Читать книгу Der Feuerfluch von Eggersdorf - Mario Worm - Страница 4
Prolog
ОглавлениеOb Albert Einstein die Tragweite seiner Relativitätstheorie erahnte, als im Jahr 1905 seine Formel E = mc², veröffentlicht wurde? Sicherlich konzentrierte sich der Wissenschaftler nur auf den Zusammenhang zwischen Raumkrümmung und Zeit und dachte nicht im geringstem daran, dass der Ausspruch „alles sei relativ“ in den alltäglichen Wortschatz übernommenen werden würde. Einstein hätte sich die wuscheligen Haare gerauft, wenn er gewusst hätte, was aus seiner hoch wissenschaftlichen Errungenschaft wurde: eine flapsige Bemerkung einer Allerweltskonversation.
Einstein kannte, das ist wenig verwunderlich, Albert von Röschel nicht. Womit wir bei der eigentlichen Uminterpretation wären. Von Röschel bewohnte nun schon seit etwa neun Jahren die kleine Hütte an der Eggersdorfer Landhausstraße. Alles ist relativ! Kam man aus der Mitte des Doppeldorfes, die Kirche hinter sich lassend, befand sich das Gehöft am Dorfausgang. Kam man von Bruchmühle, lag es am Dorfeingang. Oder war es anders herum? Alles ist relativ! Sei es, wie es sei. Oder um es genauer zu beschreiben: seine Hütte befand sich gegenüber einem Feld, auf dem sich zu dieser Jahreszeit der Raps in voller gelber Pracht präsentierte. Neben dem ertragreichen Acker lag die Brache mit den einsturzgefährdeten Ruinen, den verschlissenen betonierten Wegen, die ehemals als Zufahrtswege zum Gelände der „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft“ genutzt wurden. Als im Jahre 1989 die Deutsche Demokratische Republik aufhörte zu existieren, waren auch die Tage der alten LPG gezählt. Was einst als Vorzeigebetrieb galt, war dem Untergang geweiht. Da zu allem Überfluss die Eigentumsverhältnisse für das Terrain nicht zu klären waren, verfiel die sozialistische Bebauung nun vollends. Alles ist eben relativ.
Albert von Röschel interessierten diese Details nicht im Geringsten. Für ihn war die Welt in Ordnung, so wie sie eben war. Im leicht fortgeschrittenen Alter genoss er die ausgedehnten Spaziergänge, die er zweimal am Tag unternahm, die Verpflegung, die man ihm reichte und vor allem die himmlische Ruhe und Geborgenheit seiner Hütte. So hätte es weitergehen können, wenn es da nicht diese Nacht gegeben hätte...
Es ist kurz vor Zwei, als das Fenster des Haupthauses aufgerissen wird und die Stimme des Herrchens erschallt: „Schnauze, Töle!“ Albert von Röschel überhörte die vertraute Stimme geflissentlich. Schließlich wusste er nur zu gut, wie Haus, Hof und vor allem seine Hütte zu beschützen waren. Eigentlich hatte er sich schon zur Ruhe begeben, den Rumpf in der Hütte vergraben, die kleine Dackelschnauze über die leicht gekrümmten Pfoten gelegt. Ganz bestimmt hatte er von einem riesigen Knochen geträumt. Oder doch von dem „Kanibalenkarnickel“? Alles ist relativ. Süßlicher Duft des gegenüberliegenden Rapsfeldes umwehte die empfindliche Hundenase. Doch plötzlich zwickt ihn ein beißender Geruch. Er schlägt die Augen auf. Das „Kanibalenkarnickel“! Egal. Auf alle Fälle war Gefahr angesagt, ein bedrohliches Szenario für den Vierbeiner. Von Röschel schlägt an, unüberhörbar. Wild rennt er hin und her. Erneut brüllt es von oben: „Albeeerrrt! Aus!“ Die Haltung des Ausrufenden wandelt sich, als seine Augen das Flammenmeer jenseits des Rapsfeldes erblicken. „Ilse, schnell! Ruf die Feuerwehr! Da drüben brennt es mal wieder, aber dieses Mal richtig!“
Um null Uhr dreiundzwanzig ging der Notruf unter der 112 ein. Zwei Minuten später gab die Leitstelle das Signal an die freiwillige Feuerwehr in Eggersdorf weiter.
