Читать книгу Carina - Verlangen des Herzens - Marion Chesney - Страница 4
Zweites Kapitel
ОглавлениеCarina Armitage las einen Roman vor, der ihr nicht gefiel, und Lady Wentwater, ihre Zuhörerin, gefiel ihr ebensowenig.
Der Salon war dunkel und muffig. Lady Wentwater war weiß und teigig und muffig. Während sie las, fragte sich Carina, was wohl aus Lady Wentwaters Neffen, Guy, geworden war. Keiner hatte ihn mehr in der Grafschaft gesehen seit der Zeit, als er in Annabelle verliebt war.
Es ging das Gerücht, daß der Vikar ihn vertrieben habe. Guy Wentwater hatte zugegeben, daß er ein Sklavenhändler war, und obwohl er sein Geld schon lange nicht mehr auf diese schändliche Art verdiente, war die Familie Armitage sehr froh, daß er es vorzog, wegzubleiben.
Dann kehrten Carinas Gedanken wieder zu der Geschichte zurück, die sie gerade las. Diese hieß Die Rache des Ludovico und war von einer anonymen Schriftstellerin verfaßt, die angeblich ihr Handwerk verstand; Carina hielt die Geschichte aber für das dümmlichste Machwerk, das sie je gelesen hatte. Jedermann wurde unentwegt entweder krebsrot oder aschfahl. Männer und Frauen wurden mit erstaunlicher Regelmäßigkeit ohnmächtig, und es kam nicht einmal ein anständiger Geist vor.
Carina warf rasch einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Dann schloß sie das Buch kurzerhand.
»Es ist schon spät, Lady Wentwater«, sagte sie. »Ich muß nach Hause gehen.«
»Dann komm morgen wieder.«
»Daphne kommt morgen«, sagte Carina; dabei schwor sie sich im stillen, ihre Schwester ordentlich an den Haaren zu reißen, falls sie es nicht tun wollte.
»Oh, Daphne. Da muß ich aber jeden Spiegel im Haus verhängen, sonst bringe ich kein Wort aus ihr heraus«, sagte Lady Wentwater mißmutig. »Sie ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, ja wirklich.«
»Sie hat allen Grund dazu«, entgegnete Carina, die, obwohl sie insgeheim Lady Wentwater zustimmte, keine Kritik an ihren Schwestern vertrug. »Sie ist noch schöner als Minerva oder Annabelle geworden.«
»Eben, und sie weiß es. Hallo, Guy! Wann bist du angekommen?«
Carina schnappte nach Luft und sprang auf. Sie drehte sich um, um das Ungeheuer von Sklavenhändler zu sehen.
Guy Wentwater stand lächelnd da und schaute sie an; er sah so gut aus, so normal und so – ja – so gewöhnlich, daß Carina all ihre Angst verlor und imstande war, mit gelassener Miene einen Knicks vor ihm zu machen.
»Gestatten Sie mir, Sie nach Hause zu begleiten, Miss … Carina. Sie sind doch Miss Carina, nicht wahr?« lächelte Guy.
Carina nickte, fügte aber hinzu, daß sie sehr wohl allein nach Hause gehen könne.
Zu ihrer Verärgerung ging er mit ihr zur Haustür.
»Wir haben Sie seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, Mr. Wentwater«, sagte Garina und hoffte, daß er sie nur bis zur Tür begleitete.
»Das ist richtig, ich bin gerade von Paris zurückgekehrt. Ich habe meinen Abschied genommen.«
»Abschied genommen? Dann waren Sie beim Militär, Sir?«
»Ja«, seufzte er mit ernster Miene. »Ich weiß, was Sie und Ihre Familie von mir halten, Miss Carina. Haben Sie je daran gedacht, welchen Ekel ich vor mir selbst empfinde? Der barbarische Handel, den ich kurze Zeit trieb, war die unbedachte Dummheit eines jungen Mannes. Ich habe in Waterloo für mein Vaterland gekämpft. Es war dies eine Möglichkeit, mir selbst zu beweisen, daß ich nicht ganz so schlimm bin.«
»Oh, erzählen Sie mir von Waterloo«, bat Carina und vergaß dabei völlig, daß sie einen Augenblick vorher gewünscht hatte, er möge sie in Frieden lassen. »Jedermann sagt, solche Dinge seien nicht für weibliche Ohren geeignet. Aber es war doch so ein wunderbarer Sieg.«
Er nahm liebenswürdig ihren Arm und ging mit ihr die Auffahrt hinunter. Sein Bericht über Ruhm und Tapferkeit und Mut und Tod faszinierte Carina, und sie hing förmlich an seinen Lippen.
