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2. Kapitel

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Sie ist eine Schönheit, die Begierde eines jeden Mannes, doch verbietet ihre Bescheidenheit dies in irgendeiner Weise auszunutzen. Ihre langen schwarzen Haare trägt sie meist zu einem Pferdeschwanz gebunden, was nicht etwa einem Modetrend, sondern eher den Temperaturen und ihrer Arbeit entspricht. Miquel Sances wuchs als viertes von fünf Mädchen auf dem spanischen Festland auf. Die Mutter starb schon früh und der Vater frönte lieber dem Alkohol, als sich um seine Kinder zu kümmern. Miquels Persönlichkeit entwickelte sich deshalb schon sehr früh. Gleich nach ihrem Schulbesuch ging sie ihre eigenen Wege, jobbte mal hier, mal da, bis sie mit einundzwanzig das Festland verließ und eine Arbeitsstelle auf der Insel Mallorca fand. Hier nun arbeitet sie schon fünf Jahre als Zimmermädchen in einem größeren Hotel im Urlaubsort Cala d’Or in der Avda Es Forti. Zu behaupten, dass ihr der Job Spaß mache, wäre eine Lüge, schon weil die Entlohnung eher bescheiden ausfällt. Aber die Frauen können zumindest die Trinkgelder für sich behalten. Und da das Hotel in einem Begrüßungsschreiben darauf hinweist, das eine gewisse Erwartungshaltung besteht, halten sich die meisten Touristen auch daran. Jene, die trotzdem knausern, können eben keine extra Leistungen erwarten, deren Zimmer werden zwar sauber gemacht, doch eben auch nicht mehr. Das ist zwar nicht erlaubt, aber gängige Praxis. Zum Leben brauchte Miquel nicht viel, da sie für ein geringes Entgelt ein Personalzimmer bewohnte, das auch die Verpflegung beinhaltete. Trotzdem blieb am Monatsende nicht viel übrig. Diesen kleinen Betrag allerdings versuchte Miquel Sances zu sparen, hatte sie doch vor, sich irgendwann mal eine kleine Wohnung zu kaufen und, vorausgesetzt, ihr lief der richtige Mann über den Weg, was bis heute nicht geschehen war, eine Familie zu gründen. Manchmal schaute sie schon etwas neidisch, wenn sie die jungen Paare sah, die hier ihren Urlaub verbrachten und deren Kinder sich in einem der Swimmingpools amüsierten. Miquel war davon überzeugt, dass sie hier ihrem