Hans Joachim Herrmann war es gewohnt, sehr früh aufzustehen, weshalb er sich auch dementsprechend frühzeitig ins Bett begab. Sein Körper war an diesen Rhythmus gewöhnt. Noch vor wenigen Jahren fuhr Hermann als Fernfahrer durch die Gegend, bewegte seinen tonnenschweren Truck über die Autobahnen. Er kannte aller Herren Länder. Da man peinlichst genau auf die Ruhezeiten achten musste, um nicht bei der nächsten Verkehrskontrolle deftig draufzuzahlen, hatte er sich stets rechtzeitig einen Rastplatz gesucht, um sein Abendbrot zu genießen. Und um sich schnell zur Ruhe zu begeben. Bestraft war derjenige, der zu spät auf die „Zielgerade der Begierde“ einbog. Meist war man dann zur Weiterfahrt gezwungen. Die Elefantenrennen, bei denen ein „Brummi“ den anderen in manchmal waghalsigen Manövern überholte, hatten ihre Spuren hinterlassen. Herrmann hatte den Kampf um den besten Platz meistens gewonnen und war somit in der Lage, im Morgengrauen wieder seinen Motor zu starten. Die Macht der Gewohnheit ließ ihn also regelmäßig gegen fünf Uhr morgens erwachen, auch jetzt, wo er das Rentenalter erreicht hatte.
Dass er heute Nacht noch um diese Zeit im Badezimmer agierte, war einem Fernsehabend geschuldet, besser gesagt einer späten Dokumentation über Jeanne d’Arc. Hans Joachim interessiert dabei weniger das tragische Schicksal der so genannten „Jungfrau vor Orleans“, die vermutlich am 06. Januar 1412 in Domrémy, einem verschlafenen Ort in Lothringen, das Licht der Welt erblickte. Er wusste zwar, dass jene Johanna von Orleans, die während des hundertjährigen Krieges den Truppen des Thronerben zu einem Sieg über die Engländer und Burgunder verhalf und nach ihrer Gefangennahme vor ein Inquisitionsgericht gestellt wurde. Der oberste „Rechtsprecher“ Pierre Cauchon verurteilte sie wegen wiederholter Ketzerei zum Tod durch den Scheiterhaufen. Die Vollstreckung des Urteils am erst neunzehnjährigen Mädchen fand am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz von Rouen statt. Es waren andere Bilder, die ihm vor Augen kamen. Bilder dieser einen Stadt in Frankreich, die direkt an der Küste der Normandie liegt. In seiner Fernfahrerzeit hatte Herrmann gefühlte hunderte Male seinen Scania über die knapp 1100 Kilometer lange Strecke von Berlin hierher gesteuert. Hier in Rouen endeten die „Elefantenrennen“. Hier bekam man zusätzliche Ruhezeiten, welche im Wesentlichen den französischen Disponenten zu verdanken waren, die der deutschen Hektik nicht folgten und sich beharrlich weigerten, einen LKW nach 16.00 Uhr zu be- oder entladen. Dafür, quasi als kleine Entschädigung, wies man den Truckern einen Parkplatz mit Blick auf den Jachthafen zu. Welch ein malerischer Anblick, mit mindestens zwölf Stunden Freizeit. Was gab es Schöneres, als nach einem ausgiebigen Bummel durch die Stadt seinen Liegestuhl aus dem Fahrzeug zu holen, mit einem Baguette und einer Flasche französischen Bier in der Hand, den Sonnenuntergang über den Unterlauf der Seine zu genießen…? Ja, Herrmann liebte diese Tour und jetzt, wo er seine Rente bezog, trauerte er ihr erst recht hinterher.
„Just in time“ lautete damals die Devise. Und die erlaubte keinen zusätzlichen Halt. So war er zum Beispiel regelmäßig an dem Schloss Versailles vorbeigefahren, das nahe Paris als Schönheitskönigin glänzte, ohne jemals auch nur einen Fuß wenigstens in König Ludwigs Schlosspark zu setzen. Gern hätte er auch mal die Umgebung von Rouen gesehen oder weitere Landstriche der Normandie „erobert“, doch auch dazu bot sich eben nie die Gelegenheit. Rentner haben niemals Zeit! Aber eines Tages, so nahm er sich vor, würde er sich ein Wohnmobil mieten und mit seiner Frau und den zwei Kindern alle diese Punkte abfahren. Dieses Vorhaben hatte er aus unterschiedlichsten Gründen Jahr für Jahr verschoben. Also suchte er Trost in dieser Fernsehdokumentation, die aber nicht wirklich neue Bilder brachte.
