Читать книгу Der Junge aus der Vorstadt III - Mario Worm - Страница 10
1. Kapitel
ОглавлениеEggersdorf - bei Berlin, 08.02.2020
Mit mächtigem Geknarze verschafft sich der Pieper Gehör. Es ist genau zwei Minuten vor Mitternacht, als der kleine schwarze Funkmeldeempfänger die Kommandozentrale und alle angeschlossenen Einsatzkräfte über einen Notfall informiert. Die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr sind unmittelbar in Kenntnis gesetzt, wissen, was in etwa passiert ist und auch wo. Kurz darauf ertönt der dreimalige Sirenenton. Letzter Aufruf! Die Kameraden, die bereits schlafen, springen aus den Betten, andere schalten ihren Fernseher ab. Die Digitalfraktion legt das Handy zur Seite. Zu den Letztgenannten gehört auch die siebzehnjährige Natalie. Wie die meisten Teenager ist auch sie eifrig mit dem Versenden von WhatsApp-Nachrichten beschäftigt. Im letzten Jahr hat sie ihre Ausbildung zum „Truppmann“ absolviert und wurde von der Jugendfeuerwehr in die Gruppe der Erwachsenen übernommen. Ihre noch nicht erreichte Volljährigkeit war der einzige Bremsklotz. Sie besucht noch das örtliche Gymnasium und ist laut Gesetz nur für Einsätze bis 18.00 Uhr einsetzbar. Aber heute ist Sonnabend, morgen würde genügend Zeit zum Ausschlafen sein. Und überhaupt, einen Versuch ist es wert. Sie wirft sich ihre Jacke über und verlässt hektisch das Haus, gerade noch rechtzeitig, um ihrem Nachbarn, der sich ebenfalls auf den Weg machen will, den Zugang zu dessen Auto zu versperren: „Hey, nimm mich mit!“ „Du weißt, dass das nicht geht. Los, scher dich wieder ins Bett!“, bekommt sie als unliebsame Reaktion zu hören. „Mann ey, das sind doch nur noch ein paar Monate!“ „Gesetz ist Gesetz.“ „Bitte!“ „Also gut …“ Achim Herrmann hat keine Zeit mehr für Diskussionen. „Die schicken dich wieder nach Hause, wirst sehen ...“ Etwas genervt öffnet er die Autotür.
Auch im anderen Teil des Doppeldorfes Petershagen betrachtet jemand interessiert das Display des Piepers: „Brand, Haus Bötzsee.“ Marco Rutter war bis zu seiner Ernennung zum Bürgermeister Wehrführer der Gemeinde. Obwohl ihn sein derzeitiger Job als oberster Dienstherr des Ortes mehr als genug auslastet, kam er doch nie so recht von der „Freiwilligen“ los, blieb Mitglied und beteiligt sich, sofern es seine Zeit erlaubt, auch hin und wieder an Einsätzen. Als er den Einsatzort liest, hält ihn nichts mehr zurück. Hastig springt er in seinen Wagen und fährt direkt zum Ort des Geschehens. Brand, Haus Bötzsee. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Das dreistöckige Kultur- und Tageszentrum „Haus Bötzsee“ befindet sich in der Altlandsberger Chaussee. Eingebettet von üppiger Natur, liegt es direkt am gleichnamigen Gewässer und bietet eine malerisch anmutende Kulisse. Angeblich soll die Villa von einer Familie Pannek erbaut worden sein, die später nach Berlin zog, um dort ein Ledergeschäft zu eröffnen. Jedenfalls munkelt man das. Genaueres weiß keiner aus der Gemeinde. Später nach dem Krieg, bis kurz vor dem Untergang der Deutschen Demokratischen Republik, wurde das Haus als Jugendherberge genutzt. An diese heiteren Zeiten, die rührige Herbergsleiterin, die von allen nur Marianne gerufen wurde, erinnert sich hier im Ort fast jeder. Nachdem auch diese