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3. Kapitel
ОглавлениеNur die Ortsansässigen wussten Bescheid, welches Grab sich auf dem kleinen Bergfriedhof in Berchtesgaden/Schönau befand. Fremdlinge, wenn sie überhaupt ihre Schritte auf das Gelände lenkten und durch Zufall das überdachte Holzkreuz mit der goldenen Aufschrift entdeckten, hielten es eher für eine makabre Namensgleichheit als für real. Hier ruht, so verkündet die Inschrift, Paula Hitler, geboren am 21. 11. 1896, gestorben am 01. 6. 1960. Pietschmann wusste um die Tatsachen und hatte die Frau, die damals unter dem Synonym Paula Wolf agierte, durch seinen Vater noch persönlich kennengelernt. Er selbst, damals noch ein Kind, erinnerte sich, dass er die alte Frau sehr nett fand, obwohl sie doch äußerst resolut war. Erst später, nach ihrem Tod, hatte er erfahren, dass es sich um die Schwester des »Führers« handelte. Nach anfänglichem Zögern hatte die Gemeinde schließlich nachgegeben und das Kreuz mit dem richtigen Namen gestattet. Paula Hitler war bis zu ihrem Tod der festen Meinung, dass ihr Bruder nur das Beste für das deutsche Volk gewollt hatte. Selbst nach dem Bekanntwerden aller Gräueltaten, behauptete sie, er selbst hätte nie etwas davon gewusst. Nach dem Krieg prozessierte sie gegen den Freistaat Bayern, der die Rechte von Hitlers Kampfschrift »Mein Kampf« besitzt. Sie wollte das Recht auf die Tantiemen erstreiten. Als sie diesen Erbschaftsstreit verlor, schrieb sie einen Brief, der alles beinhaltete, was es zu dieser Frau zu sagen gibt: »Ihr Herren, vergesst nur eines nicht! Euer Name wird längst mit eurem Leichnam zerfallen, vergessen und vermodert sein, während der Name Adolf Hitler immer noch leuchten und lodern wird! Ihr könnt ihn nicht umbringen mit euren Jauchekübeln, ihn nicht erwürgen mit euren tintenbeklecksten Fingern ... Wo er gefehlt hat, geschah es auch um Deutschland und wenn er stritt für Ehre und Ansehen, war es deutsche Ehre und Ansehen ... So liegt euch nichts daran, ihr kleinen Seelen, wenn mit euch zusammen die ganze Nation in Trümmern geht ... Was ich in den ersten Nachkriegsjahren niederschrieb, hat seine Gültigkeit auch im Jahre 1957 und bestätigt die Richtigkeit meiner Überzeugung ... Berchtesgaden, am 01. 05. 1957 Paula Hitler.«
Ja, sie hatte ihre Überzeugung und nahm sie schließlich mit ins Grab. Und vor jenem Grab stand nun Lutz Pietschmann. Es war nicht seine Absicht, ihr einen Totenbesuch abzustatten oder gar das Grab zu pflegen. Dass dies geschah, dafür hatte die Organisation, die sie bis zu ihrem Ende unterstützte, für Jahre im Voraus gesorgt. Nein, Pietschmann hatte andere Gründe für sein Hiersein. Immer wenn eine ganz besonders brisante Nachricht eintraf, wurde das Grab als toter Briefkasten genutzt. Es gab dann nur ein Telefonat, mal wieder Tante Paula zu besuchen. So auch heute Morgen. Wer ihn anrief, wusste er nicht, es war ihm letztendlich auch egal, solange entsprechende Honorare seinem Konto gutgeschrieben wurden. Pietschmann sieht sich nach allen Seiten um und vergewissert sich, dass er allein auf dem Friedhofsgelände ist. Behutsam geht er in die Knie, tut so, als beseitige er Unkraut und zieht dabei den Kassiber aus der Erde. Schnell steckt er den Zettel in seine Hosentasche, verlässt den Friedhof und besteigt seinen Audi. Erst im Wagen liest er die Nachricht: »Stubbe ist tot. Kümmern sie sich darum!« »Na prima! Man hat ja sonst nichts zu tun! Wieso sollte er wieder mit dem Quatsch anfangen. Es gibt nichts zu kümmern, alles schon so viele Male überprüft. Was sollte nun ausgerechnet nach seinem Tod auftauchen?«, denkt er und startet den Wagen. »Aber gut, kümmern wir uns eben noch einmal!« Lutz Pietschmann setzt Prioritäten. Stubbe kann warten, jetzt erst mal nach Rostock, das war jetzt wichtiger.
