Читать книгу Der Junge aus der Vorstadt III - Mario Worm - Страница 8
Prolog
ОглавлениеSonnabend, den 10. September 1988
Wernsdorf -- 100 Meter vor der Bezirksgrenze zum Bezirk Frankfurt/Oder.
Sie haben den S-Bahnhof Berlin-Grünau seitlich hinter sich gelassen und fahren, entlang der Feuerwache, in Richtung Berlin-Schmöckwitz ihrem Ziel entgegen. Karl drückt seinen Fuß auf das Gaspedal. Die Beschleunigung ist derart stark, dass der Motor des Wagens vehement aufheult, der Innenraum vibriert, und der volksmündliche Begriff „Rennpappe“ körperlich zu fühlen ist. Es scheint, als wollen die Insassen mit aller Macht dem hektischen Großstadtalltag entfliehen, mit Düsenantrieb in das wohlverdiente Wochenende auf der kleinen Datscha am Krossinsee starten. Doch ist die Vorfreude nicht der eigentliche Grund für Karls Hektik. Er ist schlicht und einfach sauer, versucht seine Aufgeregtheit mit Aktionismus zu überspielen. Folgerichtig kommt dann auch die Ermahnung Ruths, die mit einem vollen, fast schon überquellenden Einkaufskorb zwischen den Beinen auf dem Beifahrersitz ihre Füße derart in den Boden drückt, als wolle sie unbedingt an dieser Stelle das Bodenblech durchstoßen. „Rase doch nicht so!“, geht sie ihn an. „Ich rase nicht! Ich schlafe aber auch nicht ein“, kommt es genervt zurück. Er schaut in den Rückspiegel. Sein Blick richtet sich auf den Jungen, der, eingeklemmt zwischen den unverzichtbaren Wochenendutensilien, schweigend aus dem Fenster starrt. Wenn diese kleine Missgeburt nicht wäre, hätten wir gestern schon fahren können, würden jetzt bereits faul in der Sonne liegen oder mit dem Boot auf dem Wasser treiben, denkt Karl. Ja, wenn…
Die „Missgeburt“ hörte auf den Namen Ulf. Mit seinen fünfzehn Jahren und der Körpergröße von gerade mal einem Meter fünfundsechzig war er zu klein geraten und hatte obendrein auch noch rote Haare. Ein Attribut, das er von seinem leiblichen Vater geerbt hatte, der aber schon kurz nach der Geburt seines Sohnes das Weite gesucht hatte. Der hatte schon gewusst, warum! Karl Scheuer selbst war Anfang vierzig, groß und von kräftiger Statur. Wenn er seinen Oberkörper entblößte und mit seinen Oberarm- muskeln spielte, hätte er durchaus als Leistungssportler durchgehen können. Tatsächlich resultierte seine Kraft aus seinem Job bei der Müllabfuhr. Das ständige Bewegen der Tonnen forderte zwar seinen arbeitstäglichen Tribut, war aber anderseits auch eine Art Training. Eine harte Arbeit, die dafür jedoch außergewöhnlich gut bezahlt wurde. Als Zubrot entwickelte sich ein florierender Handel mit allerlei Gegenständen, die das Müll Team von den früheren Besitzern zur Entsorgung bekam. Somit war es auch nicht verwunderlich, dass sich Scheuer ein gehobenes „DDR-Leben“ leisten konnte. Zu den Annehmlichkeiten zählten unter anderem ein gepachtetes Wassergrundstück, ein Auto und ein größeres Motorkajütboot. Das einzige, was Karl fehlte, war eine Familie, mit der er seine „Errungenschaften“ hätte teilen können. Es hatte da mal eine große Liebe gegeben, aber das war sehr lange her und auch wohl nicht das Richtige gewesen. So blieb er das, was er war - ein eigentlich begehrenswerter Junggeselle, der Partys mied, dafür die Ruhe auf dem Krossinsee umso mehr schätzte. Sein Leben hatte sich geändert, als zwei Jahre zuvor die dreiunddreißigjährige Ruth Blossow als Disponentin in seinem Betrieb angefangen und ihm, dem Brigadier der Fahrer, die Tourenpläne ausgehändigt hatte. Eine Schönheit, mit schulterlangen blonden Haaren, die sein Lächeln charmant erwiderte und über seine witzige Art zu lachen vermochte. Schließlich, nach vielen vergeblichen Versuchen der Annäherung, hatte sie eingewilligt, ihn auf seinen Wochenendfahrten zu begleiten. Bereits im Vorfeld hatte er in Erfahrung gebracht, dass sie geschieden und alleinerziehend war. Nun hätte Karl ja nichts gegen einen Sohn einzuwenden gehabt, ganz im Gegenteil. Angelausflüge „unter Männern“ sind ja was Großartiges. Aber der? Nicht unbedingt das Aussehen dieses Halbwüchsigen störte, sondern dessen wundersames Wesen. 'Das ist kein heranwachsender Mann, noch nicht mal ein richtiger Junge', dachte er. 'Dieses Etwas ist einfach nur peinlich. Eine Lusche, schwächlich, spielt in seinem Alter noch mit einem Teddy und verfügt über den Intelligenzquotienten eines Sechsjährigen. Kein Wunder, dass Gleichaltrige ihn ausgrenzen, er in der Schule gehänselt wird.'