Traumprinzen ganz gewiss nicht begegnen würde. An eine Neuauflage der Pretty-Woman-Story glaubte sie nicht, aber dass sie ihr weiteres Leben nur in eigener Regie gestalten konnte, davon war sie überzeugt. In den Wintermonaten war der Ferienort Cala d’Or eher leer. Nur vereinzelt waren Touristen, meist Rentner, die der großen Kälte in ihrem Land entgehen oder einfach nur die billigen Preise der Vorsaison ausnutzen wollten, auf der Insel. Jetzt, Mitte März, war die Zeit, in der man in den Hotels die notwendigen Reparaturen ausführte oder einfach nur Vorbereitungen für die nächste Saison traf. Somit hatten auch die Zimmermädchen weniger zu tun. Erholung für die heiße Phase nannte man so etwas. Mehr Freizeit auch für Miquel, die diese jedoch auf ihre Weise nutzte. Hier im Ort gab es genügend teure Häuser, die meist von betuchten Ausländern bewohnt wurden, sei es zur Miete oder als Eigentümer. Einer von ihnen war ein alter Mann namens Paul Stubbe. Sein Anwesen befand sich knapp einen halben Kilometer vom »Club Es Talaial«, dem Hotel, in dem Miquel arbeitete. Betreten konnte man das Anwesen nur von der Straßenseite, durch das riesige, braune Holztor. Ein Schild wies darauf hin, dass dieses Objekt von der Security überwacht wurde, um Touristen, Vertreter und Hausierer begreiflich zu machen, dass sie hier nicht erwünscht waren. Ein schmaler Weg, eingerahmt von Mangrovenbäumen, führt zu der kleinen Villa, versteckt im Blätterwald, direkt am steilen Abhang der Wasserseite. Weder von der Straße noch vom Wasser aus war das Gelände einsehbar. Stubbe wollte, wenn er hier residierte, seine absolute Ruhe haben. Er verbrachte jedes Jahr den Winter auf Mallorca, kam Ende September und verließ die Insel Ende April, um die Sommermonate in seinem Haus am Starnberger See zu verbringen. Für das Inselhaus existierten zwei Schlüssel, einen hatte Stubbe, den anderen besaß Miquel. Die beiden waren sich vor gut vier Jahren in einem der vielen Restaurants des Ortes begegnet. Stubbe, der einfach nur einen Menschen zum Reden suchte, und Sances, die Zuhörerin, der der einsame alte Mann leidtat. Sie bewunderte, dass er fließend Spanisch sprach und versuchte auf Deutsch zu antworten. Durch das Gespräch über belanglose Dinge erfuhr er, dass sie als Zimmermädchen arbeitete und fragte, ob sie nicht für ein bis zwei Stunden bei ihm als Hausmädchen aushelfen könne. Anfangs zögerte Miquel aus Angst, der Alte könnte mehr von ihr verlangen, doch schließlich willigte sie ein und sie bekam monatlich fünfhundert amerikanische Dollar, genau die gleiche Summe, die sie für acht Stunden täglich im Hotel erhielt. Ihr Verdacht verflog mit der Zeit. Stubbe verhielt sich fair und zahlte meistens mehr Geld, einfach so. Mit der Zeit entwickelte sich eine Freundschaft, so gut es eben im Angestelltenverhältnis ging. Der alte, extrem verschlossene Mann taute in ihrer Gegenwart immer mehr auf und begann im Laufe der Zeit Vertrauen zu fassen. So erfuhr Miquel, dass er 1920 in Berlin geboren worden war, als Soldat den Zweiten Weltkrieg überlebt und später als Elektriker gearbeitet hatte. Angehörige hatte Paul Stubbe anscheinend keine, jedenfalls redete er nie darüber. Fragen ihrerseits danach blockte er immer geschickt ab und schließlich wurde das Thema ganz ausgespart. Ja, sie mochte den Alten und sehnte sich nach ihm, wenn er wieder seine »Sommerflucht« begann. Das alles änderte sich im November des vergangenen Jahres. Als Miquel am zehnten des Monats die Haustür aufschloss, hatte sie natürlich die Mitteilungen der letzten Nacht gehört. Doch was dort in Deutschland gerade geschah, berührte sie nicht, welchen Grund sollte sie auch haben, sich dafür zu interessieren. Der einzige Deutsche, zu dem sie näheren Kontakt hatte, saß auf seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer und stierte auf den flimmernden Bildschirm mit dem deutschen Fernsehprogramm. »Guten Morgen Señor Stubbe«, rief sie froh gelaunt. »Guten Morgen Miquel«, antwortete er eher wortkarg. Während sie sich ihre Schürze anzog, beobachtete sie ihn, wie er still vor sich hinstarrte. Es hatte den Anschein, er schaute über den Fernseher hinweg ins Leere. Miquel entdeckte die halbleere Flasche Cherry und ein Glas vor ihm auf dem Tisch.

»Nanu Señor, haben sie gefeiert, weil Grenze weg?« Er nickt. »Ja, so kann man das auch nennen. Räum das bitte weg, es sei denn du möchtest auch einen.«