Das Schweizer Bankhaus Luther & Luther hat seinen Firmensitz in unmittelbarer Nähe des Großmünsters in der Züricher Oberdorfstraße. Das Bankhaus kann auf eine fast hundertjährige Familientradition zurückblicken und war so von Generation zu Generation weitergereicht worden. Die Haupteinnahmequelle bestand aus Nummernkonten, mit deren Kapital die Bank vorwiegend Kredite für größere Bauvorhaben finanzierte. Mit dem Rest des Geldes wurde kräftig spekuliert. Begünstigt wurde dies, weil Anleger von Nummernkonten ihre Barschaft »liegen« ließen und höchst selten Abhebungen veranlassten. Dass es sich bei den Kundeneinlagen meistens um Schwarzgeld handelte, für das keine Steuern bezahlt wurde, interessierte das Bankhaus wenig, solange man gehörigen Profit daraus schlagen konnte. Um das eigene Gewissen zu beruhigen, sofern überhaupt eines existierte, berief sich Luther & Luther auf das schweizerische Bankgeheimnis. Jahrelang hatte Leopold Luther, der Senior, das Bankhaus mit Bedacht geführt, bevor er die Geschäfte aus Altersgründen seinen zwei Söhnen übergab. Diesen Entschluss allerdings bereute er insgeheim auf das Äußerste! Das was die beiden jetzt trieben, war so ganz und gar nicht sein Stil. Sicherlich hatten sich die Zeiten geändert und man musste viel mehr Risiken eingehen als früher, als sich das Kapital fast wie von selbst vermehrte. Aber immer wieder hatte er seinen Söhnen eingeschärft, dass eben auch jedes Risiko, jede Transaktion überschaubar sein muss. Doch die beiden Hitzköpfe hielten sich nicht daran, steckten eher ihre Hände in unsichere Geschäfte, die mehr Rendite versprachen. Nein, das war nicht in seinem Sinn. Es wurde Zeit, dass die Juniorchefs endlich mal eine gehörige Portion Angst bekämen, um Schlimmeres abzuwehren. Leopold Luther sah aus seinem Chefbüro in der zweiten Etage auf das Münster. Ja, ja, die heilige Kirche. Ein beklemmendes Gefühl ließ ihn nicht mehr los. Wenn der unheimliche Fall, die Ahnung wahr wird, dann würde auch kein Gott mehr helfen können. Außer ihm befanden sich noch drei Leute in dem Büro, seine zwei Söhne und ein Privatdetektiv namens Herbert Schönau, mit dem Luther bereits über Jahre hinaus zusammenarbeitete und der Leopolds vollstes Vertrauen genoss. »Meine Herren, Stubbe ist tot«, sagt er einfach in den Raum hinein und wird sofort von einem seiner Söhne unterbrochen. »Aber Vater, zu Stubbe ist doch alles gesagt! Die Listen existieren nicht. Sie sind Hirngespinste, wegen meiner auch Legenden, aber eben nicht real!« »Und wenn doch?« Leopold Luther begreift nicht, wie man diesen Fakt auf die leichte Schulter nehmen kann. »Und wenn doch?«, fragt er nochmals. Schönau versucht zu beruhigen: »Glaub mir Leopold, keiner hat etwas in der Hand. Stubbe nicht und auch sonst keiner. Bedenke, wie oft wir in den letzten Jahren nachgeforscht haben. Und nicht nur wir. Ich möchte nicht wissen wie viele daran gearbeitet haben. Keiner hat auch nur die kleinste Andeutung gefunden, weil es einfach keine gab.« »Wenn es sie aber doch gab?!«, beharrt der Senior und fährt sinnierend fort: »Das wär’s. Wenn diese Konten platzen, wäre mit Zinsen und Zinseszinsen neunundneunzig Prozent unseres Kapitals weg, vom Imageverlust möchte ich gar nicht erst reden. Das wäre das Ende!