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2. Kapitel
Оглавление20. April 1945 17.00 Uhr
Sanft legt sie ihren Körper über den seinen und küsst ihn. Von ihm unbemerkt rupft sie einen Grashalm aus und streicht mit dem grünen Stängel zart über seine Wangen. „Höre auf, das kitzelt!“, fordert er lachend. Doch Alma denkt nicht daran aufzuhören. Sie klemmt sich den Halm fest zwischen die Lippen, greift seine beiden Arme, drückt sie fest zu Boden, senkt ihren Kopf nieder und kreist, jetzt mit Halm und ihren langen braunen Haaren weiter über seinem Gesicht. „Das kitzelt“, wiederholt er mit Nachdruck. Sie lacht nur: „Pech, mein Lieber. Da musst du durch.“ Er versucht, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien, aber es gelingt ihm nicht. Verdammt, wo hat sie auf einmal so viel Kraft her? „Höre auf, dich zu wehren! Du hast keine Chance, du bist tot!“ Erschrocken reißt Fritz die Augen auf, erblickt über sich gebeugt einen Totenschädel, dessen leere Augenhöhlen ihn gebannt anstarren. Mit aller Gewalt gelingt es ihm, das „knöcherne Etwas“ abzuwehren und seinen Körper aufzurichten. Hastig blickt er sich nach allen Seiten um, doch die „skelettierte“ Alma bleibt verschwunden.
Es dauert einige Momente, bis er begreift, dass ihn sein Traum in die Wirklichkeit zurück katapultiert. Schweißperlen rinnen über sein Gesicht. Er blickt in den Himmel, sieht, wie der laue Wind der Abenddämmerung sacht durch die Tannenkronen schweift. Alles sieht so friedlich aus, selbst das Grollen der Geschütze scheint, verstummt. Wo stand der Deutsche, wo der Russe? Hinter ihm? Oder hatten sie ihn schon überholt? Die letzte Nacht war er durch die Wälder gestreift, immer Richtung Westen, hatte tunlichst sämtliche Straßen und öffentliche Wege gemieden. Gedanken jagen durch seinen Kopf. War es richtig zu desertieren? Was, wenn der Führer recht behielte, der Russe doch im letzten Moment gestoppt, die Wehrmacht doch noch den Endsieg davontragen würde? Das hieße dann ein Leben lang vor den eigenen Leuten fliehen! Umkehrschluss, der Russe gewinnt und er läuft denen in die Arme? Wie würde die Sache ausgehen? Müsste er sich vor der russischen Rache fürchten? Die Propaganda-Maschinerie hatte die Deutschen ja immer vor der Barbarei der Untermenschen gewarnt! Egal, wie rum man es auch betrachtete, Fritz stellte sich immer die Frage, ob es wirklich richtig war, davonzurennen. Hatte er nicht sogar seine Kameraden im Stich gelassen? Aber Heinrich war tot! Heute wäre er neunzehn geworden! Erst jetzt wird ihm die schmerzhafte Bedeutung dieses Tages bewusst. Ja, heute war ja auch sein Geburtstag. Er zumindest hatte die Neunzehn erreicht. „Na dann alles Gute …“, murmelt er vor sich hin. Bin ich mein einziger Gratulant! Was ist mit Geschenken? Ein Schluck Wasser wäre gut. Mein Gott, wie bescheiden man doch werden kann. Oder einfach nur Zivilklamotten? Die Uniform, die er jetzt trug, ist bei der Flucht wenig hilfreich! Wie würde eigentlich der Führer seinen heutigen Sechsundfünfzigsten begehen? Wahrscheinlich standen die Gratulanten Schlange, und es gab statt Wasser Sekt in Strömen. Quatsch! Der Führer trank keinen Alkohol, das ist doch allgemein bekannt! Vielleicht feierte er auch gar nicht, sondern war bei seinen Soldaten, verteidigte Berlin, tat alles dafür, um doch den Endsieg herbeizuführen. „Der Endsieg …“, brabbelt Fritz sarkastisch: „Ja, der Endsieg …“ Er blickt nach oben, schaut durch die mächtigen Baumkronen hindurch. Es scheint, als würde die untergehende Abendsonne jeden Moment die Baumwipfel berühren. Er konnte sie hindurch spüren, fühlte, wie sie sein Gesicht zu berühren begann. Doch noch ein später Gratulant, wenn auch ein imaginärer. Oder wollte Mutter Sonne es ihm gleichtun, sich vor der Dämmerung verstecken, verfolgt von den Mächten der Nacht und den Schergen des Mondes …? Es ist Zeit aufzubrechen. Halbwegs geschützt durch die Wälder und die Dunkelheit setzt er seinen Weg fort. Wo genau er sich eigentlich befand, war ihm unklar, aber zumindest musste die Richtung stimmen, weil er der untergehenden Sonne entgegenlief. Immer Richtung Westen!