Sie konnte nicht anders, sie mußte seine große, schlanke Erscheinung bewundern, seine unauffällige Eleganz und die tiefen Linien, die sich um seinen Mund eingegraben hatten, »die das Leid eingegraben hat«, wie sie es bei sich nannte.
Nur allzubald waren sie beim Pfarrhaus angelangt.
Er schien sich daran mit Schrecken zu erinnern. »Bitte verzeihen Sie mir«, sagte er leise, »wenn ich nicht weitergehe. Ich möchte keine peinliche Situation heraufbeschwören. Es ist sogar so, daß ich Ihnen dankbar wäre, wenn Sie nicht erwähnen würden, daß ich in Hopeworth bin. Es soll unser Geheimnis bleiben.«
»Ja«, stimmte Carina atemlos zu, denn er hatte sie bei der Hand genommen und hielt diese fest umklammert. »Aber wenn ich ihnen erzählen würde, wie tapfer Sie sind, wie Sie sich Mühe gegeben haben, alles wiedergutzumachen … dann, glaube ich, würden Sie die Sache anders sehen. So wie ich jetzt.«
»Ich kann es nicht riskieren, eine Freundschaft zu verlieren, die so neu und so kostbar für mich ist«, sagte er. »Andere Leute denken vielleicht nicht so großzügig wie Sie. Ich habe mich geändert, Miss Carina. Ich habe die leeren Vorlieben und Heucheleien der Jugend abgelegt. Die Freundschaften, nach denen ich mich jetzt sehne, sind geistige Freundschaften. Verstehen Sie mich?«
»O ja«, hauchte Carina.
»Dann kann ich Sie also morgen wiedersehen? Vielleicht würde es Ihnen passen, am Nachmittag mit mir einen Spaziergang zu machen?«
Carina zögerte nur einen Augenblick lang. Guy Wentwater entsprach so haargenau ihrem Phantasiebild: ein bekehrter Bösewicht, ein Mann von Welt, ein gleichgesinnter Kamerad, eine verwandte Seele. Sie war erfüllt von einer wehen, ungestümen, sie fast erstickenden Begeisterung.
»Ich warte auf dem Friedhof auf Sie«, lächelte er. »Um zwei.«
Er führte ihre Hand an seine Lippen.
»Bis morgen«, flüsterte er.
Er kehrte um und schlenderte die Straße hinunter. Carina sah ihm kurz nach und eilte dann ins Haus, in ihr Zimmer hinauf, wo sie sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett warf; sie fühlte ihren ganzen Körper pochen in einem schmerzlichen Aufruhr von Erregung und Sehnsucht. All die Einsamkeit und Langeweile ihrer Tage waren verschwunden. Hatte sie nicht immer gewußt, daß der richtige Mann kommen würde, wenn sie nur lange genug wartete? Er war Sklavenhändler gewesen, das schon. Aber das war lange her. Und er hatte alles wiedergutgemacht und für seine Schuld gebüßt.
Nichts konnte ihr Idyll stören. Papa brauchte Geld, und Guy Wentwater hatte Geld.
Sie würde Papa schon herumkriegen. Alles, was er wollte, war doch, mehr und bessere Jagdhunde züchten.
Hochwürden Charles Armitage saß im Grünen Salon in Lady Godolphins Haus am Hannover Square und sprudelte seinen Bericht über seine finanzielle Bedrängnis und die Notwendigkeit, eine Hochzeit zwischen Carina und Lord Harry Desire zu arrangieren, heraus.
»Ja, ja«, begütigte Ihre Ladyschaft, als er geendet hatte. »Es ist aber nicht nötig, historisch zu werden. Ich sehe den Sinn einer arrangierten Heirat durchaus ein. Wir brauchen alle Geld«, fügte sie ernsthaft hinzu, falls der Vikar etwa vorhaben sollte, sie darum zu bitten.
»Sie sind also dazu bereit?« fragte der Vikar, nachdem er sich darüber klargeworden war, daß Lady Godolphin nicht historisch, sondern hysterisch meinte. »Sie wollen Carina aufnehmen und diese musikalische Soiree veranstalten?«
»Ja, vorausgesetzt, daß Sie mir die Kosten erstatten, sobald Sie können«, betonte Lady Godolphin. »Sie sehen immer noch bekümmert aus. Was ist los?«
»Ihre Haare«, antwortete der Vikar düster. »Sie wird sie färben müssen. Desire kann rote Haare nicht ausstehen.«
»Es ist nicht nötig, es zu färben«, sagte Lady Godolphin. »Sie kann eine Perücke tragen. Ich mache das immer.«
Sie tätschelte ihre flachsblonde Perücke mit innigem Behagen. Genau wie der Vikar übertünchte sie die Spuren der Jahre mit einer Unmenge Schminke.