« Eigentlich hatte der jüngere der beiden Brüder vor, eine Bemerkung zu machen, unterließ es aber aus Respekt vor dem Vater. Schließlich hatte der ja die »Leichen« vom Großvater übernommen. Schönau bemerkt die Unruhe des Seniors und versucht noch einmal zu beruhigen: »Also gut! Ich fahre zu der Beerdigung. Wann ist die noch mal – ich glaube in zwei Wochen –, und schaue mir diesen vermeintlichen Erben an. Glaube mir Leopold, wenn diese drei Bücher existiert haben, dann wären sie bereits aufgetaucht. Überlege mal, die ganzen Jahre. So etwas kann man nicht geheim halten. Also gut, um dich zu beruhigen, fahre ich noch einmal los. Dann aber sollten wir die Sache ein für alle Mal ad acta legen.« Leopold schaut immer noch aus dem Fenster. Nein, beruhigt ist er nicht. Es hat angefangen zu regnen und schwarze Wolken hängen tief über Zürich.
Nicolas Reimann hatte keine großen Überredungskünste aufbieten müssen, insgeheim war Kiefer froh, dass er seine Begleitung anbot. Zwei Wochen vor dem Beerdigungstermin machten sich die beiden auf den Weg nach Berg am Starnberger See. Der Zug nach München hatte nur wenige Minuten Aufenthalt am Berliner Bahnhof Zoologischer Garten, planmäßige Abfahrt war 4.30 Uhr. Während Thomas das frühe Aufstehen gewohnt war, machte sein Freund einen deutlich unausgeschlafenen Eindruck. Ja, er war neugierig, aber musste der Aufbruch ausgerechnet so früh sein? Es war Sonnabend und anständige Menschen schliefen um diese unchristliche Zeit, oder sie hatten zumindest das Recht darauf, unheimlich müde zu sein, was er mit einem unverkennbaren Gähnen bekräftigte. »Man, was ist denn mit dir los?« Reimann winkte ab: »Lass mich bloß in Ruhe! Wir hätten ja auch wirklich später ...« – er kommt nicht mehr dazu den Satz zu beenden, denn in diesem Moment fährt der Zug, aus Hamburg kommend, ein. »Zu spät!«, grinste Kiefer und hob seinen Koffer an, um das Abteil zu besteigen. In diesem Moment schob sich eine junge Frau mit einem Plastikbecher an ihm vorbei. Er kam nicht mehr dazu, eine Bemerkung über die Vordrängelei zu machen, denn durch die hastige Bewegung schwappte der Inhalt des Bechers über und eine gehörige Portion des heißen Kaffees ergoss sich über sein rechtes Hosenbein. Mehr vor Schreck als vor Schmerz schrie Thomas auf. Die junge Frau wurde kreidebleich und versuchte eine Entschuldigung. »Oh Gott, es tut mir wahnsinnig leid! Ich kann mich nur entschuldigen! Ich glaube, ich hab geträumt!« Reimann, nicht betroffen, grinste: »Kann ich verstehen.« Der Einzige, der darüber nicht lachen konnte, ist Kiefer. Doch als er sah wie peinlich ihr die Situation war, verrauchte auch bei ihm ziemlich schnell die Wut, zumal sie eine wirklich schöne Frau ist. Und schönen Frauen verzeiht man eben schneller. Minuten später stellte sich heraus, dass sie auch noch dasselbe Abteil gebucht hatte wie die Jungs. Mit dem Namen Alexandra Winter stellt sie sich mit einem leichten amerikanischen Akzent vor. Die stundenlange Bahnfahrt verkürzte sich scheinbar, da sich Alexandra als sehr redegewandt und unterhaltsam herausstellte. Eigentlich komme sie aus Miami, studiert zurzeit in Berlin-Dahlem Germanistik, weshalb sie auch so gut Deutsch spreche und wollte nun nach München, wo ihr Großvater auf sie warte. Mit ihm wolle sie sich die Stadt ansehen und dann weiter an den Starnberger See reisen. »Zufälle gibt es«, stellt Kiefer fest. »Wir haben das gleiche Ziel.« »Und ich gieße dir auch noch die Hose voll!« »Schon längst vergessen!« Reimann, der schon mehrere Male in den Staaten war, wärmte Erinnerungen an Miami auf, während Kiefer aus dem Abteilfenster den vorbeieilenden Wiesen und Wäldern nachsieht und sich Gedanken über den bevorstehenden Ausflug macht.