Die Reichsstraße Eins musste parallel links von ihm verlaufen. Oder doch nicht? Schnell kann man im Unterholz die Orientierung verlieren. Doch er muss befestigte Straßen meiden, die Gefahr der Entdeckung wäre um ein Vielfaches größer. Mühsam kämpft er sich durch das Dickicht. Wieder und wieder verspürt er den Druckschmerz der zurückfedernden Äste und die Stiche der kleinen grünen Nadeln. Die Uniform ist mit Harz verklebt und dreckig. Sein Schweißgeruch ist kaum auszuhalten. Wie musste er bloß auf andere wirken? Doch Körperpflege hatte nun wirklich keinerlei Priorität. Einfach nur überleben.
Plötzlich passiert es. Mit einem Mal ist das Dickicht zu Ende. Wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche taucht vor seinen Augen ein Gehöft auf, nur von einer asphaltierten Straße vom Wald getrennt. Sofort duckt er sich und versucht, Schutz hinter einem Busch zu finden. Aufmerksam mustert er die Szenerie. Das Objekt, welches von einem Holzzaun umgeben ist, scheint ein kleines bäuerliches Gehöft zu sein. Aus rotem Backstein, wie man sie hier in der Gegend zuhauf findet. Schemenhaft zeichnet sich das Haupthaus ab, an dessen Eingangstür eine kleine hängende Laterne ein warmes, zaghaftes Licht spendet, dessen Schatten auf die angrenzende Scheune fällt. Mittig ist eine Viehtränke erkennbar. Drei, fast in einer Reihe stehende Bäume behindern die Sicht. Spielte ihm sein Gehirn das alles nur vor? Es herrscht absolute Ruhe, kein einziger Lichtschein in den Fenstern des Hauses. Anscheinend waren die Bewohner längst im Bett. Wie spät mochte es eigentlich sein? Sein Zeitgefühl hatte sich unter den Anstrengungen seines Weges verflüchtigt. Egal. Wenn er sich nun vorsichtig heranschliche und es sich wirklich um eine Tränke handelte, dann könnte er endlich etwas das gröbste Übel angehen, das seinen geschundenen Körper am meisten zusetzte - Durst! Vorsichtig rutscht er auf dem Erdboden entlang, dem Zaun entgegen. Mit letzter Entschlossenheit überwindet er diesen mit so etwas wie einem Hechtsprung und sucht hinter einem der Bäume Deckung. Angestrengt lauscht er in die Nacht. Stille. Niemand hat ihn bemerkt. Nur ein paar Schritte entfernt steht sie, majestätisch verschleiert durch das fahle Mondlicht, begehrenswert wie eine Oase inmitten einer Sandwüste, die Viehtränke. Wie verzweifelt muss man sein, um das rettende Nass dem gemeinen Vieh wegzusaufen? Egal, der Durst ist unerträglich! Er kniet sich auf den Boden, um mit beiden Händen zu schöpfen, als ihn plötzlich von hinten eine Hand packt, ihm den Mund zuhält und ihn mit aller Macht nach hinten auf den Boden schleudert. Panisch versucht er aufzuspringen, um sich zur Wehr zu setzen, wird aber durch eine Hand dran gehindert, während die andere einen Finger an den Mund des Angreifers hält, aus dessen Mund ein leises „Psst!“ schießt. Fritz blickt in ein durch das Zwielicht nur schemenhaft zu erkennendes Gesicht, das einem älteren Mann gehören könnte. Links von der Gestalt steht eine Frau, deren Gesichtszüge im Mondschein deutlicher ablesbar sind. Auch sie wirkt auf den Erschrockenen alt und grau. Irgendwie gespenstisch, diese gramgebeugten Figuren …