Lady Godolphin war Ende Fünfzig, rundlich, mit einem Bulldoggengesicht unter einer Schicht aus weißem Puder und Rouge.
»Kluge junge Damen mag er auch nicht«, fuhr der Vikar fort.
»Carina ist eine kleine Plaudertasche«, entgegnete Lady Godolphin. »Ich verstehe nicht die Hälfte von dem, was sie sagt. Als sie das letztemal hier war, sprach sie dauernd über Bacon, und ich dachte, sie meinte Speck, aber es stellte sich heraus, daß sie über irgendeinen elisabethanischen Schwerenöter sprach.«
Der Vikar erinnerte sich seines Auftrags. »Ich traf Colonel Brian heute nachmittag bei White’s«, bemerkte er beiläufig. »Er läßt Sie herzlich grüßen. Er hat gesagt, ›Arthur grüßt herzlich‹«
»Ach, wirklich?« sagte Lady Godolphin obenhin. »Das Problem bei Arthur ist, daß er zu alt für mich ist.«
»Oh«, machte der Vikar, in der Hoffnung, daß noch mehr komme.
Aber Lady Godolphin kehrte zum Thema Carina zurück. »Carina war immer ein bißchen ein wildes Ding, sie und Daphne. Ist Daphne immer noch so ein Wildfang?«
»Nein, sie ist sehr eitel geworden. Schaut immerzu in den Spiegel und tut nichts anderes.«
»Aha, sie ist narkotisch«, erwiderte Lady Godolphin und nickte weise mit ihrem großen Kopf.
»Sie ist was?«
»Narkotisch. Also wirklich, Charles, hat man Ihnen in Oxford nichts beigebracht? Das war doch dieser Grieche, der so schön war, daß er nicht einmal mit Echos etwas zu tun haben wollte, und er hat sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, als er sich im Wasser eines Teiches sah, und weil er sein Spiegelbild nicht heiraten konnte, verging er vor Gram und wurde narkotisch. Sie wissen doch, wie diese gelbweiße Frühlingsblume.«
»Ich habe auch nichts mit Echos zu tun«, sagte der Vikar ganz verwirrt.
»Ach, Sie sind doch zu dumm, das war doch eine Frau.«
»Das ist alles Heidenkram«, sagte der Vikar rechtschaffen. »Und was hat es den Griechen genützt? Wo sind sie jetzt? Hmm? Sie schuften für einen Haufen Türken.«
»Sei dem, wie es wolle«, sagte Lady Godolphin bestimmt, »Sie bringen Carina zu mir, und ich werde sie in Null Komma nichts unter die Haube gebracht haben. Aber nun stellen Sie sich vor, was –«
Da ging die Tür auf, und Lady Godolphin brach ab, lächelte albern wie ein Backfisch und spielte mit ihrem Fächer herum.
Ein junger Mann trat ein. Er war mager und linkisch, aber nach der allerneuesten Mode gekleidet, vom ondulierten und pomadisierten Haar bis zu den Stiefeln mit hohen Absätzen und festen Sporen. Er hatte einen eigenartig wiegenden Gang, wie alle, die feste Sporen tragen. Er duftete noch stärker nach Parfum als der Vikar, und dessen Moschus ging eine innige Verbindung mit der Duftnote »Jugend im Frühling« ein. Es war, als hätten sich zwei dicke Nebelbänke vermischt, die alle anderen Düfte auf der Welt verschluckten.
»Mein … hm … Freund, Mr. Anstey«, lächelte Lady Godolphin ganz schrecklich albern.
Der Vikar verabschiedete sich, sobald er konnte. »Armer Colonel Brian«, dachte er. »Also das ist der Grund.«
Der Vikar, der Mann Gottes, sagte sich, daß er seine Tochter vielleicht nicht in einen solchen Haushalt bringen sollte. Aber der Jäger in ihm träumte von einer Meute, die alle anderen übertraf; er roch den modrigen Farn an feuchten Novembertagen, wenn der Wind von Osten bläst, und er sah seine Hunde »so eng beisammen, daß man sie mit einem Tischtuch verdecken könnte«. Der Jäger trug den Sieg davon.
Der Vikar hatte durchaus erwartet, daß Carina die Neuigkeit von ihrem bevorstehenden Besuch in London und die glühende Schilderung der hervorragenden Eigenschaften eines gewissen Lord Harry Desire mit Mißtrauen aufnehmen und ihre üblichen vorwitzigen Fragen stellen würde.