Das Hotel Neptun liegt nur wenige Kilometer von der Hansestadt Rostock entfernt in dem einstigen Fischerort Warnemünde. Lutz Pietschmann hatte dieses Hotel gewählt, weil bereits zu tiefsten Ostzeiten hier schon »Westniveau« herrschte. Während Westdeutsche für genügend Valuta jederzeit ein Zimmer buchen konnten, hielt der Arbeiter- und Bauernstaat nur einige wenige FDGB-Plätze zur Verfügung. Das Hotel verfügte über eine eigene Fitnessetage, mit Swimmingpool und Sauna, Disco, mehrere Restaurants so wie die Sky-Bar in der obersten Etage. Von hier aus hatte man einen wunderschönen Blick über ganz Warnemünde. Eigentlich brauchte man als Urlauber das Hotel nicht zu verlassen. Ging man dennoch hinunter, am Leuchtturm vorbei, gelangte man an den alten Strom, eine enge Straße mit dem künstlichen Kanal, an dem Fischerboote lagen, die vom Fang zurückgekehrt waren. Frisch geräucherte Ware wurde angeboten. Pietschmann liebte Fischbrötchen, aber noch mehr liebte er es, auf den Terrassen der Gaststätten zu sitzen und den nicht enden wollenden Strom von Menschen zu beobachten, die am Ufer des Kanals flanierten. Besonders jetzt im Frühjahr hatte der alte Strom seine besonderen Reize, alles schien freundlicher, selbst die künstliche Hektik der Touristen. Lautstark boten Schreier Fischwaren und Ausflüge mit dem Boot an. Pietschmann hätte noch stundenlang hier sitzen können, aber ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass es Zeit wurde aufzubrechen. In fünf Stunden würde er wieder hier sein, mit seinem Audi auf die Fähre fahren und nach Dänemark übersetzen. Missmutig, weil seiner schönen Ruhe beraubt, ging er zurück ins »Neptun«, bezahlte die Rechnung, besteigt seinen Wagen und macht sich auf den Weg zum Rostocker Hafen. Am Tor drei wurde er bereits von Alfred Schmidt erwartet. »Wie immer pünktlich.« Pietschmann knurrt etwas Unverständliches. Er konnte diesen Typen nicht ausstehen. Soweit war es also gekommen. Nun verließen die Ratten das sinkende Schiff, die Staatssicherheit verhökert ihre Arsenale. Ihm konnte es egal sein. Aber Sympathie konnte er für diesen schleimigen Diener zweier Herren nicht empfinden. Egal, Hauptsache die Ware war da. Schmidt konnte zwar nicht die Gedanken seines Gegenübers erraten, hatte aber eine Ahnung und schwenkte schnell um. »Halle 4/1. Alles bereit zum Anheuern.« Pietschmann rang sich ein Grinsen ab. Jetzt versuchte der auch noch witzig zu sein. Zu Schmidt gewandt, sagt er nur: »Na dann wollen wir mal«, nahm einen schwarzen Aktenkoffer aus dem Auto und folgte dem Stasimann in die Halle. Dreißig Kisten standen penibel übereinander gestapelt vor ihm. Pietschmann deutet auf eine der untersten: »Die da! »Aufmachen!« Frohlockend sah er zu wie Schmidt sich bemühte, die äußerst schweren, oberen Kisten abzutragen, um an die gewünschte Stelle zu kommen. Nach der dritten Kiste verlor er die Lust. Er wusste, dass die Anzahl stimmt, keine der beiden Seiten würde es wagen sich zu verzählen. Gönnerhaft reichte er Schmidt den Koffer, der ihn, ohne zu öffnen, übernahm. »Wann?