Miquel lacht: «Nönö, Señor. Davon bekomme ich nur Kopfschmerzen.« Dienstbeflissen fängt sie an den Tisch abzuräumen und den übervollen Aschenbecher zu leeren. Erst jetzt bemerkt sie die vielen Fotos. Schwarzweiß- und Farbfotos, vorwiegend mit Kindermotiven und vereinzelt Fotos mit Männern in Uniform. Neugierig betrachtet sie die Fotos, wagt sich aber nicht zu fragen. Doch der Alte fängt von allein an zu reden, ohne dass er seinen Blick vom Fernseher wendet. »Ja, da liegt nun einfach so ein Leben und teilweise ein verpfuschtes noch dazu auf dem Tisch. Der in Uniform, das bin ich. Die anderen Fotos sind von meinem Sohn, seiner Frau und meinem Enkel.« Miquel ist erstaunt: »Sie haben Familie? Sie haben aber noch nie erzählt ...« »Viel gibt es da auch nicht zu erzählen. Mein Sohn und meine Schwiegertochter sind tot. Und was meinen Enkel betrifft, er kennt mich nicht, weiß noch nicht einmal, dass ich existiere.« »Pardon Señor, ich verstehe nicht.« Stubbe schüttelt den Kopf: »Das kann auch keiner richtig verstehen.« Er wendet sich Miquel zu, wühlt in den Fotos, greift einzelne aus dem Stapel. »Hier, das ist mein Enkel kurz nach der Geburt, hier auf einem Spielplatz, bei einer Schulveranstaltung und so sieht er heute aus, das Foto ist gerade mal ein Jahr alt. Ein ganzes Leben im Schnelldurchlauf, an mir vorbeigelaufen.« »Señor, ich verstehe immer noch nicht.« Der Alte seufzt hörbar: »Ich durfte ihn nicht sehen! Diese zwei Staaten, die Grenze, du kannst das nicht begreifen, du bist zu jung und es ist auch gut so wie es ist.« Umständlich zündet er sich eine Zigarette an, hält für einen Moment inne, bevor er sich wieder an sie wendet. »Bitte Miquel, setz dich zu mir. Du bist vielleicht die Einzige, der ich vertrauen kann. Ich habe eine Bitte. Ich habe ein Alter erreicht, in dem man sich auch mal mit dem Tod auseinandersetzen muss.« »Oh, Señor Stubbe, ist das nicht ein bisschen früh«, unterbricht sie ihn. Er lächelt geheimnisvoll: »Früh? Nein, eher ein wenig spät. Höre zu Miquel. Sollte mir etwas passieren, dann erbt mein Enkel alles, das ist bereits geregelt. Das Einzige worum ich dich bitte ist folgendes. Dort drüben in der Schublade liegen zwei Umschläge. Der versiegelte, trägt seinen Namen und seine derzeitige Adresse. Der zweite Umschlag ist für dich. Du wirst darin eine nicht unbeträchtliche Summe an Bargeld finden. Sorge dafür, dass mein Enkel seinen Umschlag bekommt, ohne dass ein anderer dessen Inhalt zu sehen bekommt. Versprichst du mir das?« »Si Señor«, antwortet sie leise und versucht einen Hauch der Unheimlichkeit zu unterdrücken. Wieder seufzt der Alte, doch diesmal hört es sich wie Erleichterung an. Seit jenem Tag wurde das Thema nie wieder angesprochen, doch der Gedanke ließ Miquel nicht wieder los. Genauer als bisher beobachtete sie »ihren Alten«, registrierte, dass er noch verschlossener wurde und bemerkte, dass die Falten in seinem Gesicht immer tiefer wurden. Es kam ihr vor als magerte ihr Dienstherr immer mehr ab und Miquel machte sich ernsthaft Sorgen. Als sie ihn bat, doch mal zum Arzt zu gehen, winkte er nur müde ab: »Da war ich schon. Alles soweit in Ordnung. Es ist zwar nett von dir, dass du besorgt bist, aber unbegründet. Alles soweit in Ordnung«, versuchte er zu lächeln. Ja, Miquel konnte er vertrauen. Und das gab ein gehöriges Gefühl der Sicherheit.