Victor Hugo hatte Rouen als die Stadt der hundert Kirchtürme bezeichnet. Hans Joachim kannte die meisten davon, die Kathedrale Saint-Ouen oder den Temple St-Éloi. Er kannte die kleinen, mittelalterlich wirkenden Gassen mit ihren Querhäusern, den Turm der Jeanne d‘ Arc, den Rest der Burg, die im Jahre 1200 erbaut wurde, das Pest-Beinhaus. Der Place du Vieux-Marché, von dem die Doku zu berichten wusste, dass hier an diesem Punkt der Scheiterhaufen stand, war ihm vertraut. Wirklich neue Bilder bekam er nicht zu Gesicht. Was hatte er erwartet? Schließlich war es eine Dokumentation über die „Jungfrau“ und nicht über die Weiten der Normandie!
Enttäuscht schaltet er den Fernseher ab, schlurft, von der Müdigkeit geplagt, ins Bad und ist gerade im Begriff sich zu entkleiden, als plötzlich der Pieper anfängt, lauthals zu pfeifen. Allen Kameraden der Feuerwehr signalisiert er, dass ein Einsatz anliegt. Herrmann wirft einen flüchtigen Blick auf das blinkende Display. Mal wieder das alte LPG Gelände, sicherlich erneut ein Haufen Zeitungspapier, das von herumtreibenden Gören angezündet wurde. Hans Joachim drückt sich hastig durch die Informationen und glaubt seinen Augen nicht zu trauen. GROSSBRAND steht da, nicht zu übersehen! Sofort rennt er zu seinem Auto, springt hinein und rast davon.
Keine Sekunde zu spät, was die Sirene bestätigt, die mit ohrenbetäubendem Lärm durch den Eggersdorfer Nachthimmel dringt. Genau der gleiche, dreimal auf- und abschwellende Heulton, der vor zirka einem dreiviertel Jahrhundert das Ende eines Bombenangriffs signalisierte und indirekt dazu aufforderte, aus den Kellergewölben und Bunkern ans Tageslicht zurück zu klettern. Entwarnung! Kaum einer der heutigen Generation kennt diesen Zusammenhang und erst recht interessierte es keinen der Kameraden der Freiwilligen von Eggersdorf. Heute bedeute das Signal Gefahr, welche man jetzt eben, in diesem Augenblick, bekämpfen musste. Hans Joachim erreicht die Feuerwache gleichzeitig mit seinem Sohn Pascal, der ebenfalls Mitglied der Feuerwehr ist. „Morgen, Vater!“, raunt er. „Morgen, Passi.“ Für mehr Konversation bleibt keine Zeit. Drinnen herrscht schon Geschäftstüchtigkeit. Die gelebte Routine beginnt. Ein Wort, das die Kameraden überhaupt nicht gerne hören. Jeder Einsatz hat seine eigenen Herausforderungen, bedarf andere Reaktionen. Wenn man jene Formulierung unbedingt positiv deuten möchte, dann sollte in diesem Falle „Routine“ mit geordneten, zigmal geprobten, einstudierten und exerzierten Handlungen gleichgesetzt werden. Mitten in dem geordneten Gewusel gibt der Wehrführer seine Anweisungen, deutet mit Handbewegungen auf einzelne Kameraden, teilt ein. Wenige Minuten später ist der Löschzug einsatzfähig. Noch schnell „die Oma“ aufgesetzt, so wird im internen Sprachgebrauch die „Sturmhaube“ genannt, und schon verteilen sich die dreiundzwanzig Anwesenden auf drei Wagen. Die Tore öffnen sich. Nach kurzer Zeit erreichen sie, vom Blaulicht und Sondersignal begleitet, die Brandstelle. „Mist, zu spät. Das war es. Nur noch kontrolliertes Abbrennen möglich“, konstatiert Ralf, als er sieht, wie weit der Brand fortgeschritten ist. Trotzdem werden Schläuche und andere Geräte zum Einsatz kommen. Zumindest ein Übergreifen des Feuers muss verhindert werden. Jeder kennt seine Aufgabe, jeder Handgriff ist einstudiert. „Wasser marsch!“ Systematisch grenzt ein Strahl den linken Feuerherd ab, während der zweite das Rapsfeld in Schach hält. Der Wehrführer, der in diesem Fall auch als Einsatzleiter fungiert, rennt von Posten zu Posten, überprüft, gibt restliche Instruktionen. Pascal Herrmann und sein Kamerad Karsten Schubert sind damit beschäftigt den Brand am hinteren Gebäudeteil unter Kontrolle zu halten, den Druckschlauch auf die geöffnete Hintertür haltend.