Das Direktorium der Polytechnischen Oberschule hatte bereits den Vorschlag unterbreitet, ihn auf eine spezielle Schule für Lernschwache zu schicken. Doch Ruth hatte abgelehnt. Ihre Begründung war, dass sie nichts von einer „Blödenschule“ hielt. Der Junge würde dann noch mehr geistig abfallen. In Wirklichkeit war es ihr aber offensichtlich peinlich, zugeben zu müssen, dass Ulf eine Sonderschule besuchen würde. Ulf, Ulfi, was ist das schon allein für ein bescheuerter Name? Ulfi! Kein Wunder, dass man sich auf dem Schulhof jeglichen Spaß mit ihm macht. Mit einem, der seine Schultasche, statt wie seine Klassenkameraden in der Hand, immer noch auf den Rücken schnallt, kann man es ja machen... Er sieht ja aus wie ein Erstklässler!
Für Karl gibt es keine andere Erklärung. Der Junge ist gestört, auch wenn Ruth das teilweise anders sieht. Bestes Beispiel für diese Annahme ist ein Vorfall, der gerade mal zwei Stunden zurückliegt. Eigentlich hat Karl das Wochenende perfekt durchgeplant, ist, während Ruth noch die Sachen zusammengepackt hat, runter in den Intershop gegangen, um seine heißbegehrten Forumschecks gegen eine Flasche feinsten Dujardin einzutauschen. Was kann es Schöneres geben, als bei einem schönen Weinbrand Arm in Arm mit Ruth am Ufer des Sees zu sitzen und den Sternenhimmel zu betrachten? Vorher ist nur noch das Kind von der Schule abzuholen. Und dann raus, ab in die Natur. Gott sei Dank geht der Unterricht sonnabends nur bis halb zwölf. Karl rechnet. Wenn das Gör pünktlich rauskommt, kann man noch vor dem Kreuzen der Zeiger losfahren, und mit einer Portion Glück, bei wenig Verkehr, eine gute Stunde später auf dem Grundstück sein.
Voller Tatendrang steuert er sein Fahrzeug in die Bergstraße. Noch bevor er die Eingangstür der 9. Polytechnischen Oberschule erreicht, sieht er eine Ansammlung von Schülern, die etwas abseits lärmend im Kreis stehen. Karl schwant Böses und er täuscht sich nicht. Ein Mitschüler hat den Henkel von Ulfs Mappe in der Hand und schleudert so sein Opfer im Kreis herum, während die anderen dem Rotschopf ihr „Feuermelder, Feuermelder…“ entgegen kreischen. Wütend springt Karl aus dem Wagen: „Hey! Sagt mal, spinnt ihr …?“ Seine energische, tiefe Stimme treibt die Meute auseinander. In der Mitte bleibt ein kleiner, sichtlich wankender Junge zurück, der mit zerzausten roten Haaren und verheultem Gesicht in Karls Richtung blickt. Wütend schnappt dieser nach Luft, dann herrscht er den Kleinen an: „Du bist doch selbst schuld. Warum wehrst du dich nicht?“ „Aber …, aber …, die sind doch stärker“, schluchzt das Kind. „Papperlapapp. So ein Blödsinn!“ Er packt den Jungen an der Schulter und schiebt ihn unsanft in Richtung Auto: „Los, steig endlich ein!“
Nun sitzt dieser Schwächling im Fond, träumt aus dem Fenster und hält seinen Stoffteddy im Arm. Mit fünfzehn! Fehlt nur noch, dass er am Daumen lutscht! Oder macht er das heimlich sogar …?
Karl schaut kurz hinüber zu seiner Beifahrerin, die ebenfalls teilnahmslos aus dem Fenster starrt. Na sauber! Nun ist sie auch noch eingeschnappt. Kann ja ein tolles Wochenende werden! Er drosselt sein Tempo, biegt im Zentrum von Berlin-Schmöckwitz nach links ab, passiert die große Brücke über die Dahme, die einen Blick auf die Badeanstalt und die Anlegestelle für die „Weiße Flotte“ ermöglicht. Nun sind es nur noch ein paar Minuten. Karl gibt erneut Gas, jagt den Trabi über die Landstraße, die links und rechts von dichtem Wald umsäumt ist. Sein Weg führt ins brandenburgische Wernsdorf. Kurz hinter der Einfahrt zum „Intercamping Krossinsee“ biegt er in die kleine sandige Straße, die als Sackgasse direkt an der Badestelle endet. Rechter Hand der noch lichte Wald, mit den hochragenden Kiefern, und links die umzäunten Privatgrundstücke. Vor der Einfahrt mit der Nummer 46 bringt er seine „Pappe“ zum Stehen. Das 50 Hektar umfassende Grundstück gehört dem alten Gänicke, der dieses Land in kleinere Parzellen aufgeteilt und vermietet hat, um davon seine schmale Rente aufzubessern. Verschiedene Gerüchte ranken sich um den Grundstückserwerb der Gänicke-Familie, die Karl und die anderen Pächter aber nicht wirklich interessieren. Es ist ein idyllischer Fleck. Man passiert erst ein Stück Forst, dann geht es weiter den Hauptweg hinunter, der von Sträuchern und Brennnesseln eingerahmt ist. Schließlich erreicht man den Zugang zum Kanal mit den drei Bootsstegen und der Angelstelle, die von zwei mächtigen Birken überkrönt, wird. Wen interessiert letztlich, ob der Alte mal für die Stasi gearbeitet hat? Oder ob er ein reicher Erbe ist oder gar dunkle Machenschaften sein Eigentum begründen? Karl jedenfalls nicht. Solange man pünktlich seine recht üppige Pacht bezahlt, lässt der alte Gänicke einen in Ruhe. So kann jeder auf seiner Parzelle treiben, was er will und abgeschottet entspannen.