« »Sie werden heute noch von unserem Zoll verplombt und gehen morgen früh raus!« »Von eurem Zoll verplombt! Wie gut, dass es den noch gibt!«, flappste Pietschmann ironisch. Mit den Worten: »Ich melde mich wieder«, verließ er ohne Gruß die Halle und fuhr davon. Alfred Schmidt, Oberstleutnant der Staatssicherheit in geheimem Auftrag der »KoKo« schaute ihm wütend nach. »Arschloch! So ein gottverfluchtes, arrogantes Arschloch! Aber warte ab, eines Tages wendet sich das Blatt wieder!« Insgeheim dachte er an alte Zeiten. Plötzlich wurde ihm bewusst, welch ein Spielball er doch ist. Er, der Vermittler, ihn würde es treffen, so wie damals mit diesem besonders klugen oder einfach nur dämlichen Politiker des Klassenfeindes. Genial wollte der sein. Hatte seinen Kontrahenten im Wahlkampf abhören lassen. Nur zu blöd, dass er die falschen Frequenzen erwischt hatte, anfing zu schnüffeln. Selbst hier in den Hafen ist er gekommen, hat auf eigene Faust recherchiert. Was daraus wurde, war Schmidt noch sehr gut im Gedächtnis, jagte ihm Schauer über den Rücken. War es Respekt, Furcht? Nein, eher schon Angst. Ob Pietschmann, dessen Hintermänner oder gar unser Ministerium darin verwickelt waren? Vielleicht auch alle zusammen! Dieser Gedanke verunsicherte ihn noch mehr. Erst wurde von irgendeiner Seite eine Rufmordaktion gegen den Politiker losgetreten und wenig später beging er Selbstmord, fuhr extra noch mal in die Schweiz, um sich in einer Hotelbadewanne zu ertränken. Er, Alfred Schmidt, wusste es besser. Die Schweizer Polizei begann zu ermitteln und machte augenscheinliche Fehler, zu viele. Fast wie von Geisterhand. Oder sollte man doch von Vertuschung reden, Vertuschung von ganz oben getragen? Wie viele Zweifel braucht ein Mensch? Wie viele Indizien wurden missachtet, bis sich die schweizerische Staatsanwaltschaft dazu durchrang die Selbstmordthese zu bestätigen und das Verfahren einzustellen. Keinerlei Fingerabdrücke wurden gefunden, an keinem der drei Gläser auf dem Tisch und auch nicht an der geöffneten, halbleeren Flasche. Schließlich ist es ja ziemlich ungewöhnlich, mit Straßenschuhen und Anzug in die Wanne zu steigen, um sich zu ertränken, natürlich ohne Abschiedsbrief. Nein, bei dieser Art von Geschäften hielt man sich lieber an Absprachen und sorgt dafür, dass keinerlei Fehler auftreten. Er, Alfred Schmidt, kannte die Spielregeln und würde sich sehr sorgfältig daranhalten. Morgen um sechs Uhr werden die Makarows und die AK 47 die Deutsche Demokratische Republik für immer verlassen, hier wurden sie sowieso nicht mehr gebraucht. Was die mit den Dingern anstellten, ging ihn nichts an, also wozu sollte er nur einen Gedanken dazu verschwenden. Das Geld im Koffer brauchte er nicht nachzuzählen, es stimmte. Es stimmte immer. Schmidt verließ die Halle, um den Koffer bei seinen Dienstherren abzuliefern und eine nicht unerhebliche Provision einzustreichen. Das war es, was für ihn zählte.