In den faltigen Winkeln rund um die Augen ist die blanke Angst eingemeißelt, so jedenfalls empfindet der Über- rumpelte das Gesehene. „Psst! Die Russen!“, raunt der Alte. Und deutet in Richtung der Straße. Dann löst er seinen Griff und weist durch ein stummes Kopfnicken Fritz die Richtung. Hinter der Scheune, im Schutz eines Vogelbeerstrauches, öffnet der vermeint- liche Angreifer eine Luke im Erdboden. Die nur schwach zu erkennende Leiter führt nach unten ins Erdreich. Als Erste macht sich die Alte daran hinab zu steigen, gefolgt von Fritz und schließlich dem Alten, der von innen die Luke wieder verschließt. Nun herrscht absolute Dunkelheit, bis eine Petroleumlaterne diesen Zustand aufhebt und die Umgebung im flackernden Feuerschein preisgibt. Sichtbar wird ein Raum von vielleicht zwanzig Quadratmetern, ein- gerichtet wie eine kleine Wohnstube. Zwei Metall- liegen, die sehr an die Pritschen eines Feldlazaretts erinnern, sind an der Wand befestigt. Hochklappbar, um bei Bedarf Platz zu sparen. Gegenüber steht ein schon in die Jahre gekommener Holzschrank, gleich neben einer Kommode, auf der ein kleiner Feldkocher steht. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, auf den der alte Herr jetzt die Laterne stellt. Fritz erhält ein Zeichen, sich auf einen der beiden Stühle zu setzen, während der Alte sich selbst auf einer der ausgeklappten Liegen niederlässt. Jetzt erst ist der Zeitpunkt gekommen, an dem der „Gast“ das erste Mal in die Augen seines „Gastgebers“ blickt. Es sind warme Augen, ihm undefinierbar wohlwollend, Vertrauen entgegenbringend. Das Augenpaar gehört einem Mann mit schütterem, weißen Haar und einigen tiefen Furchen im Gesicht. Wie alt mochte er sein? Sechzig? Siebzig? Älter? Sein Körperbau, der einem massiven Eichenschrank sehr nahe kommt, deutete auf etwas anderes. Dieser keilförmige Alte schien auf seine Art und Weise durchtrainiert. Wodurch sich dann auch erklären ließ, dass er ihn, den Jüngeren, auf den Erdboden drücken konnte. Dem Augenschein nach mochte die Frau neben ihm nicht wesentlich jünger sein, nur dass ihr Gesichtsausdruck eher Misstrauen und Unbehagen vor dem ungebetenen Gast ausstrahlte. „Bist getürmt …?“, begann der Alte, eher feststellend als fragend. Der Befragte nickt stumm. Lügen hätte eh keinen Zweck, die verdreckte Uniform sprach Bände. „Ja. Werden Sie mich jetzt ausliefern?“ Verächtlich spuckt der Alte auf den Boden: „Hätte ich dich dann hier runter geschleppt?“ „Ich dachte nur …, weil doch die Russen …“ „Papperlapapp, ob Russe oder Wehrmacht! Alles dieselbe Scheiße! Ich habe den letzten Krieg überlebt und gedenke es auch jetzt zu tun. Im Gegensatz zu unserem Sohn, der ist nämlich bei Stalingrad gefallen.“ Während das Gesicht der Frau eine tief sitzende Traurigkeit vernehmen lässt, spuckt der Alte erneut auf den Fußboden und fügt sarkastisch hinzu: „Gefallen für Führer, Volk und Vaterland! Das Theater kann nicht mehr lange dauern und dann werden wir sehen, was morgen kommt. Weiter sollten wir alle nicht mehr denken, lohnt nicht, kommt doch anders! So, du Spund, nun erzähl mal deine Geschichte!“ Zögerlich und etwas wirr, dann doch der Reihe nach gibt Fritz seinen Bericht ab, während das Ehepaar aufmerksam zuhört, einige Male verständnisvoll mit den Köpfen nickend. „So so, hast also heute Geburtstag! Hm, nun eine Kerze gibt es nicht. Musst dich mit der Laterne zufriedengeben. Aber mal was anderes. Unser Horst hatte in etwa dieselbe Statur. Schauen wir vorsichtig nach, ob oben die Luft rein ist.“ Vorsichtig hebt er die Luke einen Spalt an und lauscht in die Nacht. „Scheint alles in Ordnung.“ Dann kommandiert er: „Los rauf! Ab in die Scheune! Die Klamotten runter! In der Scheune steht eine Pumpe, daneben liegt ein Stück Kernseife. Wasche dich, stinkst wie ein Wiedehopf. Und du, Elsbet, such ihm ein paar von Horsts Klamotten zusammen! Ich passe unterdessen auf, falls wir wieder unangemeldeten Besuch bekommen.“ Die Frau steht unbeweglich da. Fritz sieht ihr an, dass sie die Sachen ihres Sohnes nur sehr ungern herausgeben möchte. Zu frisch war bis jetzt die Todesmeldung. Zu neu, der Gedanke loszulassen. Es sind seine Sachen. Damit verbunden schöne Erinnerungen. Das Letzte, was von ihm geblieben war. Und nun sollte sie es einfach diesem dahergelaufenen Fremden überlassen. Doch der Alte bleibt unnachgiebig. Und beendet den stummen Protest: „Los, Elsbet. Nun mach schon! Der Junge hat es nötig.“