Mit glänzenden Augen steigt Ruth aus, öffnet das Flügeltor, so dass Karl das Fahrzeug auf das Gelände fahren kann. Doch es steht wie immer das gleiche Problem an. Um auf die Parzelle zu gelangen, muss man an Gänickeschen Hühnern vorbei, die sich frei auf dem Areal bewegen. Unser „Superkind“ hat panische Angst vor dem Federvieh, denkt er. Die scheinen die Situation mal wieder richtig erkannt zu haben … zielstrebig jagt das Geflügelgeschwader unter munterem Gegackere den Weg hinunter. Dieser Schlappschwanz! Angst vor Hühnern! Doch heute ist das Glück ausnahmsweise mal auf der Seite des Fünfzehnjährigen. Aus einem nicht nachvollziehbaren Motiv hat die gefiederte Bande auf ihre Treibjagd verzichtet. Vielleicht, weil Karl und die Mutter in der Nähe sind …?
Die Parzelle war bewusst klein gehalten, was durchaus nachvollziehbar war. Je kleiner die Einheiten, umso mehr passten auf Gänickes Anwesen, umso größer dessen Pachteinnahmen! Dicht an dicht drängten sich die Sehnsuchtsorte der Erholungssuchenden, nur abgetrennt durch einen Mini-Zaun, dessen Höhe man spontan überwinden konnte, wenn man nur sein rechtes Bein ein wenig sportlich nach hinten anwinkelte. Der Holzbungalow bestand aus drei Zimmern. Der angrenzende „Pseudogarten“ gestattete im besten Fall das Aufstellen einer Hollywoodschaukel, eines Tisches mit vier Stühlen und eines Holzkohlegrills. Natürlich war auch der Schnitt des Hauses dementsprechend. Gleich rechts vom Eingang war die Wohnküche. Hier konnte man, wenn das spärliche Inventar und die räumliche Enge ausgeblendet waren, auch bei schlechtem Wetter einen Nachmittag verbringen. Über den schmalen Flur gelangte man dann zu den restlichen zwei Zimmern, die als Schlafstuben für die Eltern und den Jungen fungierten. Trotz der offenkundigen Schlichtheit waren alle Parzellen belegt. Grundstücke in absoluter Wassernähe. Das machte Eindruck.
Ulf wirft seine Schulmappe auf das Bett. Jetzt gilt es, sich schnellstens der Obhut der Mutter und des ungeliebten Stiefvaters zu entziehen. Er weiß genau, wie die nächsten Minuten jetzt ablaufen werden. Zuerst werden sie das mitgebrachte Gepäck verstauen, welches dem Umfang eines vierzehntägigen Urlaubs gleicht und von dem die meisten Utensilien ungenutzt wieder mit zurückgenommen werden. Dann steht der „gemütliche Teil“ bevor, der darin besteht, dass sie sich ungeniert vor ihm liebkosen. Nein, das muss er sich nicht geben. „Ich gehe raus spielen.“ „Halt! Du musst doch erst was essen“, schallt die Stimme der Mutter zurück. „Hab keinen Hunger.“ „Lass ihn doch gehen!“, fordert Karl und schickt sich an, seine Lebensgefährtin in die Arme zu nehmen. „Also gut“, gibt Ruth nach. „Bevor es dunkel wird, bist du wieder da! Denk dran, Papa und ich wollen heute Abend tanzen gehen! Und geh mir nicht runter ans Wasser!“ „Ist gut“, antwortet Ulf und verlässt schnellstens die Hütte. Von wegen Papa. Dieser Mann ist nicht mein Vater und wird es auch nicht werden! Und überhaupt, warum sollte ich runter zum Wasser gehen? An den schon teilweise ziemlich morschen Holzstegen, die etwas in den Kanal hineinragten, gibt es ja noch nicht einmal eine richtige Badestelle. Da standen nur die Großen und brachten ihre Boote zu Wasser oder fuchtelten bedeutsam mit ihren Angelruten. Ulf hasst Angeln. Zum ersten ekelt er sich, einen Regenwurm anzufassen, geschweige denn selbigen auf den Haken zu spießen. Zum zweiten tun ihm die kleinen Fische leid, die man im Todeskampf zappelnd und verzweifelt nach Luft schnappend aus dem Wasser zieht. Nein, das war so ganz und gar nicht sein Ding, weshalb er sich auch immer wieder das Gespött des Stiefvaters zuzieht. Jetzt kann vielmehr die gewohnte „Wochenendlangeweile“ beginnen. Eine verbliebene Option ist der Wald. Ulf liebt es, tief hinein zu laufen. An diesen Stellen, an denen kaum ein Mensch anzutreffen ist, kann er seinen Fantasien freien Lauf lassen. Hier ist er Tarzan, der sich von Kieferast zu Kieferast schwingt, oder ein Sheriff aus dem wilden Westen, der einem Schurken nachstellt. Egal, in welche Rolle er schlüpft, er ist der Gute und der Starke, der Beherrscher der Welt! Nur, um in den Wald zu gelangen, muss der „Supermann“ an den Hühnern vorbei! Vorsichtig nähert er sich dem Federvieh, als ihn plötzlich jemand von hinten anstupst. „Hey Ulfi! Spielst du mit mir?