Plötzlich deutet Schubi aufgeregt in das Gebäudeinnere: „Hey Passi! Schau mal! Täusche ich mich oder ist da noch jemand drin?“ „Mensch, ich glaub du hast Recht. Los, informiere Ralf! Drück die Nottaste! Schnell!“ Jeder der Kameraden ist mit einem Handfunkgerät ausgerüstet, um mit den anderen ständig im Kontakt zu bleiben. Die Nottaste an diesem Gerät bewirkt, das alle Frequenzen am Einsatzort unterdrückt werden und nur noch der Absender für alle zu hören ist. „Ralf, Ralf, komm mal schnell! Wir glauben, da ist noch jemand im Haus“, blökt Karsten in die Muschel. Der Gerufene meldet sich nicht. „Ralf, bitte kommen!“, macht Schubi einen zweiten Versuch. Doch auch dieses Mal bekommt er keine Antwort. Später, bei der Einsatzauswertung wird sich herausstellen, dass aus unerklärlichen Gründen die Funkfrequenz verstellt war. Zu diesem Zeitpunkt weiß das aber niemand. „Los komm, wir gehen rein!“, kommandiert Pascal und ist sich bewusst, dass er mit dieser Aufforderung gegen alle Regeln verstößt. Schubi zögert. Auch ihm ist die Hauptregel bekannt, zumal er sie als Ausbilder der Jugendfeuerwehr dem Nachwuchs regelmäßig vorpredigt: „Kein Risiko eingehen, niemals sich selbst in Gefahr bringen. Erst dann gilt es anderen zu helfen!“ Passi wägt ab: „Der Rauch ist weiß und noch nicht schwarz. Kann klappen. Los, Schubi! Schnapp dir die Wärmebildkamera, wir gehen rein!“ Gebückt tasten sie sich ins Innere. Trotz Schutzanzug ist die Hitze fast unerträglich. Die fast zwanzig Kilo schweren Metallflaschen mit Atemluft sorgen für zusätzlichen Kraftaufwand. Eine dichte Wand aus Rauch erschwert die Sicht. Dann zeigt die Kamera ein deutliches Bild. „Da drüben, Passi!“ Eine Sekunde später können sie es mit eigenen Augen erkennen. Sie stehen vor einem Stuhl, auf dem ein zusammengekauerter Mann mit Handschellen an den Lehnen gefesselt ist. Während Schubert damit beschäftigt ist, die Fesselung zu lösen, versucht Herrmann das Opfer leicht schüttelnd anzusprechen: „Hallo, können Sie mich hören? Wir sind von der Feuerwehr. Wir holen Sie hier raus. Hallo, hören Sie mich?“ Er bekommt keine Antwort. Stattdessen schüttelt Schubi nur mit dem Kopf: „Kriege ich nicht auf!“ Pascal sieht sich um: „Los, wir müssen hier raus! Fass an!“ Er ergreift die eine Stuhllehne. Karsten hat verstanden und tut es ihm gleich. Zusammen wuchten sie den Stuhl, mitsamt dem Verletzten, dem Ausgang entgegen. „Seine achtzig Kilo hat er schon!“, stellt Passi schnaufend fest und wirft noch einen prüfenden Blick hinter sich. Die Augen werden starr: „Scheiße, raus hier! Der Qualm wird schwarz. Scheiße, ein Flashover! Raus!“, brüllt er. Mit Schwung schleudern sie ihre Last ins Freie und springen in einer Art Hechtsprung hinterher. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment setzt sich eine Feuerwalze in Bewegung. Sofort werfen die herbei geeilten Kameraden Branddecken über die beiden. Leicht benommen richtet Pascal Herrmann seinen Blick nach oben. Das erste, was er zu sehen bekommt, ist das wütende Gesicht seines Vaters. Er ist besorgt um seinen Sohn. Erst dann wird ihm klar, dass dieser sich falsch verhalten hat. Es bricht aus Hans Joachim heraus. Wild mit den Armen gestikulierend brüllt er, den am Boden Liegenden an: „Mensch, bist du blöde?“ Aus weiter Entfernung hört er die Stimme eines Kameraden, der sich um den Geretteten kümmert: „Den Kamikazeeinsatz hättet ihr euch sparen können. Der ist hin!“ Umsonst! Auch das noch! Wie auf Kommando kommt der Wehrführer heran: „Wie geht es dir?“, fragt er kopfschüttelnd und sein Minenspiel verrät nichts Gutes. Als könnte Passi Gedankengänge erraten, hebt er den Daumen nach oben: „Alles okay.“ „Nichts ist okay!“, bekommt er gleich die nächste Ansage: „Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich das kommentarlos hinnehme. Wir sprechen uns noch.“