Das Wasser der Pumpe ist kalt und spärlich, die Kernseife geruchslos. Und doch hat Fritz das Gefühl, als spüle er sich nicht nur Dreck vom Körper, sondern so etwas wie Leben in seinen Körper. Immer wieder reibt er sich mit dem Seifenschaum ein und drückt in kurzen Intervallen den Pumpenschwängel, bis der Alte stirnrunzelnd ruft: „Lass aber noch ein bisschen Haut dran!“ Mit einigen Kleidungsstücken unter dem Arm erscheint auch Elsbet wieder und tuschelt ihrem Mann etwas ins Ohr. Voller Scham dreht sich der nackte Deserteur zur Seite, was der Hausherr ironisch quittiert: „Hab dich nicht so! Es gibt nichts an einem Mann, was diese Frau nicht schon gesehen hat. Hier, ziehe die Klamotten über! Wir gehen dann wieder runter, ist sicherer. Außerdem hat sie was zum Essen geholt, damit du wieder was zwischen die Kiemen bekommst. Ist zwar nur Kohlsuppe von heute Nachmittag. Und fast durchsichtig, aber ich denke, besser als gar nichts.“
Hastig löffelt er, giert die Suppe in sich hinein. Mit jeder Armbewegung steigt eine wohlige Wärme im Körper auf. „Lege dich dort auf die Pritsche und schlafe dich erstmal aus. Versuche, den Kopf frei zu kriegen, wenigstens so gut es geht. Hier bist du sicher.“ Die weiteren Ratschläge hört Fritz schon nicht mehr. Er fällt in einen tiefen Schlaf, der Körper hat sich seiner Anstrengung entledigt.
„Du Deutscher. Du zugesehen, wie unsere Leute gehängt wurden. Du auch Mörder. Du jetzt sterben!“, schreit der Russe ihn an, reißt seine Kalaschnikow in die Höhe, richtet den Lauf auf ihn und drückt ab. Salve um Salve durchlöchert seine Brust. Er spürt die Schmerzen und kann doch nicht zusammenbrechen. „Du zu feige, um zu sterben. Dein Freund war mutiger. Du Feigling!“, begleitet der Rotarmist seine Kugelfolge. Dann ist das Magazin leer. Sein blutiger Körper ist Fritz nicht im Bewusstsein. Aber der Schweiß auf seiner Stirn! Jetzt kann er auch zusammensinken, sieht im Fallen noch das verächtlich grinsende Gesicht des Schützen. Und hinter ihm steht plötzlich Alma! Mein Gott, wie peinlich, sie sieht ihn schweißgebadet am Boden liegen. Er muss sich aufrichten. Sie kommt ihm zuvor, beugt sich über ihn und wischt ihm mit der bloßen Hand den Schweiß ab. Die Berührung macht ihn wach. Fritz erblickt das freundliche Gesicht Elsbets, die ihm mit einem Tuch über die Stirn tupft: „Ganz ruhig! Sie haben nur geträumt.“
Wie viel Zeit er nun schon in diesem Bodenloch verbrachte, kann er nicht mehr ergründen. Seine Gastgeber hielten es für sicherer, dass er sich vorerst nicht an der Oberfläche blicken ließ, kümmerten sich aber rührend. War er so eine Art „Sohn-Ersatz“? Morgens brachten sie einen Eimer mit Waschwasser, gaben ihm zu Essen und zu trinken und unterhielten sich mit ihm. Besonders der Alte gab sich sichtlich Mühe, ihm das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Nun wusste er auch, dass der Alte Arthur mit Vornamen hieß, kannte seine komplette Lebensgeschichte und registrierte, dass auch Elsbet ihre distanzierte Haltung ihm gegenüber allmählich abbaute.