“ Ruckartig, noch immer auf einen eventuellen Hühnerangriff konzentriert, dreht er sich um und blickt in das stupsnasige Gesicht der kleinen Susanna Mistroi. Der sechsjährige blonde Wuschelkopf mit seinen schalkhaft wirkenden blauen Augen sieht ihn fragend an: „Wir können ja raus zum Spielplatz gehen und zusammen mit Lotta Vater-Mutter-Kind spielen?“ Stolz hält sie ihm ihre neue Puppe entgegen. Er zögert mit der Antwort. Susanna ist wenigstens etwas Medizin gegen die hiesige Trostlosigkeit, aber die Hühner … Doch das aufgeweckte kleine Mädchen kennt kein Pardon. Ohne eine Antwort abzuwarten, ergreift sie seine linke Hand und zieht ihn förmlich durch das Hühnerminenfeld: „Nun komm schon!“
Der spartanische Waldspielplatz, der aus einer Schaukel, die zwischen zwei Baumstämmen befestigt ist, besteht, wartet ansonsten nur noch mit einem kleinen Sandkasten, drei Kletterstangen und einer grünen Holzbank auf. Diese Ausstattung verdanken die Wochenendurlauber der Arbeit, die im Zuge eines „sozialistischen Subbotniks“ angeordnet wurde. Er befindet sich gleich gegenüber Gänickes Grundstück. Dort wo der Waldrand noch am lichtesten ist, stehen die hochgewachsenen, von brauner, blätternder und harzverschmierter Rinde ummantelnden Baumstämme. Erst durch einen Blick in die Kronen kann man deuten, dass es sich um Kiefern handelt. Diese bewegen sich leicht knarrend im lauen Sommerwind. Im Moment ist das „Kinderareal“ dicht bevölkert von fünf Jugendlichen, die sich rauchend auf dem Klettergerüst und der Schaukel breitgemacht haben. Drei laut lachende Jungs überbieten sich in ihrem Imponiergehabe. Ziel ist es, die zwei leicht verschämten Mädchen gegenüber auf der Bank zu beeindrucken. Ulf verspürt keinerlei Lust, sich zu den augenscheinlich Gleichaltrigen zu gesellen. Warum sollte er sich freiwillig blöden Bemerkungen aussetzen? „Komm, lass uns etwas weiter gehen!“, raunt er Susanna zu. „Meine Mutti hat mir aber verboten, tiefer in den Wald zu gehen.“ „Wir müssen ja nicht richtig tief in den Wald gehen.“ Er deutet mit dem Zeigefinger auf die Schonung, die etwa fünfhundert Meter weit entfernt liegt. „Lass uns bis dahinten laufen. Vielleicht sehen wir dort sogar ein Reh. Ich hab da schon öfters Rehe gesehen.“ Susanna ringt mit sich selbst. Natürlich möchte sie gerne ein Reh beobachten, doch auf der anderen Seite ist die Stelle doch recht weit weg: „Da habe ich aber Angst.“ Urplötzlich ist sie wieder da, Ulfs Fantasie. Gegenüber der Kleinen ist er jetzt der Große, der unschlagbare Held. „Du brauchst doch keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir. Wir wollen doch Vater-Mutter-Kind spielen. Und der Vater beschützt natürlich seine Familie!“ Susanna nickt zustimmend, dann folgt sie ihm. Sie sind knapp einen Meter von der Schonung entfernt, als sie ein Rascheln vernehmen. „Psst, vielleicht ein Reh?“ Aufgeregt schiebt sie die ersten Bäumchen zur Seite, betritt das Gestrüpp, doch nichts ist zu sehen. „Sicherlich nur ein Häschen“, stellt sie fest. Ihre anfängliche Angst weicht ihrem Tatendrang. „Lass uns etwas tiefer rein gehen! Vielleicht hat es sich ja dort versteckt.“ Immer weiter geht ihr Streifzug. Bis Susanna keine Lust mehr hat. „Komm lass uns jetzt spielen! Lotta muss ihren Mittagsschlaf machen. Wir müssen uns ein Haus mit einem Bett bauen!“ Ulf reißt ein paar Zweige ab, legt sie nebeneinander auf den Boden. Das Mädchen bettet ihre Puppe darauf. „So, unser Baby schläft. Was machen wir nun?“ Hilflos zuckt er mit den Schultern: „Ich weiß nicht. Wir können ja das tun, was meine Mutter und ihr Freund immer tun.“ Ohne eine Antwort der Kleinen abzuwarten, nimmt er sie in die Arme, streichelt über ihr Gesicht und versucht sie zu küssen. „Halt still!“