Am späten Nachmittag fuhr der Zug in den Münchener Hauptbahnhof ein. Trotz der längeren Bahnfahrt war keine Langeweile aufgekommen, was vor allem an der unterhaltsamen Art Alexandras lag. Schon nach einer Stunde verabredete man sich in Berg am Starnberger See. Sie wurde bereits erwartet. Fast schon sehnsuchtsvoll sah ihr Thomas Kiefer nach, als sie von einem alten Mann begrüßt wurde und mit ihm gemeinsam den Bahnsteig hinunterging. »He, träumst du? Du siehst sie ja in paar Tagen wieder«, grinst Reimann und fügt lachend hinzu: »Hab doch gleich gemerkt, wie du die die ganze Zeit angestarrt hast. Los, nun komm endlich!« Dieser Ossi! Anscheinend bin ich neugieriger auf das Haus als er. Aber jetzt ist es genug, jetzt kommt die Zeit, da ich meinen Willen durchsetzen werde! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ohnehin auf die lange Bahnfahrt verzichtet und wären mit dem Auto gefahren. Nun gut! Nicolas hielt Ausschau nach der nächsten Autovermietung. Fehlte noch, dass jetzt Bus fahren angesagt ist. Raus aus der Stadt, rauf auf die Autobahn, das Autobahndreieck Starnberg hinter sich lassend, erreichten sie nach einer guten halben Stunde die Stadt Starnberg, suchten die Bank, die Stubbe in seinem Brief benannt hatte und stellten fest, dass selbstverständlich an einem Sonnabendnachmittag niemand in der Kanzlei war. Also bis Montag! Wieder Autofahrt, bis sie schließlich ihr Ziel Berg am Starnberger See erreichten. Frau Holsten war das ganze Gegenteil von Miquel Sances, wesentlich älter und auch deutlich reservierter. Die Anwaltskanzlei hatte ihr das Kommen des Universalerben angekündigt und ihr die Gesamtsituation erläutert, doch schien das ganze weit weg. Als Kiefer nun in Begleitung vor ihr stand, musterte sie ihn argwöhnisch. Das war er also! Oh Gott, armes Deutschland. Stubbe, immer korrekt gekleidet, selbstsicheres Auftreten, eben eine Persönlichkeit, war das Gegenteil von diesem Exemplar in seinen abgetragenen Ost Jeans und Schuhen. »Können sie sich ausweisen?«, fragte sie kühl. »Selbstverständlich«, antwortete er freundlich und reicht ihr den Personalausweis der DDR, den sie mit übertriebener Aufmerksamkeit durchblätterte. Nach intensivem Studium händigt sie den beiden Jungen ein Schlüsselbund aus. »Soll ich mitkommen, um ihnen alles zu zeigen?« »Danke, aber ich möchte mir ein unvoreingenommenes Bild machen.« »Wie sie meinen. Das Haus befindet sich in der Wehrstraße 21, gleich hier die Straße rauf, bis zur nächsten Ecke, dann rechts, vielleicht fünfzig Meter, auf der linken Seite. An der Eingangstür befindet sich ein kleiner grauer Kasten mit einer Tastatur. Bevor sie aufschließen, geben sie den Code für die Alarmanlage ein. Steht hier auf dem Zettel. Wenn sie mich brauchen oder Fragen haben, hier ist meine Telefonnummer.« »Vielen Dank. Ich werde darauf zurückkommen.« Frau Holsten sieht den beiden nach und denkt sich kopfschüttelnd: »Nein, der passt nicht hierher. Hilfe, die Ossis kommen. Was hatte sich der Stubbe dabei gedacht? Na ja, für seine Verwandten kann man ja nichts! Armes Deutschland.