Arthur kommt erregt die Stiege hinunter. Noch im Gehen ruft er quasi schon von oben hinunter: „Der Führer ist tot. Er ist, bis zum letzten Blutstropfen kämpfend, gefallen. Hat soeben die „Goebbels- schnauze“ verkündet.“ Fritz sieht die Beiden entgeistert an: „Und nun?“ „Nun, was …“, antwortet Arthur und fügt seiner Bemerkung seine Lieblingsbeschäftigung hinterher – verächtlich spuckt er auf den Boden: „Und nun? Nun kommen die Russen!“ Und so trotzig, wie es ihm nur möglich ist, fügt er hinzu: „Was für ein Segen!“ „Vielleicht wird es ja wirklich besser. Hauptsache, der Krieg geht zu Ende. Vielleicht sind die Russen ja gar nicht so schlimm, wie man so hört.“ Arthur feixt ihn provozierend an: „Glaubst du das wirklich? Ich werde dir mal was erzählen. Kurz bevor unser Sohn bei Stalingrad gefallen ist, hatte er noch zwei Tage Heimaturlaub. Er hat uns berichtet, was nicht erzählt werden durfte, was jeder Soldat verschwieg, was Wehrmacht und Waffen-SS an der Ostfront angerichtet haben. Häuser haben die abgefackelt, ganze Dörfer. Häuser mit Menschen drin! Und wer rausrannte, sich in Sicherheit bringen wollte, den erwartete eine Gewehrsalve. Männer mussten sich ihre eigenen Gräber schaufeln. Wenn sie dann erschossen wurden, ging es wenigstens noch schnell. Kinder und Säuglinge haben sie lebendig begraben! Die Frauen, die dabei zusehen mussten, haben sie vergewaltigt und anschließend an die Holztüren ihrer Häuser genagelt.“ Fritz merkt, wie es ihm die Kehle zuschnürt. Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein. Doch der Alte fährt fort: „So, und nun sage mir, wenn du ein Russe wärst, es deine Angehörigen beträfe, sage mir, was würdest du jetzt tun? Würdest du Unterschiede machen? Guter Deutscher, schlechter Deutscher?“ Noch bevor Fritz antworten kann, beantwortet Arthur seine rhetorische Frage selbst: „Nein, das würdest du nicht! Du würdest alle Deutschen hassen! Und das ist letztendlich auch normal. Rache, Vergeltung, Sühne! Ja, genau das würdest du denken, Gleiches mit Gleichem vergelten! Ich denke, wir werden unser blaues Wunder erleben, alle, ausnahmslos!“ Der Alte hatte sich in Rage geredet, nun hielt er inne. Dieses Schweigen wirkte auf seltsame Weise noch bedrückender als sein Wortschwall von eben. Im selben Moment dachte Fritz an seine Mutter und an Alma. Was werden diese Bolschewiken ihnen antun? Er muss zu ihnen, sie beschützen, solange es geht. Als er seinen spontanen Plan in Worte fasst, blickt Arthur ihn kritisch an: „Du willst sie beschützen? Vor den Russen? Allein? Darf ich dich daran erinnern, dass du vor wenigen Tagen noch Deutschland beschützen wolltest und dir dann doch vor Angst in die Hose geschissen hast? Vergiss es! Bleib lieber hier unten!“ Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Einstiegsluke: „Bleib hier! Wenigstens so lange, bis klar ist, wer da oben das Sagen hat.“