Es ist dunkel geworden, der Vollmond zeigt sich in seiner Ausgehmontur. Wie spät mag es sein? Ein unbestimmtes Angstgefühl wächst in ihm, sein Herz rast. Er ist allein, wieder einmal. Vom wiederholten Rufen wird seine Stimme heiser. Doch sie bleibt verschwunden. Oder ist sie hier ganz in der Nähe, noch irgendwo in dem Dickicht? Wo mag sie sein? Vielleicht geht es ihr genauso wie ihm, vielleicht sucht auch sie nach ihm …? Das hat sie nun davon. Sie haben doch so schön gespielt. Dann ist sie weggelaufen. Einfach so. Tannenzweige schlagen ihm ins Gesicht. Kratzspuren bilden sich auf seiner schweißnassen Haut, die von den Bäumen stammen, die sich ihm in den Weg zu stellen scheinen. Stundenlang hat er das Waldgebiet abgesucht, ist bis zur Chaussee gerannt, die beide Waldhälften voneinander trennt. Immer wieder hat er ihren Namen gerufen. Sein Körper bemerkt den Schmerz nicht. Wo ist sie nur? Er hat nur einen Wunsch: Sie schnell finden! Er ruft wieder ihren Namen, doch sie antwortet nicht. Da - hat er nicht ein Knacken gehört …? Ruckartig dreht er seinen Kopf in die Richtung des Geräusches. Versteckt sie sich vor ihm, ist das ihre Endversion des Spiels? Enttäuscht stellt er fest, dass es nur das Knistern der Tannen im lauen Wind des Spätsommers ist. Erst jetzt nimmt er den eigenwilligen Geruch von nassem Moos wahr. Die Mischung aus Modder und irgendwie seltsamer Frische lenkt ihn ab. Und bringt neue Gedanken ins Spiel. Er muss nach Hause! Es ist schon dunkel. Sicherlich wird es Ärger geben. Die Mutter und Karl wollen heute Abend tanzen gehen. Und was für einen Ärger es geben wird! Verdammt noch mal, wo steckt sie? „Susanna …?“ Doch die Kleine antwortet nicht. Vielleicht ist sie schon längst wieder bei ihren Eltern, hat sich nur einen Spaß mit ihm gemacht. Ulf beschließt, nicht mehr weiter zu suchen. Der schnellste Weg hin zu Karls Datsche ist immer an der Chaussee entlang. Es ist unheimlich, so ganz im Düsteren. Wenn nicht dieser Vollmond wenigstens etwas den Trampelpfad beleuchten würde, wäre die Nacht pechschwarz. Die Lichtkegel, der um diese Zeit wenigen vorbeifahrenden Autos verdrängen nur sekundenweise die Angst vor der Dunkelheit.
Dann wird die Nacht blau. Das fahle Mondlicht taucht ein in ein Wolkenbett. Rundumleuchten grünweißer Wagen mit der Aufschrift: „Volkspolizei“ werfen ein wenig beruhigendes Bild. Erschrocken bleibt Ulf mit gehörigem Respektabstand stehen. Hat die Mutter etwa die Polizei gerufen? Als er noch klein und unartig war, hat sie oft damit gedroht. Er hat dann immer den Kopf eingezogen und ihren Anweisungen bedingungslos Folge geleistet, um nicht in den „Kinderknast“ zu kommen, wo es laut der Mutter kalt und dunkel ist. Gewiss, später hat er nicht mehr so recht an ihre Ankündigungen geglaubt, aber heute? Jetzt…? Habe ich etwas Schlimmes getan? Hätte ich nicht mit Susanna spielen sollen? Ulf kommt nicht mehr dazu, seinen Gedanken zu beenden. Denn plötzlich ruft einer der Jungs, der noch vorhin auf der Schaukel saß, aufgeregt in seine Richtung deutend: „Da, da ist er! Der war es!“ Das ist der Punkt, an dem Ulf beschließt, das Weite zu suchen. Auf gar keinen Fall „Kinderknast“! Doch Weglaufen klappt nicht. Nach nur wenigen Metern hat ihn einer der durchtrainierten Volkspolzisten eingeholt, am Schlafittchen gepackt und in Richtung der Funkwagen und einer stattlichen Anzahl Schaulustiger gedreht. „Halt, Bürschchen! Erzähl uns mal, wo die kleine Susanna ist?“ Zitternd sieht Ulf dem Uniformierten, der ihn mindestens um drei Kopfgrößen überragt, ins Gesicht. Es wirkt entschlossen, ja bedrohlich. Hilflos stammelt er: „Ich, ich hab doch nur mit ihr gespielt.