, aber was, wenn der Bus mal nicht kommt – was schon mal passieren kann? Wenn ich mir vorstelle: Als Kind allein an der vielbefahrenen Landstraße, der erwartete Bus kommt nicht, kein Ansprechpartner weit und breit ... ich käme mir sehr verlassen vor.

Und das ist genau eines der Dinge, die wir unseren Kindern nie antun würden: Ihnen das Gefühl zu geben, dass sie verlassen wären, allein. Da sind die paar Jahre gut angelegt und das Urvertrauen nie gebrochen. Welch ein Geschenk für ein Wesen, das sich in einer dichten Welt voller Hektik und Reglements zurechtfinden muss.

Ein weiteres Auto hält. Die Mutter, genauso groß wie ihr Auto hoch, klettert vom Sitz herunter und schiebt den sich ebenfalls herausschälenden Sohn an die Kreuzung. Zwei Blicke, ein Schubs und der kleine Junge hüpftspringtrennt über die Straße. Die Mutter hektikt sich wieder in das Auto und lässt das verunsicherte Wesen allein zurück. Auch sie reiht sich in das Heer computergesteuerter Fahrzeuge ein. Ein Auto pro Person. Alle in die gleiche Richtung, um die gleiche Uhrzeit, zu den gleichen Orten, an den gleichen Tagen, in gleichen Leben. Bis sie krank werden und vor Auszahlung der Rente sterben. Der Bus kommt. Die Kinder steigen ein.

Ich starte meinen Wagen, drücke den Knopf für die Musik und fahre nach Hause. Mein Tag beginnt.

Ist Ihnen auch schon mal aufgefallen, wie das erste Lied am Tag den momentanen Zustand beschreibt? Wenn ich wach werde, habe ich sofort ein Lied im Kopf. Bei all den Liedern, die sich im Laufe eines 42–jährigen Lebens angesammelt haben, kann ich aus einem großen Repertoire schöpfen. Es hat ziemlich lange gedauert, bis mir klar wurde, dass das erste Morgenlied eine Botschaft in sich trägt.

Aus unerfindlichen Gründen und unabhängig von der Sprache passen Musik und der zugehörige Text zu dem augenblicklich vorherrschenden Gefühl. Als 17–Jähriger begeisterte ich mich sehr für die Platte »The Hurting« von Tears for Fears. Ich konnte die Scheibe quasi auswendig mitsingen, wenn man das so nennen kann, da ich des Englischen nur rudimentär mächtig war.

Erst viele Jahre später, als ich das Englische einigermaßen gut beherrschte, erkannte ich die Worte und den Sinn, den diese Musik in sich trug. Und die in den Liedern beschriebenen Gefühle entsprachen exakt dem Gefühlsleben meiner ersten 17 Jahren. Als hätten die Jungs von Tears For Fears vorher ein Interview mit meinem Unbewussten geführt. Und es dann in Englisch übersetzt. Erstaunlich.

Und so ist es auch jeden Morgen: Ein himmlischer DJ legt den Song des Tages in mein Ohr. Heute war es Seeed: »Stop! Heute sehe ich ziemlich gut aus, mach mich schick und setz nen Hut auf ...«. Was ich dann auch mache und beschwingt in den Tag starte.

Ich steige aus dem Auto, hänge meine Jacke an die Garderobe und nehme vorher Brieftasche und Handy heraus. Die kommen in mein Büro und nachdem ich die ausgelatschten Hausschluppen angezogen hab, bewege ich mich gemütlich in die Küche, um Kaffee aus dem Kühlschrank zu holen. Dabei versuche ich, die Katze nicht zu wecken, die sich mal wieder ein besonderes Plätzchen ausgesucht hat und die bei der geringsten Bewegung Gefahr läuft, vom Stuhl herabzufallen. Sie ist ein kleiner Tollpatsch. Und dünn und hat diesen ewigen Schnupfen. Es ist ja nicht nett: Aber ich muss oft lachen, wenn sie sich wieder umständlich einen Platz erarbeitet, sich zurechtlegt und keine Minute später mit dem gesamten Kissenarrangement vom Stuhl, von der Heizung oder vom Fenstersims herabfällt. Oder dieses Timing sich genau dann auf meinem oder Petras Schoss zurechtzukuscheln, wenn wir gleich aufstehen müssen.

Die andere Katze ist da ganz anders. Pauline. Ein Tiger in Katzengestalt. Keine Ratte ist groß genug, um nicht noch von ihr angefallen und ins Haus gebracht zu werden. Manchmal leben die noch und dann herrscht Panik im Haus. Und sie ist superstolz darauf, dass sie uns ernähren kann. Sehr witzig.

Der Espresso wird in eine Chromkanne gefüllt, unten Wasser, darüber der Kaffee, nicht zu vergessen Gummidichtung und Sieb, Zusammenschrauben und auf die Herdplatte. Daneben stelle ich einen Milchtopf, der genau die richtige Hitze hat, wenn der Kaffee laut vor sich hin blubbert. Die Milch von Hand schäumen, den Espresso langsam in die Tasse zu dem Schaum fließen lassen und das Frühstück ist fast fertig.

Ich überlege, ob ich das Radio anschalten mag, um dabei die Zeitung zu lesen, oder einfach in Ruhe dasitze, um den fantastischen Ausblick zu genießen. Vor noch nicht all zu langer Zeit war es mir sehr wichtig, Nachrichten zu hören und Zeitungen zu lesen, um genau über alles Bescheid zu wissen. Aber mittlerweile kann ich ganz gut drauf verzichten.

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