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1. Kapitel
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Obwohl im gleichen Alter, konnten ihre Charaktere, ihre Herkunft und ihre bisherige Entwicklung nicht gegensätzlicher sein. Thomas Kiefer, der Ossi, geboren im Januar 1960, hatte schon frühzeitig seine Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren und wuchs ab seinem vierten Lebensjahr in einem Ostberliner Kinderheim auf. Versuche, ihn zu adoptieren waren aus den unterschiedlichsten Gründen fehlgeschlagen. Ohne richtige Wärme und Geborgenheit, die eben nur Eltern ihrem Kind geben können, entwickelte er schon frühzeitig einen Sinn für Realität und Selbstständigkeit. Seine schulischen Leistungen lagen im gesunden Mittelfeld, hätten jedoch weitaus besser sein können, was hauptsächlich daran lag, dass er bestimmten Fächern sehr bequem gegenüberstand. Er liebte Musik und das Fach Geschichte, speziell die deutsche. Warum er als Mitglied der »Freien Deutschen Jugend« mit dem Fach Staatsbürgerkunde auf Kriegsfuß stand, war nicht etwa seiner politischen Einstellung, sondern eher dem Lehrer zuzuordnen, der keinerlei Auseinandersetzung zuließ, die über die staatlich definierten Festlegungen hinausgingen. Kiefer war kein Revoluzzer oder Widerständler, er war ein durchschnittlicher, braver DDR-Bürger, der seinen Anteil, wenn auch widerstrebend, an gesellschaftlicher Arbeit leistete, der seine Nische im Leben und einen Umgang mit dem Arbeiter- und Bauernstaat gefunden oder besser gesagt sich in diesen hineingelebt hatte. Noch im Heim begann er eine Lehre als Werkzeugmacher und bekam nach seiner Entlassung aus dem Heim eine Altbauwohnung im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg zugewiesen. Zweiter Hof, Ofenheizung, Toilette eine halbe Treppe tiefer, nicht sehr komfortabel, aber ein gehüteter Zufluchtsort, wenn man seine Ruhe haben wollte. Über die sporadische Einrichtung einer Junggesellenbude war die Einzimmerwohnung nie hinausgekommen. Thomas legte auch keinerlei Wert darauf, obwohl er für DDR-Verhältnisse nicht schlecht verdiente. Seine Einnahmen flossen zum größten Teil auf sein Sparbuch, wenn er sie nicht für Urlaubsreisen ausgab. Thomas Kiefer litt unter notorischem Fernweh. Soweit es Geld, Zeit und die Reisebestimmungen der DDR zuließen, setzte er sich in den Zug oder auch in seinen fünfzehn Jahre alten, gebraucht gekauften Trabant und fuhr in seiner arg beschränkten Reisewelt hin und her. Zu Frauen hielt er einen »gesunden Abstand«. Sicherlich gab es vereinzelte Beziehungen, die aber dank seiner Eigenbrötelei schnell im Sande verliefen.
Die Lebensgeschichte des Wessis Nicolas verlief in völlig anderen Bahnen. Er wurde ebenfalls im Januar 1960 als einziger Sohn des Unternehmerehepaars Reimann in Berlin-Zehlendorf geboren. Die Eltern betrieben schon in der dritten Generation eine kleine, bescheidene Lebensmittelkette, gegründet und vererbt vom Urgroßvater mütterlicherseits. Mit beschaulichem Fleiß und Engagement hatte man es geschafft, eine höhere Kapitalrücklage zu bilden und sich so im gehobenen Mittelstand einzurichten. Das Geschäft war liquid, warf keine Millionen ab, aber es reichte, um damit besser leben zu können als so manch anderer. Hinzu kam der geerbte Grundbesitz mit dem nicht so bescheidenen »Häuschen«, dass man durchaus auch als kleine Villa bezeichnen könnte, und in dem Nicolas Reimann seine Kindheit verbrachte. Als Kronprinz behütet, erfüllten seine Eltern ihm jeden Wunsch, achteten darauf, dass ihr Sohn die gehörige Bildung bekam und planten im wesentlichsten seinen Lebenslauf. Schließlich lag es auf der Hand, dass Sohnemann die Firma übernimmt und damit die Weiterführung gesichert sei, eben ein Generationsbetrieb. Ob es an der Affenliebe der Eltern, Undank des Sohnes oder einfach nur an Generationsproblemen lag, der Junior verfolgte ganz andere Ziele. Nicolas Reimann fand überhaupt kein Interesse an dem »Krämerleben« und dachte nicht daran, die Firma zu übernehmen. Stattdessen entdeckte er seine Liebe zur Germanistik und begann kurzerhand Journalismus zu studieren.