Jugendherberge geschlossen wurde, nutzte man das Gebäude für Veranstaltungen der Ortsvereine, wie zum Beispiel der Ortsgruppe der Volkssolidarität. Aber leider wurden, weder zu „Ostzeiten“ noch danach, irgendwelche Instandsetzungsarbeiten an dem Haus vorgenommen. Es bröckelte gewaltig an der Vorkriegssubstanz. Umfangreiche Sanierungskosten belasteten den Geldbeutel der Gemeinde. Bürgermeister und örtliche Gremien suchten nach Lösungen. Immer wieder wurden freiwerdende Mittel für dringlichere Anschaffungen verplant. Insofern wäre es umso logischer, das Gebäude abzureißen, das Grundstück zu verkaufen und dadurch dringend benötigtes „Kleingeld“ in die Gemeindekasse zu spülen. Allerdings sprechen zwei gewichtige Gründe gegen dieses Gedankenspiel: Zum einem steht das „Haus Bötzsee“ unter Bestandsschutz. Daran lässt sich nicht rütteln, auch wenn so manches Mitglied des Gemeinderates heimlich von alternativen Verwendungen träumt. Zum anderen gäbe es einen Aufstand der Einwohner, die für ihre Sturheit bekannt sind und diesen Verkauf mit Sicherheit mit allen Mitteln verhindern würden. So gammelt und altert das Gebäude vor sich hin. Insbesondere die sanitären Anlagen im Inneren sind in einem schrecklichen Zustand. Ein Umstand, der auch dem Landrat nicht verborgen blieb. Und so begann eine für die Eggersdorfer unheilvolle Entwicklung.
Die nahe gelegene Hauptstadt, die ohnehin schon aus allen Nähten platzte, hatte ein immer größeres Problem mit der Unterbringung von Strafgefangenen. Aus diesem Grund machte der Berliner Senat dem Land Brandenburg den Vorschlag, die Sanierung von „Haus Bötzsee“ zu übernehmen, um dort sogenannte „Freigänger“ unter- zubringen. In der Folge wurde Rutter vor einem halben Jahr zum Landrat zitiert, der ihm diesen Gedanken offenbarte. „Ihr habt kein Geld, um das Haus zu unterhalten, also halte ich unseren Plan für sinnvoll. Außerdem soll es nur eine Übergangslösung sein, bis Berlin seine neue Strafanstalt fertig gestellt hat“, beschwichtigte der Landrat. Der Politiker blickte in das missmutige Gesicht des jungen Bürgermeisters. „Ich denke, Berlin ist arm, aber sexy? Aber für eine Sanierung in Brandenburg haben die Geld …?“, witzelte Rutter, mit einem ironischen, Unterton: „Ich denke, dass unsere Gemeinde nicht begeistert sein wird.“ Der Landrat winkte ab. „Zunächst ist es ja nur eine Anfrage, eine Planungsidee. Außerdem ist die Nutzung natürlich nur für „leichte“ Fälle gedacht. Steuersünder, Mietnomaden oder hartnäckige Schwarzfahrer werden hier untergebracht. Und ihre Gemeinde ist eine große Sorge los.“ „Ich habe trotzdem Bedenken, wie man das auffassen wird.“ Der „Gemeindechef“ schüttelt den Kopf. „Wie schon gesagt, im Moment ist es nicht mehr als ein Gedanke. Es nützt nichts, im Vorfeld die Pferde scheu zu machen. Informieren Sie den Gemeinderat und warten Sie ab, bis endgültig entschieden wird. Erst dann halte ich es für sinnvoll, an die Öffentlichkeit zu treten.“ In diesem Moment schwante Rutter, dass es sich mit ziemlicher Sicherheit schon um eine beschlossene Sache handelte. Mit zugeschnürter Kehle trat er die Heimfahrt an, in der Gewissheit, dass ein Beschluss des Landrates als übergeordneter Stelle für ihn bindend war. Auf sein Veto und das der Gemeinde kam es da nicht an.