« Thomas Kiefer kannte das Anwesen auf Mallorca nur von Fotos, die Miquel ihm mitgebracht hatte, dieses Anwesen, vor dem er geradestand, schien noch größer und luxuriöser zu sein. Eingebettet von viel Grün liegt das Haus mit den zwei Etagen, der Wendeltreppe, zwei Bädern, einen abgeteilten Keller, mit einer Art Waschküche, sowie die eingebaute Sauna. Die Einrichtung der Zimmer schien ebenso sporadisch wie einfach und zeugte nicht von Wohlstand seines verstorbenen Eigentümers, eher wirkten sie bescheiden und doch nicht geschmacklos. Die Jungs befanden sich gerade im Untergeschoss in einer Art Bibliothek oder auch Empfangssalon. Mit einem: »Bow, eh!«, ließ sich Reimann in einen der beiden übergroßen Sessel fallen. »Ich möchte nicht wissen, was das hier wert ist!«, stellt er fest und weiß, dass das gelogen ist. Insgeheim stellt er sich schon die Schlagzeile vor: »Ostdeutscher im neu erworbenen Reichtum!« Doch Thomas scheint unbeeindruckt, oder tat er nur so? Nicolas bohrt. »Scheint ein besonderer Typ gewesen zu sein, dein Großvater.« »Mag sein. Ich hätte ihn aber lieber zu Lebzeiten gekannt. Warum, gottverflucht hat er sich nie gemeldet?« »Ich denke das kriegen wir auch noch raus. Es muss doch Leute geben, die ihn näher gekannt haben. Und irgendwie bist du ja auch entstanden. Warten wir es ab, was sich in dem Bankschließfach befindet.« Thomas schien auch eher auf dieses Resultat gespannt zu sein, als auf das ganze drum herum. »Da werden wir ja wohl bis Montag warten müssen«, resümiert er. »Eines scheint jedenfalls sicher, dein Opa war ein Gourmet, ein ausgeprägter Genießer.« Fragend sah Kiefer seinen Freund an. »Wie kommst du darauf?« »Na du warst doch auch in dem Weinkeller.« »Hab aber keine Ahnung davon.« Reimann lächelte mild: »Aber ich. Glaube mir, da waren ein paar sehr gute Tröpfchen dabei.« »Worauf du achtest!« »So bin ich eben. Hast du das italienische Restaurant, vorn an der Ecke gesehen? Komm, lass uns Muscheln essen gehen. Ich lade dich ein. Wollte schon immer mit einem Millionär essen gehen!« »Ich esse doch keine Muscheln«, schüttelt Kiefer den Kopf. »Also erstens gibt es da ja auch noch andere Sachen und zweitens kannst du ja mal von meinen probieren. Weißt du wenigstens, was dir entgeht. Ich hab jedenfalls Hunger. Lass uns gehen!« Das Ambiente des Italieners entsprach der höheren Preisklasse, die Speisen, vom Kellner mit leicht gespielter Freundlichkeit serviert, schmeckten vorzüglich, auch wenn sich Thomas tapfer weigerte, von den Miesmuscheln in Rotweinsauce zu probieren. Am frühen Abend füllte sich das Restaurant allmählich und obwohl sich die beiden in einer kleinen Nische am Ende des Gastraumes platziert hatten, kam es Kiefer so vor, als wären alle Blicke der übrigen Gäste ganz allein nur auf ihn gerichtet. Er fühlte sich beobachtet. Was auch nicht allzu verwunderlich war, kannte in diesem Ort scheinbar jeder jeden. Und sie waren nun eben mal neu hier. Außerdem hatte sicherlich auch der Buschfunk von Frau Holsten sehr gut funktioniert.