Wütend wendet sich Ralf Gastegger wieder dem Brandgeschehen zu. Ja, eine Aussprache wird das Minimum sein. Aber nicht jetzt, nicht hier und nicht vor den anderen Kameraden. Mildernd gilt nur, dass die beiden ein Menschenleben retten wollten. Und dennoch, sie haben sich in akute Gefahr begeben und damit gegen die eiserne Grundregel verstoßen. Selbstschutz steht an erster Stelle! Und damit Basta! Er kann und darf es nicht durchgehen lassen! Trotzdem, ganz im Inneren seiner selbst, kann er das Verhalten der Zwei verstehen. Durch die Fürsprache eines Kumpels erwachte seinerzeit das Interesse an der Feuerwehr. Gute vierzig Jahre war er nun schon dabei und irgendwann hatte er damit aufgehört, die Einsätze zu zählen. Dennoch blieben besonders zwei Begebenheiten im Gedächtnis, hätten ihn beinahe zum Hinschmeißen bewogen. Da war das kleine Kind, das in einen Gartenteich fiel. Der Pieper war ihm noch im Ohr, der den nur ein paar Straßen weiter befindlichen Unglücksort anzeigte. Gastegger und ein Arbeitskollege hatten gerade den Grill angeworfen, als der Pfeifton erschallte. Sofort fuhren die beiden zur Feuerwache. Noch heute fragt er sich, ob dies ein fataler Fehler war. Nur ein paar Straßen von seinem Grundstück entfernt! Wenn sie nun - entgegen der amtlichen Vorschrift - gleich hingefahren wären…? Als sie schließlich am Unfallort ankamen, setzten sie sofort zu Reanimation des Kindes an. Zu spät. Der kurz darauf eintreffende Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Bis heute stellt sich Ralf die Frage, was wäre wenn gewesen? Hätten zwei Minuten eher den Unterschied gemacht? Würde der kleine Junge jetzt noch leben? Später nach der Wende avancierte er zum Wehrführer. Und bekam auch gleich ein Hilfeersuchen der Strausberger Feuerwehrkollegen. Wohnungsbrand, zweiter Stock in der Vorstadt. Auf der Treppe lagen zwei Kinder im Schlafanzug, vielleicht drei und fünf Jahre alt. Ein paar Meter weiter die Mutter. Tot. Sie hatten es nicht mehr rechtzeitig geschafft, ins Freie zu gelangen, und waren am Rauch erstickt. Diese Bilder. Insbesondere, wenn Kinder mit im Spiel sind, vergisst man nie. Und immer bleiben Selbstzweifel, ob man es nicht hätte verhindern können. Zeit zum Verarbeiten blieb eh nie, da man seine ganze Konzentration schon wieder auf den nächsten Einsatz ausrichten musste. Ja, Gastegger konnte den Regelverstoß der beiden verstehen, billigen konnte er ihn dennoch nicht. Von der falsch eingestellten Frequenz in Schuberts Funkgerät wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nichts.
Im Morgengrauen war der Einsatz beendet. Den Rest besorgten jetzt die Leute von der Kripo, der Branduntersuchungskommission, sowie ein Kollege der Staatsanwaltschaft. Zur Sicherheit, um eventuell wieder aufflammende Brandherde zu bekämpfen, blieben auch noch drei Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr vor Ort. Die anderen fahren zur Feuerwache, in die Karl-Liebknecht-Straße 35a, um die Gerätschaften für einen neuen Einsatz vorzubereiten. Danach machen sich die meisten auf den Weg nach Hause. Schnell duschen, um dann ihrer geregelten Erwerbstätigkeit nachzugehen.