“ „Was habt ihr gespielt?“ „Vater-Mutter-Kind. Susanna wollte das doch!“ Der Polizist zieht leicht die Stirnfalten in die Höhe: „Und wo habt ihr das gespielt?“ Ulf deutet mit der Hand in Richtung Waldinneres: „Da!“ Weitere Erklärungen ersticken im Geschrei von Frau Mistroi, die hastig auf den Jungen losstürmt: „Wo ist meine Tochter?“ Schützend stellt sich der Volkspolizist vor das Kind, hebt warnend den rechten Arm als Geste, bitte zum Stehen zu kommen: „Halt, werte Bürgerin! So kommen wir nicht weiter. Sämtliche in der Kürze der Zeit aufzutreibenden Genossen durchkämmen gerade das Gelände. Wir werden Susanna finden. Ganz bestimmt. Bitte beruhigen Sie sich!“ Dann gibt er einem seiner Kollegen ein Handzeichen, sich um die verzweifelte Mutter zu kümmern, während er sich wieder dem Kind zuwendet: „So, nun sag mir mal, wie du heißt und wo du wohnst!“ Doch statt der erwarteten Antwort bekommt er nur ein langgezogenes Schluchzen zu hören. Tränen rinnen über das Gesicht des kleinen Kerls. Kinderknast! „Nun sag schon!“, fordert der Beamte noch einmal und stupst den Jungen an der Schulter. Keine Antwort. „Herr Polizist, ich glaube der wohnt da hinten, bei den Gänikes, ganz hinten. Ich glaube, Parzelle drei“, mischt sich der „Schaukeljunge“ erneut ein. „Stimmt das?“ Wieder bekommt der Volkspolizist keine Antwort. „Also gut, dann werden wir mal nachschauen“. Er ergreift Ulfs Schulter und schiebt ihn vor sich her.
Auch nach mehrmaligem Klopfen öffnet niemand die Verandatür. „Nun rede schon! Wo sind deine Eltern?“ „Ich, ich, ich glaube, die sind tanzen gegangen“, stottert Ulf unter Tränen. „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Hast Du einen Schlüssel?“ „Nein. Ich sollte ja vor dem Dunkelwerden wieder zurück sein.“ „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, wiederholt der Volkspolizist.
Berlin, Hauptstadt der DDR, Littenstraße, Gerichtsgebäude, Mittwoch, 01.Februar 1989.
10.30 Uhr
Der Genosse Staatsanwalt Klaus Bayer überragt sie alle. Das hat zum einen mit seinem Beruf als Staatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik zu tun. Seinen Job hat er stets als Berufung angesehen. Zum anderen übertrifft er fast jeden seiner Zeitgenossen auf Grund seiner Körpergröße. Schon allein das selbstsichere Auftreten des fast zwei Meter großen Mannes ist dementsprechend furchteinflößend. Gerade heute kommt das besonders zur Geltung, sind außer ihm nur noch wenige Personen im Sitzungssaal anwesend, was auch nicht verwundert. Verfahren gegen Jugendliche werden stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Und gerade bei dem vorliegenden Tatbestand gilt die Devise, dass man die Bevölkerung nicht mit spektakulären Verbrechen verunsichern will. Bayer belächelt diese Begründung. Für ihn ist das reinster Quatsch, er hat sich dem aber zu fügen. Er vertritt das Recht, hat dafür zu sorgen, dass die Gesetze der sozialistischen Republik durchgesetzt werden. Und das tut er, peinlichst genau nach der Gesetzeslage. Nun gibt es natürlich hin und wieder Fragen der Auslegung, unterlegt von persönlichen Gefühlen und Auffassungen, doch letztendlich gilt nur das Strafgesetzbuch der DDR. Aber auch Bayer ist ein Bürger dieses Staates, sieht, was gerade in dieser Republik passiert, nimmt das Lodern einer unsichtbaren Flamme zur Kenntnis und macht sich seine Gedanken. Derzeit flattern fast täglich Zweihundert- dreizehner auf seinen Tisch. §213 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik befasst sich mit der Thematik „Ungesetzlicher Grenzübertritt“. Über Ungarn flüchten viele Bürger in den Westen. Na ja, immer dasselbe! Aber die Verfügung zur Einleitung des Ermittlungs- verfahrens kostet Zeit. Der „Täter“ würde man sowieso nicht habhaft werden können. Und wenn dann doch, kommt es zu Prozessen, bei denen das Urteil bereits feststeht, da die „Beweisführung“ ziemlich eindeutig ist.