Der Morgen an diesem Märztag beginnt wie immer und doch sollte sich von nun an alles ändern. Die Sonne hatte sich bereits früh über die Palmen des Hotels gelegt und man durfte erwarten, dass sich heute die Temperatur den zwanzig Grad nähern würde. Dies war das untrügliche Signal, dass die Ferienflieger wieder mehr Touristen auf die Insel bringen werden, die Zeit der Langweile vorbei war und die Arbeitszeit wieder länger wird. Miquel fühlt sich wie ausgelaugt. Die ganze Nacht hatte sie schlecht geschlafen, immer wieder wirres Zeug geträumt. Dass sich jetzt ihre Laune bessert, war einzig und allein der Sonne am Zenit zu verdanken. Sie liebt die Sonne. Kaum hatte sie die Tür zu Stubbes Haus aufgeschlossen, überkommt sie ein Gefühl der Kälte, die Einbildung oder Ahnung, dass hier etwas nicht stimme. Miquel hatte sich glücklicherweise noch nie mit dem Tod auseinandersetzen müssen, wurde aber in diesem Augenblick mit ihm konfrontiert. Zusammengekauert in seinem Sessel, sitzt der Alte, den Kopf schlaff zur Seite geneigt. »Señor, Señor!«, ruft sie aufgeregt, Antwort bekommt sie keine. Vor ihm auf dem Tisch liegen ein Zettel und ein leeres Tablettenröhrchen. »Liebste Miquel. Denke an unser Gespräch! Nimm diesen Zettel und vernichte ihn. Die Umschläge liegen dort, wo wir es vereinbart haben. Danke für alles. Ich verlasse mich auf dich!« Miquel Sances überkommt ein Panikgefühl und doch versucht sie zu begreifen. Im Schubfach findet sie die beiden Umschläge, nimmt sie und den Brief an sich, verlässt das Haus, um die Unterlagen in ihrem Zimmer zu deponieren. Dann geht sie wieder zurück und alarmiert die Polizei, die später in einem Protokoll feststellen wird, dass Stubbe im Endstadium Lungenkrebs hatte und deshalb einen Suizid begangen hat. Die Akte wird geschlossen und das Haus versiegelt. Spät am Abend sitzt Miquel in ihrem Zimmer. Vor ihr auf dem Tisch liegen die beiden Umschläge. Noch immer steht sie unter dem Schock, den der Anblick des Todes bei ihr verursacht hat. Sollte sie jetzt ihren Umschlag öffnen? Sie hat Angst davor, als wenn nach der Öffnung auch sie der Tod ereilen würde. Schließlich ringt sie sich doch dazu durch und reißt den Umschlag mit ihrem Namen auf. In den Umschlag befinden sich zehntausend amerikanische Dollar sowie ein Gutschein für ein Flugticket nach Deutschland, ausgestellt auf ihren Namen.

Was zu viel ist, ist zu viel. Gestern hatte er mehr Alkohol getrunken als er vertragen konnte. Hinzu kamen die Ereignisse, die geballt auf ihn einwirkten. Abgeschlafft erhebt sich Thomas Kiefer aus dem Bett. Sollte er am Ende alles nur geträumt haben? Alkoholische Wahnvorstellungen? Sicherlich! Wenn da nicht die Unterlagen auf seinem Wohnzimmertisch lägen, die ausdrücklich betonen, dass der Traum beendet ist. Alles ist wahr! Wie im Film laufen die Geschehnisse der letzten drei Tage an ihm vorüber. Es begann mit dem Brief der Anwaltskanzlei, in dem man ihn um Kontaktaufnahme bat. Klärung einer Erbschaftsangelegenheit. Hier musste zweifelsohne ein Versehen vorliegen. Er hatte keinerlei Verwandten. Wer also sollte ihm etwas vererben? Die Neugier trieb ihn dazu, in der Kanzlei anzurufen. Man teilte ihm lapidar mit, dass man ihm telefonisch keinerlei Auskünfte erteilen könne, aber alles seine Richtigkeit hätte. Er machte sich auf den Weg. Die Anwaltskanzlei befand sich in bester Lage im Westberliner Stadtteil Zehlendorf. Das vergoldete Schild am Eingang verkündete, dass sich die Rechtsanwälte in Fragen des Steuer- und Erbschaftsrecht gut auskannten. Zaghaft begab sich Kiefer an den Empfangstresen und stellte sich der ihn misstrauisch musternden Kanzleiangestellten vor, die ihn kurzer Hand ins Wartezimmer dirigierte, wo er einige Minuten verbrachte, bis ihn ein älterer Herr, mit einer noch älteren Nickelbrille in sein Zimmer bat. »Herr Kiefer? Bitte nehmen sie Platz! Darf ich ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Kaffee?« Er verneinte und sein Gegenüber fuhr fort: »Herr Kiefer haben sie ein Personaldokument bei sich?« Aufmerksam studierte er den Personalausweis der DDR und es schien, als würde er ihn fünfmal lesen, um zu begreifen, dass hier ein Ossi vor ihm saß und das war hier eher die Seltenheit. Räuspernd nahm der Rechtsanwalt einen Ordner zur Hand und fing an zu lesen: »Mein letzter Wille ...«