Nach dem Essen entschlossen sie sich noch zu einem kleinen Verdauungsspaziergang. Sie trotteten an der Uferpromenade, der Seestraße entlang, rauchten und genossen den ersten wirklich warmen Frühlingsabend. »Na, wie sieht’s aus? »Anbaden?« Nicolas sah seinen Freund ungläubig an. »Ist nicht dein Ernst. Hast du aufsteigende Hitze?« »Warum, ist doch schön warm.« »Nicht mit mir. Ich warte noch. Bei den Wassertemperaturen friere ich mir doch den Arsch ab. Aber tue dir keinen Zwang an!« Kiefer lacht: »Du alte Mimose, Warmduscher! Aber beruhige dich, war nur ein Spaß.« »Dir traue ich in solchen Sachen alles zu.« Kiefer wird ernst: »Hast du eigentlich vorhin bemerkt, wie die uns alle angestarrt haben?« »Wer?« »Na vorhin, beim Italiener. Ich hatte das Gefühl unter ständiger Beobachtung zu stehen.« Reimann lacht und sagt ironisch: »He Alter, wir sind hier im tiefsten Westen! Deine Stasi gibt‘s hier nicht, die haben wir schön bei euch im Osten gelassen. Nonsens. Einbildung ist auch eine Art von Bildung.« »Mag sein. Mir kam es halt so vor.« Thomas zeigt mit der Hand zum Horizont: »Aber ist doch geil, der Sonnenuntergang, oder?« Im knalligen Rotgold versank der Feuerball im Starnberger See und spiegelte seine restlichen Strahlen im Wasser. »Hm«, Reimann schien nicht so beeindruckt, hegte eher andere Gedanken. »Was hältst du davon, wenn wir zurück gehen, eine gute Flasche Wein öffnen und auf das Wohl deines Opas anstoßen?« Thomas grinste: »Ich hab mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis du diese Frage stellst!« Die beiden machten sich auf den Weg und bemerkten nicht das abgestellte Auto am Straßenrand. Sie sahen auch nicht den Fahrer, der einen Fotoapparat in den Händen hielt, und sie hörten auch nicht das pausenlose Klicken.
Nach der zweiten Flasche bemerkte Kiefer den Beginn eines Rausches und als sich Nicolas, dem es anscheinend nichts ausmachte, anschickte den letzten Tropfen aus der Flasche in sein Glas zu schütten, winkte er nur müde ab: »Ich hab genug. Das Zeug mag ja gut sein, mir ist das einfach zu sauer. Wenn du möchtest, hol dir noch eine Flasche, aber lass mich raus!« »Herb. Man nennt das herb und nicht sauer«, verbesserte ihn Reimann und stellte fest: »Ein guter Wein muss herb sein, das verhindert den schweren Kopf am nächsten Tag.« »Wegen meiner auch das. Trotzdem hab ich genug. Aber wie gesagt, Nico, tue dir keinen Zwang an.« »Ich kann ja mal schauen, ob ich was lieblicheres finde«, beruhigte Reimann sein Gewissen und stieg zum wiederholten Mal in den Keller, während sein Freund den Fernseher einschaltete. Als Nicolas nach einer Viertelstunde immer noch nicht zurück war, machte sich Thomas Gedanken: »Das kann doch nicht so lange dauern, eine Flasche Wein auszusuchen. Der wird doch nicht im Suff die Treppe runtergesegelt sein?« Gerade wollte er sich vom Sessel erheben, um nachzuschauen, als plötzlich Reimann, ohne eine Flasche Wein, dafür aber mit einem aschfahlen Gesicht vor ihm stand. »Los komm mit!« »Was ist denn? War die richtige Sorte nicht dabei?« »Du wirst Augen machen! Komm! Ich habe was entdeckt.« Auf dem Weg in den Keller erstattete Reimann Bericht: »Ich nehme eine Flasche nach der anderen aus dem Regal und sehe plötzlich dahinter eine Tür. Habe ich also die restlichen Flaschen ausgeräumt und bin rein in den Raum. Und nun pass auf!« Kiefer sah die Flaschen auf dem Kellerboden und die Tür in der Wand. »Los, geh rein!« Das matte Licht der Kellerlampe beleuchtet nur schwach den Raum und Thomas erkannte nur schemenhaft die Umrisse der hier gebunkerten Gegenstände. Schauer jagten über seinen Rücken und ließen ihn schlagartig wieder nüchtern werden. Verwirrt versuchte er zu begreifen, was Reimann auf den Punkt bringt: »Also, entweder war dein Opa ein Big Nazi oder ein fanatischer Sammler von nationalsozialistischen Devotionalien.«