Die Frage, ob das menschlich richtig oder falsch ist, hat er sich nicht zu stellen, tut es aber im Stillen dennoch. Bei der heutigen Verhandlung nagen starke Zweifel in ihm. Sind alle Ermittlungsansätze ausgeschöpft, alle Spuren und Hinweise sorgsam bearbeitet worden? Der Angeklagte, ein junger Mensch, ist ja fast noch ein Kind! Ja, die Beweislage ist ziemlich klar, fußt letztlich aber auf Indizien. Allerdings, das Opfer hat man nie gefunden. Hundertschaften der Volkspolizei, unterstützt von einer ganzen Kompanie der in der Nähe stationierten Einheit der Nationalen Volksarmee, haben das Areal immer wieder Zentimeter für Zentimeter abgesucht, aber außer einer Puppe nichts gefunden. Welche Schwankungen zwischen Hoffnung und Verzweiflung müssen die jungen Eltern durchlebt haben? Trauer und Ungewissheit vermischten sich mit Ärger und Unverständnis. Der Vorfall wurde, was man ja um alles in der Welt vermeiden wollte, öffentlich bekannt. Tratsch ist menschlich und scheint unvermeidbar. Schließlich zog man ein weiteres Register. Die geheime, offiziell überhaupt nichtexistierende Kripoabteilung der Staatssicherheit übernahm den Fall. Jene speziell für heikle Fälle geschulte, mit besonders guter Technik aus dem westlichen Ausland ausgestattete Truppe, sollte ermitteln. Aber auch die „Supergenossen“ konnten keinen Erfolg vermelden, Susanna blieb verschwunden. Alles haftet an diesem unscheinbaren Jugendlichen, an dessen Kleidung die Kriminaltechnik Fasern von Susannas Jäckchen sowie Blutspuren des vermeintlichen Opfers fanden. All diese Indizien hätten vielleicht schon ausgereicht, um eine Beurteilung des Tatbestandes zu treffen. Was aber viel schlimmer wog, waren die Aussagen des jungen Beschuldigten, der sich um Kopf und Kragen redete, sich permanent selbst belastete. Immer wieder hat sich Bayer die Vernehmungsprotokolle durchgelesen und dabei oft mit dem Kopf geschüttelt, sich gefragt, ob der Junge willentlich einen verminderten Intellekt vorzutäuschen versucht. Will dieser so seine Tat vertuschen oder ist er schlichtweg geistig zurückgeblieben? Schließlich befindet er letzteres für die wahrscheinlichste Option. Bayer liest weiter in den Akten. Nach den Schilderungen gibt es eigentlich keine andere Interpretation als die, die Ulf heute auch zur Last gelegt wird. Anscheinend ist das Vater-Mutter-Kind-Spiel irgendwann ausgeufert, hat er versucht, sie zu küssen, sie zu berühren. Er habe, so die Aussage des Jungen, die Kleine gestreichelt, wie es Karl immer mit der Mutter machte. Das Mädchen bekam es mit der Angst zu tun, wehrte sich. Er hielt das weiterhin für das Spiel, umarmte sie. Die Kleine stolperte, fiel auf einen Stein und verletzte sich dabei an der Stirn. Er als Vater wollte helfen, ihr die Stirn abwischen, daher die Blutflecken auf seiner Kleidung. Aber Susanna wollte sich nicht helfen lassen, sprang auf und rannte schreiend weg. Er zögerte einen Moment, dann bekam es mit der Angst zu tun, rannte ihr hinterher, konnte sie aber nicht mehr finden. Das waren zusammengefasst die Aussagen, stückchenweise hervor- gepresst und immer unterbrochen von der Bemerkung: „Ich habe doch nur mit ihr gespielt.“ Noch schlimmer findet der Staatsanwalt die Äußerungen, die er gegenüber den Psychologen gemacht hat, bei denen es um häusliche und schulische Begebenheiten ging. Das Ergebnis: Das Kind verfügt über einen extrem unterentwickelten Intelligenz- quotienten, verglichen mit dem Gleichaltriger. Liegt hier die Ursache für die Tat? Langsam kommt dem Staatsanwalt der Gedanke, dass womöglich der Falsche auf der Anklagebank sitzt, dass hier alle Hebel des sozialistischen Zusammen- lebens versagt haben. Da war die fehlende Geborgenheit eines Elternhauses, der missmutige Stiefvater, der das Kind eher als Störung denn als Glück empfand und dessen Äußerung zur Sache in einem erschütternden Kommentar mündete: „Schließt ihn einfach nur weg! Ist besser für den Jungen“. Eine Mutter, die ausschließlich auf ein ganz anderes Leben spekulierte, in dem der Sohn keinen Platz hatte, die aus falschem Stolz die Warnungen der Pädagogen ignorierte. Sie, die als Erziehungsberechtigte diesem Prozess beiwohnen muss, tut das nur widerwillig. Teilnahmslos sitzt sie da, reagiert auf entsprechende Fragen ausweichend. Ja, sie habe Probleme mit der Erziehung ihres Sohnes. Es hatte immer schon Probleme gegeben. Nein, sie fühle sich nicht verantwortlich für die Geschehnisse. Stattdessen machte sie das Kind dafür verantwortlich, dass ihre Beziehung zu dem Kindsvater in die Brüche ging und die Beziehung zum neuen Freund täglich neu gefährdet war. Eine Mutter, die, statt Geborgenheit und Liebe zu geben, mit einer bedrohlichen Vision des „Kinderknastes“ operierte. Hinzu kam das komplette Versagen der Jugendhilfe, die anscheinend im behördlichen Tiefschlaf Anzeichen aus dem Umfeld und auch Meldungen des Direktors der Polytechnischen Oberschule ignorierte. Eigentlich leisten die Mitarbeiter der Jugendhilfe in der Regel hervorragende Arbeit, das weiß Bayer und er wertschätzt es. Er weiß von unzähligen Begebenheiten, wo die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und den Heranwachsenden vieles zum Guten wendete. Nur in diesem speziellen Fall hat man augenscheinlich versagt. Letzteres, so nimmt sich der Staatsanwalt vor, würde nicht ohne Folgen bleiben.