Natürlich ebneten seine Eltern nach anfänglichem Zögern und Vorwürfen auch hier seinen Weg, insgeheim hoffend, dass diese »brotlose Kunst« ihn eines Tages doch dazu treiben würde, den Familienbetrieb zu übernehmen. Und so abwegig schien der Gedanke nicht zu sein. Über eine Volontärstelle war Nicolas Reimann bis jetzt nicht hinausgekommen. Um dem konservativen Elternhaus zu entfliehen, äußerte er zum Beginn seiner Studienzeit den Wunsch nach Eigenständigkeit, worauf man ihm ein Penthouse im Grunewald kaufte. Hier nun konnte er seine Vorstellungen vom Leben verwirklichen, das zum größten Teil aus Partys, Mädchen und Schreiben bestand. Er nannte diesen Zustand Selbstfindung und machte sich kaum Gedanken darüber. Solange am Monatsanfang eine bestimmte Geldsumme von seinem Vater überwiesen wurde, brauchte er das auch nicht. Momentan war er eben von Beruf Sohn. Dieser Zustand gefiel ihm zwar nicht, aber er störte ihn auch nicht sonderlich. Irgendwann, davon war Nicolas überzeugt, würde schon jemand seine Fähigkeiten zu schätzen wissen.
Die beiden Jungen, Thomas und Nicolas, lebten in zwei Parallelwelten, ohne voneinander zu wissen. Und ausgerechnet der »1. Parteibezirkssekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands von Berlin« sorgte dafür, dass die beiden aufeinandertrafen. Ironie beider Schicksale. Den ganzen Abend hatte Kiefer, faul auf seiner Couch liegend, vor dem Fernseher verbracht. Aufmerksam verfolgte er Schabowskis Pressekonferenz und erfuhr von der neuen Reiseregelung. Ja, es wurde viel geredet in den letzten Tagen und irgendwie zeichneten sich Veränderungen ab. Es wurde ja auch Zeit. Und er würde von einer neuen Reiseregelung profitieren, könnte endlich auch mal in die Gegenden reisen, die ihm aus Mangel an Westverwandtschaft bisher verwehrt geblieben waren. Ja, es wurde Zeit. Die Bemerkung, dass die neue Reisereglung ab sofort gelten solle, überhörte er und schaltete gelangweilt von dem weitschweifenden Parteigelaber ins West- fernsehen. Erst als er die ersten Trabbis über die Bornholmer Brücke fahren sah, sprang er von seinem Sofa auf. Nichts hielt ihn jetzt mehr, er wollte rüber und sehen, wie es dort ist. Weit kommt er mit seinem Trabant nicht. An diesem späten Abend des neunten Novembers sind die Straßen voll. Alles Schwarztaxen? Wohl kaum. Entnervt stellt er sein Gefährt an den Straßenrand und macht sich auf den Weg. Weniger einem Kalkül als dem Zufall geschuldet – der Grenzübergang Invalidenstraße liegt näher an seiner Wohnung als die im Fernsehen gesehene Bornholmer Brücke –, steht er nur wenige Minuten später vor der noch verschlossenen Schranke. Alles doch, nicht wahr? Verfälschte Bilder? Die Massen vor dem Übergang brüllen: »Tor auf, Tor auf!« Es wird geschoben und gedrängelt, jeder will der Erste sein, die neue Reisefreiheit auskosten. Schließlich geben die entnervten Grenzposten ihre Gegenwehr auf, vernünftige Befehle erhalten sie in dieser Nacht ohnehin nicht. Langsam und behutsam öffnen sie den Schlagbaum. Die Massen rennen schubsend und doch irgendwie geordnet über den Asphalt. Wann hatte man sich schon so gesittet angestellt, außer es gab im Konsum Bananen? Thomas Kiefer atmet tief durch. »So, nun bin ich also im Westen!« Wie aber nun weiter? Wo nun hin? Zum Kudamm wäre nicht schlecht. Aber wie? Einfach den Massen nach? Er kommt nicht dazu, seine Gedanken zu vollenden. Jemand drückt ihm ein Glas Sekt in die Hand. »Herzlich willkommen in der Freiheit!« Kiefer blickt dem Spender ins Gesicht. Der Typ meint das tatsächlich ernst. »Danke.« »Zum Wohl! Die Mauer ist weg. Prost!« Na schön. Und wie komme ich nun zum Kudamm? will er fragen. Doch er kommt nicht dazu, sein Gegenüber scheint Gedanken lesen zu können. »Und nun zum Kurfürstendamm!« Thomas schmunzelt. Scheint in zu sein in dieser Nacht. »Dazu müsste ich erstmal wissen, wie man dahin kommt.« »Ganz einfach. Da drüben ist die S-Bahn. Drei Stationen, Zoo aussteigen!« »Nochmal danke.« Reimann schmunzelt. »Weißte was, du Danksager, ich komme mit. Da ist jetzt unter Garantie noch mehr los als hier. Da tobt jetzt unter Garantie die Hölle, oder der blanke Wahnsinn.