Lange hatte Miquel Sances das Für und Wider abgewogen. Sollte sie wirklich zu einem Unbekannten nach Deutschland fliegen? Wie würde der reagieren? Was, wenn die Adresse nicht mehr stimmte? Aber sie hatte es versprochen! Oder war es vielleicht eine Art von Nötigung? Sie hatte doch nicht gewusst, auf was sie sich da einließ. Im Grunde hatte sie dieses Gespräch nicht so ernst genommen, wie es sich jetzt plötzlich darstellte. Wenn sie nun seinen Umschlag mit der Post schicken würde? Doch sie hatte es versprochen und der Alte hatte ausdrücklich auf persönliche Übergabe gepocht, hatte sie ja auch dafür bezahlt und das nicht unerheblich. Schließlich überwindet sie ihre Bedenken, siegt die Neugier seinen Enkel kennenzulernen und sollte er nur halb so nett sein, wie sein Großvater es war, dürfte alles in Ordnung gehen.

Die Kanzleiangestellte musterte ihn beim Verlassen des Gebäudes. »Das ist Perlen vor die Säue werfen. Wie der schon aussieht, dieser Ossi!«, denkt sie, grüßt aber dennoch mit einem gelangweilten Kopfnicken. Mit zittrigen Händen zündet Thomas Kiefer die Zigarette an, lehnt sich an die Mauer des Gebäudes und inhaliert tief den Rauch, in der trügerischen Hoffnung, sich damit zu beruhigen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es ist auch schon ziemlich hart, nach jahrelangem Alleinsein, zu erfahren, dass man einen Opa hatte, der nun auch schon wieder nicht mehr war, ihm aber ein kleines Vermögen vermachte: zwei Grundstücke mit Häusern, eins in Deutschland, eins auf Mallorca und vor allem hunderttausend Deutsche Mark. Thomas ertappt sich bei dem Gedanken, dass hunderttausend Westmark, günstig getauscht bis zu fünfhunderttausend Ost bringen könnten. fünfhunderttausend, eine halbe Million! Ihm wird schwindlig. Noch einen Zug von der Zigarette, dann hält er Ausschau nach einer Telefonzelle, wirft ein paar Münzen hinein und wählt Reimanns Nummer. »Hallo, ich bin leider nicht da. Ihr könnt aber mein Band volllabern! Wenn ihr Glück habt, rufe ich auch irgendwann mal zurück«, ertönt die Stimme von Nicolas Anrufbeantworter. »Typisch, wenn man den mal braucht, ist er nicht da«, murmelt Kiefer vor sich hin. Dann fällt ihm plötzlich ein, dass Nicolas irgendwas von einer Hundeausstellung in Wessiland erzählt hatte, zu der er zwei Tage müsse. »Na dann eben nicht«, sagt er zu sich selbst und macht sich auf den Heimweg. Er würde später noch einmal probieren, ihn zu erreichen.