Das Ganze war vor sechs Monaten passiert. Eine Woche später kam die Weisung. Die beschlossene Sache sprach sich, trotz zugesicherter Diskretion, in Windeseile herum und sorgte für die erwarteten Reaktionen im Doppeldorf. Ein anderes Gesprächsthema gab es nicht. Lauthals machten sich die „Dörfler“ Luft, diskutierten in den sogenannten „Tratsch-Zentralen“, dem Postamt, dem Nahkauf, an den Gartenzäunen und in den Gasthäusern. Zahllose Beschwerdebriefe überfluteten den Briefkasten des Rathauses, setzten Bürgermeister und Gemeinderat unter Druck. Schließlich sah man nur noch einen Ausweg und lud die Einwohner zu einem Bürgergespräch in die Giebelseehalle. Schon nach wenigen Minuten war die Lokalität dermaßen überfüllt, dass man aus Sicherheits- gründen den Einlass stoppen musste, was die Brisanz des Themas offenbarte. Natürlich steigerte das „Aussperren“ die emotionale Gemengelage umso mehr. Schon nach wenigen Minuten Diskussion endete der Dialog in wüsten Beschimpfungen. Verhärtete Fronten machten einen sachlichen Diskurs unmöglich. „Die Tanzgruppe der Volkssolidarität musste da raus, weil die sanitären Anlagen angeblich nicht in Ordnung sind, aber für Verbrecher wird alles hergerichtet!“ „Also erstens, haben wir der Tanzgruppe einen neuen Übungsraum zur Verfügung gestellt und …“ Vergeblich wollte sich der Bürgermeister Gehör verschaffen: „…zweitens wird das Haus vom Berliner Senat restauriert, die sind ja schon kräftig dabei und drittens ist es ja nur eine Übergangslösung, zirka für zwei Jahre.“ „Egal wie lange. Berlin soll seinen Dreck behalten, wir brauchen hier keine Verbrecher. Denkt hier mal jemand an unsere Kinder? Nicht weit davon entfernt ist die Badestelle. Willkommen am Kalten Buffet, werte Kinderschänder! Bitte bedient Euch!“, wurde Rutter rüde unterbrochen. „Das ist Nonsens! Das Land hat zugesichert, dass hier nur sogenannte Freigänger untergebracht werden.“ „Das Land hat zugesichert …“ Keine Seite drang mehr mit seinen Argumenten durch. Nach zwei Stunden ergebnisloser Debatte erklärte der Gemeinderat die Sitzung für beendet. Ein deutlich gezeichneter Bürgermeister trat die Heimfahrt an. Da halfen auch die tröstenden Worte seiner Frau nicht. Kopfschüttelnd antwortete er: „Weißt du, bevor ich mich zur Wahl stellte, habe ich mir geschworen, immer für meine Gemeinde einzutreten. Und jetzt? Jetzt stehe ich mit gebundenen Händen da! Und das Schlimmste ist, dass ich die Bedenken sogar verstehen kann.“
Die Versammlung endete gegen zweiundzwanzig Uhr. Zwei Stunden später erschallte der Pieper. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…