« Mit seinem Spruch: «Herzlich willkommen in der Freiheit«, drückt er dem nächsten Ankömmling die geöffnete Sektflasche in die Hand, greift in eine Plastiktüte und holt eine neue Flasche hervor. Grinsend hält er sie Kiefer vor das Gesicht. »Eine haben wir noch! Nun los, komm! Wirst sehen, da steppt der Bär!« Zur selben Zeit sitzt auf Mallorca, der Lieblingsinsel der Deutschen, ein alter, gebrochener Mann vor seinem Fernsehgerät und schüttelt fassungslos den Kopf. Jede nur erdenkliche Kleinigkeit in der Berichterstattung über den Mauerfall saugt er buchstäblich in sich auf. »Nun ist es also soweit«, sagt er vor sich hin. Am liebsten würde er das nächste Flugzeug nehmen und ab nach Berlin, rüber in den Osten. Er weiß, dass das nicht geht. Man muss abwarten wie sich die Lage entwickelt. Es könnte ja nur ein vorübergehendes Phänomen sein. Vielleicht machen die Kommunisten das Tor auch wieder zu. Aber der Gedanke! Er ist sich aber auch sicher, dass er die Insel und den Ort Cala d’Or auf Dauer nicht mehr verlassen wird. Vorbei sind die regelmäßigen Sommerausflüge in das Heimatland. Aber der Gedanke! Mit zittriger Hand gießt er sich einen Cherry ein, geht zum Schreibtisch und kramt einen großen Umschlag mit Fotos heraus. Ja, der Gedanke! Wie oft hatte er sich vorgestellt, aktiv zu werden, ihm alles zu erklären, wie oft. Das Volk der Deutschen kann man nicht teilen, jedenfalls nicht auf Dauer, wie man nun sieht. Abwechselnd blickt er auf die Fotos und das Fernsehbild. »Ja, es ist so weit.« Noch einen Cherry, obwohl ihm sein Arzt jeglichen Alkohol verboten hat. Man bräuchte noch ein, zwei Jahre, sinniert er. Aber die Zeit hat er nicht. Aber der Gedanke! Er nimmt noch einen Schluck, greift nach einem Schreiblock. Erst zögernd, dann fügt er immer schneller Wort an Wort. Aber der Gedanke! Schließlich hat er niedergeschrieben, was ihn jahrzehntelang bewegte. Der Zeitpunkt ist erreicht. Er nimmt das nächste Flugzeug, um den Umschlag nach Deutschland zu bringen, hinterlegt ihn in seinem Bankschließfach in Starnberg, fliegt sofort wieder nach Mallorca. Ja, der Gedanke! Irgendwie fühlt er sich erleichtert!
Die Fahrt zum Zoologischen Garten erweist sich schwieriger als geplant. Zwar fahren die S-Bahnen im Minutentakt, sind aber dennoch restlos überfüllt. Bei der dritten haben sie Glück, zwängen sich mit aller Macht hinein. Es ist schon eine sonderbare Atmosphäre, ein lautstarkes Gemisch aus Lachen, Freudentränen und dem immer wiederkehrenden: »Wahnsinn, einfach Wahnsinn!« Die Sektflasche überlebt die drei Stationen nicht. Gibt es irgendjemand in diesem Waggon, der nicht dran genippelt hat? »Wie viele seid ihr im Osten? Sechzehn Millionen? Na prima! Dann sind ja alle hier!«, grinst Reimann, als sie sich schubsend zum Kurfürstendamm vorarbeiten. Thomas Kiefer muss das alles erstmal verarbeiten. Der nächtliche Trubel, die überfüllten Schaufenster, die Farbenvielfalt der flackernden Leuchtreklamen, all das ist neu, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Plötzlich drückt ihm jemand eine Zeitung in die Hand. Mensch, eine West-BZ! Im Osten ein Vermögen wert. Je älter und ausgelesener die Zeitung, desto wertvoller – illegal, mit dem Siegel der Verschwiegenheit von einem zum anderen weitergereicht. Und jetzt bekommt man so ein Ding druckfrisch einfach so in die Hand gedrückt. »Die Mauer ist weg!« prangt es in großen Lettern von der Titelseite. Bis zum Morgengrauen wird gefeiert, dann ist es auch offiziell, die Grenze bleibt offen. Allmählich wird es ruhiger am Kurfürstendamm, wenigstens stundenweise. Der Sozialismus trägt noch einmal, allerdings zum letzten Mal, einen Sieg davon. Diszipliniert gehen die meisten »Ossis« wieder rüber und sind pünktlich an ihren Arbeitsplätzen, was Reimann überhaupt nicht versteht. Er wird sich an die neue Mentalität gewöhnen müssen, genau wie Thomas Kiefer. Zusammen erkunden sie in den nächsten Tagen das jeweils andere Berlin, feiern Silvester am Brandenburger Tor und entwickeln allmählich, trotz der Unterschiede, Verständnis, Akzeptanz und schließlich Freundschaft.