Selbstverständlich können die betreffenden Sachbearbeiter nicht für die angeklagte Tat zur Rechenschaft gezogen werden, aber für ihr Nichtstun sind disziplinarische Schritte möglich. Schließlich sind gerade die Kollegen der Jugendfürsorge dafür da, Missstände zu beheben und jungen Menschen den Weg zu sozialistischen Persönlichkeiten zu ebnen. Und genau das ist nicht geschehen! Bayer hat sein Plädoyer gehalten, setzt die Brille ab, die ihn noch bedrohlicher aussehen lässt, setzt sich und klappt den Aktendeckel zu. Was gesagt werden musste, ist gesagt. Den Ausführungen des Verteidigers und der Vertreterin der Jugendhilfe, die Freispruch beantragen und zudem, die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten in Frage stellen - ein Widerspruch in sich, wie er befand - schenkt er wenig Beachtung. Monoton wirkt die Stimme des Vorsitzenden bei der Urteilsverkündung, die der Beklagte nur in Bruchstücken zur Kenntnis nimmt.
„Opfer nicht gefunden… Ungeachtet dessen, wurde das Ermittlungsverfahren gegen Ulf Blossow fortgeführt und er wurde wegen Mordes – auf der Grundlage von § 112 des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik angeklagt. Auf der Grundlage der vorliegenden Ermittlungs- ergebnisse ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass Blossow die schreckliche Tat begangen hat. Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten schließt das Gericht allerdings wegen seiner Unzurechnungs- fähigkeit aus (§ 15 des Strafgesetzbuches der DDR). Dass der Angeklagte wegen dauernder krankhafter Störung der Geistestätigkeit unfähig war, sich „nach den durch die Tat berührten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entscheiden“ (wie es in § 15 Abs. 1 des Strafgesetzbuches der DDR heißt), stützt das psychiatrische Gutachten über den Angeklagten. Die Anordnung zur Erstellung dieses Gutachtens erfolgte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens. Das Gericht ordnet daher die Einweisung des Angeklagten in eine psychiatrische Einrichtung gemäß § 15 Abs. 2 Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik an.
Bayer hebt kurz den Kopf. Als man den empathiearmen Jungen in Richtung eines kleinen Saalzugangs abführt, mehren sich die Zweifel des Hünen. Was mochte in dessen Psyche jetzt vorgehen? „Kinderknast, Kinderknast!“ Kurz bevor der Justizbeamte mit ihm den Gerichtssaal verlässt, dreht sich das kleine Bündel noch mal um und ruft weinerlich: „Ich hab doch nur mit ihr gespielt!“ Dann fällt die Zugangstür ins Schloss.
Das war’s! Einen Antrag auf Revision wird es nicht geben. Wer sollte ihn stellen?
Auch in den Zeitungen wird man davon so gut wie nichts lesen. Schließlich ist man hier nicht darauf erpicht, solche Geschehnisse als Sensationsmeldung zu präsentieren. Ganz im Gegensatz zu der sogenannten „Westpresse“, die ähnliche Meldungen medial bis zum Exzess ausschlachtet. Außerdem steht der Mensch im Mittelpunkt der sozialistischen Gesellschaft! Da aber der Fall bereits wie ein Lauffeuer und unter vorgehaltener Hand sehr viel Aufsehen hervorgerufen hat, wird die ohnehin gleichgeschaltete Presse mit dürftigen, dafür aber maßgeschneiderten Informationen abgespeist. So kommt es dazu, dass nicht einmal die freitags erscheinende „Wochenpost“ berichtet. Deren letzte Seite widmet sich stets ausführlich einem aktuellen Gerichtsprozess. An diesem Tag aber berichtet man lieber über einen Bauarbeiter, der für seinen Privatbau wiederholt zahlreiche Säcke Zement von der Baustelle mitgehen ließ. Diebstahl von Volkseigentum! Abschreckend die Strafe - ein Jahr und sechs Monate.
§ 162 Abs. 1, ZIFF. 4 Strafgesetzbuch der DDR – „Bestrafung von Verbrechen zum Nachteil sozialistischen Eigentums“.
Auch die Boulevardblätter „Berliner Zeitung“ und „BZ am Abend“ verlieren keine Zeile über den Fall Ulf Blossow. Einzig allein das „Neue Deutschland“ spricht in einer Randnotiz von einer tragischen Tat eines kranken Menschen, dem jetzt durch Ärzte geholfen werden soll. Die Überschrift zu diesem sieben Zeilen kurzen Artikel: „Im Sozialismus kümmern wir uns um jeden – hier lassen wir keinen Menschen im Stich!
31 JAHRE SPÄTER