Als Rutter am Brandort eintrifft, wird die Nacht von etlichen rotierenden Blaulichtern erhellt. Einsatzwagen der Freiwilligen Feuerwehren aus Petershagen, Eggersdorf und sogar aus Strausberg sind auf die Altlandsberger Chaussee gefahren, was nicht unüblich ist, da bei Bränden immer alle nahegelegenen Wehren informiert werden. Allerdings ist man gerade damit beschäftigt, die Ausrüstungsgegenstände wieder zusammenzupacken. „Und …?“, erkundigt sich der Bürgermeister bei dem auf ihn zukommenden, mit der Hand abwinkenden Truppführer: „Vergiss es. Alles schon vorbei. Am Haus stand ein Papiercontainer, der gebrannt hat. Glücklicherweise hat ein PKW-Fahrer den hellen Schein von der Straße aus gesehen und hat angerufen, gerade rechtzeitig, bevor die Flammen auf das Gebäude überschlagen konnten. Wahrscheinlich ein Dummejungen- streich. Aber das soll die Kripo klären.“ „Dummejungen- streich? Um diese Uhrzeit?“, spricht Rutter, mehr für sich selbst als zu seinem Gegenüber. Dann fällt sein Blick auf Natalie: „Und was macht der kleine Terrorzwerg um diese Uhrzeit hier …?“ „Mensch Marco, es fehlen doch nur ein paar Monate. Und ich habe sie auch nur für die Straßenabsperrung eingesetzt. Sie hat doch so gebettelt!“ Mit einem gutmütigen Grinsen im Gesicht kommt die Antwort: „Egal. Jugendschutz ist Jugendschutz! Lasst euch nicht erwischen!“
Schwendt, Tirol, Österreich, Sonntag, den 09.02.2020
Schon jetzt um diese Uhrzeit dominieren die Strahlen der Wintersonne die bergige Landschaft, bringen die Schneekristalle zum Funkeln. Es ist beeindruckend, wie der wärmende Fixstern allmählich hinter den am Horizont liegenden letzten Ausläufern des „Zahmen Kaisers“ emporsteigt. Ein malerisches Schauspiel, denkt sich Koch, der es sich auf dem kleinen Balkon gemütlich gemacht hat. Sehnsuchtsvoll gleiten seine Augen über die weiße Pracht, über die vereinzelten Häuser, deren Dächer meterhoch mit Schnee bedeckt sind, wobei es eigentlich verwunderlich ist, dass die Masse sie nicht zum Einstürzen bringt. Der Anwalt schaut hinunter auf die Fernverkehrsstraße, die von Kössen nach Innsbruck führt. Allen Niederschlägen trotzend hebt sich die schwarze Asphaltschicht vom Rest der Landschaft ab, und zwar so deutlich, als hätte die Flockenpracht am kleinen Bürgersteig innegehalten, nach links und rechts geschaut, die Straße überquert, um sich dann gegenüber erneut auszubreiten. Immer wieder ziehen die Räumfahrzeuge ihre Runden, schieben und türmen das Weiß an den Rand. Man stelle sich mal diese Schneefälle in Deutschland, speziell in der märkisch - oderländischen Umgebung vor! Nicht auszudenken! Wo doch schon ein paar einzelne Flocken Panik auslösen. Man beteuert sich gegenseitig, für den Winter gewappnet zu sein. Glück für uns Deutsche, dass ein solches Wetter in unserer Region nur sehr selten vorkommt. Übung macht den Meister - würden die Einheimischen der 823-Seelen-Gemeinde Schwendt einwenden, die 702 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Falk Koch schaut wiederholt hinüber zu den majestätischen Felsen. Hoch oben auf dem Gebirgsplateau, mit bloßem Auge fast nicht erkennbar, ist eine kleine Berghütte. Der Anwalt lässt seiner Fantasie freien Lauf. Er stellt sich vor, jetzt mit Alisha dort oben zu sein, abgeschieden vom Rest der Welt. Eingeschneit, ringsum eine Wand aufgetürmten Schnees. Das Feuer im Kamin lodert. In Gedanken fährt er sacht durch ihre Haare, küsst sie.