Viele Reiseerlebnisse hatte Miquel nicht. Natürlich war sie öfter in Palma und jedes Mal von der Größe, dem Flair und den Gegensätzen dieser Stadt mit dem kleinen Ort Cala d’Or fasziniert, doch ließ sich das in keiner Weise mit der Hektik einer Großstadt wie Berlin vergleichen. Den Schock der Unbeholfenheit bekam sie gleich auf dem Flughafen Tegel zu spüren. So, jetzt ist sie in Deutschland, stand vor dem Flughafengebäude. Wie nun weiter. Sie fragt vorübereilende Passagiere nach der aufgeschriebenen Adresse, bekommt nur Achselzucken zur Antwort, bis jemand schließlich sagt: »Ich glaube, das muss irgendwo im Ostteil sein.« Na wenigstens etwas. Nein, so kam sie nicht weiter! Ihr Blick sucht schon das nächste Opfer, als sie den Taxistand registriert. Warum einfach, wenn es auch umständlicher geht! Der Taxifahrer weiß Bescheid: »Kenn ick!« Fast drei Wochen waren seit dem Tod des Alten vergangen und nun steht sie hier in einem Hausflur im Prenzlauer Berg. Zaghaft erklimmt sie die zwei Stockwerke, nimmt das Knarren der Holzstufen wahr, bis sie schließlich vor der Wohnung mit seinem Namensschild steht. So, die letzte Chance umzukehren. Kein Mensch würde was bemerken, keiner wüsste etwas davon. Miquel atmet noch einmal tief durch, dann betätigt sie den Klingelknopf. Als Kiefer die Tür öffnet, blicken ihn zwei scheue, rehbraune Augen an. »Guten Tag. Sind sie Señor Kiefer?« »Ja«, bestätigt er. Die Augen blicken ihn an und es scheint, als wäre sein Gegenüber sehr aufgeregt. »Ja, der bin ich. Was kann ich für sie tun?« »Mein Name ist Sances. Miquel Sances. Ich war Hausdame bei ihrem Großvater auf Mallorca und soll ihnen einen Umschlag überreichen.« Thomas Kiefer hat das Gefühl, als versetze ihm soeben jemand einen Schlag ins Genick. Nicht nur, dass er vor wenigen Stunden seinen Besuch in der Anwaltskanzlei beendet hatte, stand nun jemand hier und konfrontierte ihn erneut mit Nachrichten, die ganz bestimmt neue Fragen aufwerfen würden. »Bitte kommen sie doch herein! Nehmen sie Platz! Möchten sie einen Kaffee? Ich hab ihn gerade frisch gebrüht.« Mehr um ihre Verlegenheit zu überspielen, als aus »Genusssucht«, nickt Miquel und fängt an zu erzählen, wie sie Stubbe kennengelernt hatte, über das Gespräch vor ein paar Monaten und das Ende. Aufmerksam hört er ihr zu, unterbricht sie nicht. Doch schließlich fragt er: »Und warum hat er sich die ganze Zeit nicht bei mir gemeldet?« »Das weiß ich nicht, Señor. Wie schon gesagt, hat er mir auch erst vor ein paar Monaten von ihnen erzählt. Ich weiß nur, dass er sie sehr gemocht haben musste, denn in seiner Stimme war viel Wärme und Stolz, als er mir Bilder von ihnen zeigte. Aber vielleicht gibt ihnen ja der Inhalt des Umschlages Auskunft.« »Was ist da drin?« Miquel schüttelt mit dem Kopf: »Ich weiß nicht, Señor. Ich habe ihn nicht aufgemacht. Ich sollte ihn nur persönlich abgeben und das habe ich gemacht. Damit ist meine Aufgabe erledigt.« »Und jetzt fliegen sie zurück?« »Mein Flug geht morgen früh.« Thomas Kiefer schaut sie interessiert an. Da ist sie also schnell mal hergeflogen, nur um das Ding zu übergeben. Welch eine Loyalität. »Und heute? Wo übernachten sie heute?« »Ich habe ein Zimmer gebucht, weiß aber nicht, wo sich das Hotel befindet«, lächelt sie verschämt und reicht ihm einen Zettel. »Kein Problem, ich bringe sie hin. Wenn sie möchten, würde ich sie heute zum Abendessen einladen. Ich kenne das Hotel, in der Nähe ist ein nettes italienisches Restaurant. Ich würde mich freuen, wenn sie zusagen.« »Gern«, antwortet sie leise. Pizza und Wein, das Ambiente stimmte. Thomas hatte noch viele Fragen, welche sie ihm gerne und geduldig beantwortete. Am nächsten Morgen holt er sie vom Hotel ab und bringt sie zum Flughafen. »Ein Versprechen möchte ich ihnen gerne noch abringen. Oder besser gesagt noch eine Bitte. Könnten sie sich weiter um sein Haus kümmern? Ich versuche so schnell wie möglich hinzukommen.« Bei dem Gedanken noch einmal in das Totenhaus zu müssen, rieselt Miquel ein kalter Schauer über den Rücken und doch antwortet sie: »Gewiss, Señor. Vielleicht könnten sie mir auch Bescheid geben, wann die Beerdigung ist. Sie sagten doch, dass er nach Deutschland überführt worden ist.« Kiefer nickt. »Ja, es hat den Anschein, als hätte er selbst seine Bestattung minutiös geplant. So erwähnte es jedenfalls der Notar. Die Formalitäten sind wohl schon im Gange. Spätestens wenn der Termin feststeht, melde ich mich.« »Muchas gracias.« »Ich habe zu danken für die Mühe, die sie sich gemacht haben.« »Ich habe es gern getan«, schnell fügt sie noch hinzu: »Für ihren Großvater.« Dann geht sie in den Transitraum. Den ganzen Flug über muss sie immer wieder an ihn denken. Er hat so eine leichte Art und Weise, genau wie der Alte, auch seine Gesichtszüge sahen ihm etwas ähnlich. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass er ihr gefiel. Was für ein Quatsch! So einer und sie, das passte nicht zusammen. Aber träumen durfte man ja mal. Nein. Vielleicht würde sie ihn auch nie wiedersehen. Er wird das Haus verkaufen und Schluss. Das war‘s. Schade.