Es war schon immer so, dass zur Grünen Woche alle Hotelzimmer in Berlin belegt sind, besonders die preiswerten. Ihn störte das nicht, Geld spielte keine und wenn dann nur eine untergeordnete Rolle. Seit Jahren stieg er im »Star« ab, bestand jedes Mal auf sein Zimmer in der achten Etage. Von hier hatte man einen sehr schönen Ausblick auf Berlin, konnte auch über die Mauer hinweg nach Ostberlin gucken. Das »Star« lag nicht gerade im Zentrum, aber auch nicht wesentlich entfernt davon. Man war in der Nähe und hatte trotz allem seinen Ruhepol. Außerdem verfügte das »Star« über ein Restaurant mit vorzüglicher Küche. Als Geschäftsmann, der immer nur ein bis zwei Tage in Berlin verbrachte, wusste er das zu schätzen. Das Leben des Lutz Pietschmann verlief minutiös geplant. Musste es auch, schließlich saßen ihm seine Auftraggeber ständig im Nacken. Wehe, wenn nur ein Deal platzte. Nach dem Warum würde ihn keiner fragen, schon gar nicht kurz vor dem Ziel. Vielleicht zwei, drei Jahre noch! Pietschmann blickt auf seine Armbanduhr, kurz vor zehn Uhr. Er hasste Unpünktlichkeit und forderte das Gegenteil auch pedantisch ein. »Vier Minuten hat er noch!«, stellt er für sich selbst fest und schaut aus dem Fenster, hinüber in den Ostteil. »Jetzt hat diese Mauer endlich Löcher und die Menschen wuseln immer noch!« Nichts in der Welt könnte ihn dazu bringen freiwillig dort hinzugehen. Es reichten schon die drei Besuche in Rostock, um die Lieferungen zu überwachen. Bloß nicht eine Minute länger als gefordert. Es klopft. Pietschmann schaut auf seine Uhr. Punkt Zehn! Geht doch! »Herein!« Alfred Schmidt, ein grau melierter Mann betritt das Zimmer. »Guten Tag«, grüßt er freundlich und fügt dann hinzu: »Der Kontakt wird auch immer schwieriger.« »Ihr habt doch diesen blöden Vorhang aufgerissen! Beschwert euch nicht«, grinst Pietschmann und registriert mit Genugtuung wie verunsichert sein Gegenüber ist. »Das Geld ist da, wie immer amerikanische Dollars.« Pietschmann deutet auf einen schwarzen Attaché-Koffer, der prall mit Geldscheinen gefüllt ist: »Fehlt nur noch der Liefertermin.« »Wie schon gesagt, es wird immer schwieriger« »Schwieriger, schwieriger! Ich verlange nicht, dass es einfach ist. Das Geld zu beschaffen ist auch nicht einfach! Mein Teil des Geschäfts ist erfüllt, tut ihr den eurigen!« Alfred Schmidt schaut in das regungslose Gesicht Pietschmanns und weiß, dass dies nicht nur dahingesagt ist. Er nimmt den Koffer, nachzählen braucht er nicht, die vereinbarte Summe stimmt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche! »Übergabe wieder in Rostock. Ich melde mich so schnell ich kann.« »Davon gehe ich aus«, grinst Pietschmann unverhohlen und öffnet Schmidt die Tür. Wieder ein Blick auf die Uhr. Das ganze Prozedere hatte keine drei Minuten gedauert. Viel zu lange! Er hat keinerlei Sympathie für diesen Typen, obendrein hatte er ihn vom Frühstück abgehalten und Lutz Pietschmann hasst spätes Frühstück.