Die Wirklichkeit ist ernüchternd. Heute ist Sonntag, der letzte Urlaubstag. Damit steht fest, morgen geht es zurück in die Realität. Koch dreht sich um, geht ins Zimmer und schließt die Balkontür. Die „Kleine Bauernstube“ ist, wie er findet, rustikal und eher spartanisch eingerichtet. Das aus Eschenholz gefertigte Doppelbett, die Kommode, der Schrank und die langen gelben Fenstervorhänge vermitteln ein Gefühl von Geborgenheit. Wieder ertappt sich der Anwalt dabei, in seine Fantasiewelt der Berghütte zu entfliehen. Ja, und da liegt sie nun, seine Alisha, tief und fest schlafend. Er setzt sich zu ihr auf die Bettkannte und hält ihre weiche, warme Hand. Gähnend schlägt sie die Augen auf: „Guten Morgen, Maus.“ Sie lächelt: „Hey, du bist ja schon angezogen. Bist du schon lange wach? Ich habe nichts mitbekommen.“ „Kein Wunder, du hast ja auch lauthals geschnarcht“, grinst er sie an. „Wirklich? Oh mein Gott.“ „Nein, war nur Quatsch. Konnte einfach nicht mehr schlafen. Wie sieht es mit Frühstück aus?“ „Wie spät ist es denn?“ „Acht.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Und da behauptest du immer, ich sei der Langschläfer.“ „Hey, wir haben Urlaub, auch wenn es der letzte Tag ist.“
„Urlaub ist da, wo man sich zuhause fühlt“ - das steht auf dem kleinen Holzschild an der Rezeption. Und dieses Motto lebt man im „Schwendter Wirt“, jenem Hotel, das bereits seit Generationen von der Familie Schwaiger betrieben wird. Dementsprechend wird jeder Gast konsequent mit „Du“ angesprochen, was von vornherein ein „Dazugehörigkeits- gefühl“ erzeugt. Die nette, zuvorkommende Art, die der Gast als authentisch empfindet, die Sauberkeit, auf der man in diesem Haus ganz besonderen Wert legt, sowie die gastronomische Kompetenz führen dazu, dass die Mundpropaganda funktioniert. Familie Schwaiger braucht sich über Gästemangel wahrlich nicht zu beklagen. Das gilt insbesondere zu den Saisonzeiten, die mit Schneegarantie ihre Besucher lockt.
Bevor Yassa Yücksel, Alishas Vater, nach Deutschland umsiedelte, hatte er als begeisterter Wintersportfan hier mehrmals Urlaub gemacht. Das war nun auch schon Jahrzehnte her. Später reichte das Geld nicht mehr, und nachdem er sein Bistro eröffnet hatte, auch nicht die Zeit. Obendrein hatte sich Yassa wegen der Ausrichtung der Hochzeit seiner Tochter enorm verschuldet. Aber als Brautvater nahm er das hin. Schließlich gehörte sich das nach türkischem Brauch. Schließlich liebte er ja sein „kleines Mädchen“ über alles, würde ihr jeden Wunsch erfüllen. Ein glückliches Händchen und ein willkommener Zufall kamen ihm zu Hilfe. Yassa, der im Allgemeinen sparsam lebte, keinen Alkohol trank, nicht rauchte und Glücksspielen eher ablehnend gegenüberstand, hatte ein Los gekauft. Und das gewann! Es war zwar nicht der Hauptgewinn, es handelte sich dennoch um eine ansehnliche Summe, mit der er seine Schulden tilgte, das Bistro umgestaltete und ein kleines Grundstück am Bötzsee kaufte. Auch für Falk und Alisha blieb etwas übrig, und er buchte kurzerhand diese Winterreise für die beiden. Nicht ohne Hintergedanken. Es gab für ihn keinen größeren Wunsch als ein Enkelkind. Vielleicht funktionierte es ja, wenn die beiden endlich zur Ruhe kommen. Langsam läuft die biologische Uhr ab …
Nun saßen die beiden biologischen Endzeitlinge an dem großen runden Tisch des Frühstücksraums. „Wusstest du eigentlich, dass hier, genau an diesem Tisch, 1945 die Kapitulation Kitzbühls unterzeichnet wurde?“, fragt sie. Ihr herzhafter Biss in ihr Brötchen entlockt ihm ein Lächeln. „Von wem haste das denn?“ Alisha deutet mit dem Finger auf ihren vollen Mund, schluckt fast würgend den letzten Bissen herunter: „Von Baba. Hat der mir erzählt, bevor wir abgefahren sind.“ Schmunzelnd entgegnet Falk: „Seit wann interessiert sich Yassa für Geschichte?“ „Täusch Dich mal nicht, Baba interessiert sich für fast alles.“ „Krieg ist jedenfalls scheiße“, sinniert Koch, in Anspielung auf das Kriegerdenkmal hinter der Kirche, das aus einer übermannshohen ans Kreuz geschlagenen Jesusfigur besteht. Auf beiden Seiten sind die Namen gefallener Soldaten aus dem Ort eingraviert. Links die Opfer von 1914 bis 1918 und gegenüber die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. Alles junge Männer, die im Friedensfalle ihr Leben noch vor sich gehabt hätten, Familien gegründet und vielleicht ihr Glück gefunden hätten. Gleich neunmal taucht der Name Schwaiger auf, der Name der Familie, die dieses Hotel betreibt. Neun junge Männer gefallen für Kaiser, Führer und Vaterland.