Thomas Kiefer bemerkte plötzlich, dass er den Umschlag noch nicht geöffnet hatte. Wegen dieser Miquel hatte er das völlig vergessen. Sie hatte aber auch was! Diese tiefschwarzen Haare, die Augen. Egal, jetzt war sie weg. Tagesordnung! Er reißt den Umschlag auf und findet ein paar Fotos, einen Schlüssel und einen Brief. »Lieber Thomas. Wenn du diese Zeilen liest, dann hast du schon sehr viele Fragen. Anbei hältst du Bilder von mir, deinem Vater und von dir in den Händen. Drei Generationen, die unterschiedlicher nicht sein können. Glaube mir, es ist mir nicht leichtgefallen, dich nicht selbst kennenzulernen. Du wirst alles verstehen, wenn du den Schlüssel zum Bankschließfach benutzt. Die Adresse der Bank steht auf der Rückseite des Briefes. Alles andere ist geregelt. Gewiss kann Geld nicht alles vergessen machen oder entschädigen, aber genieße es einfach. Ich werde diese Zeilen nicht mit ›Dein geliebter Großvater‹ unterschreiben, denn ich durfte es ja nie sein, sondern einfach mit Paul Stubbe.« Thomas Kiefer schüttelte verständnislos den Kopf. Das war ja sehr persönlich. Hatte Miquel nicht behauptet, sein Großvater hätte von ihm so geschwärmt? Und nun diese lapidaren Zeilen? Wahrscheinlich ging es wirklich nur ums Geld. Hat mal jemand versucht zu begreifen wie es ihm in all den vergangenen Jahren, insbesondere in seiner Kindheit ergangen war, wie er sich gefühlt hatte, allein?

Dann endlich war Reimann wieder da. Äußerst interessiert hörte er sich den Bericht über die Geschehnisse an. Sie tranken viel an diesem Abend. Zu viel. Irgendwann, im Laufe dieses Trinkgelages fasst Reimann einen Entschluss: »Weißte, ich hab die Schnauze gründlich voll von diesen Hundebericht- erstattungen! Das mit dir, das wäre doch mal was. Ossi erbt Vermögen von nichtexistierenden Verwandten. Ich sehe die Titelseite schon vor mir«, lallt er und fügte hinzu: »Komm sei kein Spielverderber. Lass mich die Story schreiben.« Betrunken wie er war, willigt der Ossi ein.

Domino I

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