Ja, der Alte hatte Recht. Logik war gefragt, anstatt sich seinen Emotionen hinzugeben. Doch gerade diese Sehnsucht war es, die ihn quälte, die seinen Wunsch verstärkte, endlich seine Angehörigen wiederzusehen, Alma in die Arme zu schließen. Und dieses Verlangen wuchs mit jedem Tag, jeder Minute und Sekunde. Etwas über eine Woche sollte vergehen, bevor das deutsche Volk weiße Fahnen, als Zeichen der Aufgabe, aus den Fenstern ihrer Häuser hängten. Zehn lange Tage, bis Wilhelm Keitel, Generalfeldmarschall einer vernichtend geschlagenen, nur noch auf dem Papier existierenden deutschen Armee, in Berlin-Karlshorst, eine Urkunde unterschrieb. Diese kurz nach Mitternacht gegebene Signatur beendete offiziell die Kampfhandlungen rückwirkend zum 08. Mai 1945 - 23.01 Uhr. Dabei handelte es sich um eine formale Wiederholung des Prozederes, da die eigentliche bedingungslose Kapitulation bereits zwei Tage vorher im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditions- streitkräfte in Reims besiegelt wurde. Dennoch bestanden die Befehlshaber der 5. Russischen Armee darauf, dieses Bekenntnis in ihrer Hauptkommandantur zu erneuern. Ausgerechnet in der ehemaligen Heeresspionierschule des Deutschen Reiches sollte alles stattfinden. Es ist Mittwoch, der 9. Mai 1945, exakt 0.16 Uhr, als Keitel als oberster Befehlshaber OKW und des Heeres mit Generaladmiral von Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Stumpff für die Luftwaffe den Raum betritt. Mit seiner Unterschrift ratifiziert er das offizielle Kriegsende.
Nun gibt es für Fritz kein Halten mehr. Unendlich dankbar, mit dem felsenfesten Versprechen, sich wiederzusehen, umarmt er seine Beschützer. Plötzlich hält er an sich: „Wo ist eigentlich meine Uniform?“ Arthur grinst: „Verbrannt. Ist vielleicht besser, wenn du in diesen Klamotten rumspazierst.“ „Und Heinrichs Zigarettenetui?“ „Keine Sorge, hab alles von Wichtigkeit vorher rausgenommen. Hier, ein kleines Andenken an uns!“ Er überreicht ihm einen kleinen Rucksack, den Elsbet die ganze Zeit umklammert hielt: „Da ist alles drin. Und auch was zum Essen und Trinken. Und nun sieh zu, dass du Land gewinnst! Deine Alma wird bestimmt genauso vor Sehnsucht zerfließen wie du. Aber sei vorsichtig. Ich denke, so klar ist die Lage noch nicht.“ Eine letzte, innige Umarmung besiegelt den Abschied.
Obwohl seine Kräfte wieder am Ende sind, beschleunigt er seine Schritte. Jetzt rechts abbiegen, in die Landhausstraße. Fritz muss schmunzeln. Seine Erinnerung kreist um seine Kindheit. Wenn der Vater mit dem Pferdegespann zum Markt fuhr, quengelte Fritz so lange, bis er mit auf dem Kutschbock sitzen durfte. Da die Landhausstraße aus unregelmäßig großen Feldsteinen bestand, wackelten Vater und Sohn lustig hin und her. Das hatte Spaß gemacht. Und wenn der Vater mal ganz besonders gut gelaunt war, ließ er ihn sogar mal die Zügel halten. Mit der Zunge schnalzend animierte er die Pferde schneller zu laufen. Je größer die Erschütterung, desto größer der Spaß. Leider war an der Rennbahn Schluss. Der kleine, nach Eggersdorf führende Waldsandweg, verdrängte die groben Steine. Dann übernahm der Vater wieder die Zügel. Wenn ganz viel Zeit war, hielten sie noch an der Rennarena, die Pferde bestaunend. Heimlich setzte Papa auf einen der Gäule und Fritz bekam ein Eis, damit er ja der Mutter nichts erzählte. Sonst hätte es wegen dem Wetteinsatz unter Garantie Stress gegeben. Vielleicht noch zehn Meter, dann beginnt der Sandweg, umsäumt von Wald. Keine zwei Kilometer, dann ist er endlich am Ziel. Doch dann hört er einen Schrei - „Стоять!“ Es bedarf keiner Russischkenntnisse, um den Sinn dieses Wortes zu erfassen. Betont langsam dreht sich Fritz um und blickt in die auf ihn gerichteten Gewehrläufe. „Стоять!“, wiederholt der eine der beiden Soldaten.
Jahrzehnte später