„Pling“ - Alishas Handy meldet sich. „Baba hat geschrieben. Gestern Nacht hat es am Haus Bötzsee gebrannt. Soll ein ganz schöner Auflauf gewesen sein.“ „Ihm ist aber nichts passiert?“ „Nein, sein Grundstück ist zu weit entfernt. Aber…“, Alisha macht eine Gedankenpause: „…bei den Gerüchten, die man so hörte, wundern würde es mich nicht.“ „Meinst du, jemand hat gezündelt?“ „Fest steht, dass viele den Nutzungsplan ablehnen. Hat auch Baba geschrieben. Der war gestern Abend noch auf so einer Versammlung. Soll ganz schön turbulent gewesen sein.“ Falk senkt seinen Kopf: „Wenn es sich wirklich um vorsätzliche Brandstiftung gehandelt hat, ist das alles andere als ein Kavaliersdelikt.“ „Sagt der Anwalt!“, fügt sie kichernd hinzu. „Außerdem sind die Schreihälse am Ende ganz schweigsam und demütig. Ich erlebe es immer wieder vor Gericht. Egal, ob angeklagt oder Kläger, am Prozesstag sind sie sooo klein mit Hut und verstecken sich hinter dem Rücken ihrer Anwälte. Aber davor, sooo eine Schnauze!“ „Hey, wir hatten vereinbart, nicht von Arbeit zu sprechen.“ Koch lacht: „Mach ich doch gar nicht, ist doch nur so dahingesagt. Übrigens, vorhin, als du noch schliefst, hab ich mir vorgestellt, wie romantisch es wäre, nur mit dir allein, hoch oben auf einem Berg, zu leben, abgeschieden von allen Schreihälsen.“ „Nur mit mir?“, spöttelt sie: „Das würdest du doch nicht lange aushalten, so gern wie du nach anderen Frauen schaust ...“ Falk Koch liebte seine Frau über alles und gewiss verfügte jeder Mensch über seine individuellen Fehler, er schloss sich davon selbst nicht aus, aber Alishas Eifersucht kannte anscheinend keine Grenzen. Obwohl er ihr keinerlei Gründe dafür gab. Manchmal genügte schon ein Blick auf andere Frauen, dass sie das Gesicht verzog. Noch schlimmer war es, wenn gutaussehende Klientinnen die Kanzlei betraten. Zum einen belustigte ihn ihr Verhalten, ja fühlte er sich sogar in seiner Männlichkeit bestärkt. Aber es nervte auch, worauf er sich jedes Mal den Spaß machte, sie mit entsprechenden Bemerkungen aufzuziehen. Grinsend antwortet er: „Du hast recht! Das blonde Zimmermädchen müsste schon mit dabei sein!“ Genussvoll beobachtet er, wie sie die Lippen zusammenkneift.