Aber nie und nimmer hätte er einen offenen Aufstand erwartet.
»Nein, Papa«, sagte Carina entschlossen. »Ich bleibe hier.«
»Warum?« fragte der Vikar, wobei er beinahe aufstampfte.
»Weil es meine Pflicht ist, zu Hause zu bleiben und mich um meine Schwestern zu kümmern«, antwortete Carina mit dem Ausdruck einer Heiligen auf ihrem Gesicht, der an Minerva in ihren schlimmsten Momenten erinnerte.
»Quatsch«, sagte der Vikar. »Du glaubst wohl, ich nehme dir das ab. Da steckt ein Mann dahinter. Du hast ihn dir wohl angelacht, kaum daß ich aus dem Haus war?«
»Da ist kein Mann, Papa«, sagte Carina. Wie in aller Welt konnte sie so einem Vater, der in seinem ganzen bisherigen Leben nicht einen höheren geistigen Gedanken gehabt hatte, die Reinheit ihrer Freundschaft mit Guy Wentwater klarmachen? Wie konnte sie ihm erklären, wie aufregend es war, Ideen miteinander zu teilen, oder wie ihm das süße zärtliche Aufkeimen einer Liebe schildern, die so sehr erhaben über die gemeinen Triebe der Männer war?
Sie dachte an die Begegnung auf dem Friedhof, an seine ernste tiefe Stimme, an die Art, wie seine blauen Augen den ihrigen in einer so geraden und aufrichtigen Weise begegnet waren.
»Es hat keinen Zweck, mich einzuschüchtern«, fuhr sie fort. »Du hast eine Heirat für mich in die Wege geleitet, und alles bloß, weil du gutes Geld für deine dämliche Hundemeute verplempert hast.«
»Was!« Niemals hätte der Vikar gedacht, daß eine seiner Töchter eine solch blasphemische Bemerkung machen würde.
Sie standen einander im Garten des Pfarrhauses gegenüber und maßen sich über ein Blumenbeet hinweg mit finsteren Blicken; ihr Atem stieg in der kalten Luft wie Rauch auf.
»Ich hole meine Peitsche«, schrie der Vikar grimmig. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Pfarrhaus.
Carina erstarrte zur Salzsäule. Er würde es nicht wagen!
Aber der Vikar erschien bereits wieder, seine Peitsche schwingend.
Carina drehte sich um und rannte.
Ihr nach, unter Hallo und Geschrei, kam ihr Vater. Gekleidet in ein lächerlich dünnes Musselingewand, mit ebenso dünnen Seidenschuhen – denn Carina hatte sich in der Hoffnung, daß Guy Wentwater vorbeikäme und sie sähe, im Garten aufgehalten –, nahm sie ihre Röcke hoch und floh die Straße hinunter, der Vikar in einer wilden Verfolgungsjagd dicht hinter ihr.
Carina kletterte über einen Zauntritt an der Straße und raste über ein frisch gepflügtes Feld, wobei sie sich wie ein gejagter Fuchs fühlte.
Die Schreie des Vikars verloren sich allmählich, aber das bedrohliche Verhalten ihres Vaters schockierte sie noch dermaßen, daß sie ihren Schritt nicht verlangsamte.
Ihr Kleid war zerrissen und schmutzig, und ihre seidenen Schuhe ruiniert. Ihr rotes Haar hing ihr ins Gesicht, als sie über die hartgefrorenen Felder hinter dem Dorf stolperte. Sie lief in Richtung Herrenhaus, wo ihr Onkel, Sir Edmund, lebte, da sie instinktiv wußte, daß das der letzte Ort war, wo der Vikar sie suchen würde.
Sie kletterte über die moosbewachsene Mauer, die den Grund und Boden des Onkels begrenzte, und hoffte, daß keiner seiner Wildhüter sie erschoß, weil er sie für einen Wilderer hielt.
Der Wald auf der anderen Seite war friedlich und dunkel und still. Carina lauschte angestrengt, konnte jedoch nichts mehr von der lauten Verfolgungsjagd ihres Vaters hören. Sie stand still, ihr Herz klopfte laut. Was passierte wohl, wenn sie ins Pfarrhaus zurückkehrte, denn zurück mußte sie ja. Und da war nicht einmal eine Minerva, die für sie Fürbitte einlegen konnte.
Plötzlich erfüllte sie Haß gegen ihren Vater; sie wäre fast daran erstickt. Warum konnte er sich nicht wie ein ganz normaler Geistlicher benehmen, wie man es von ihm erwartete? Der Vikar von St. Ann’s in Hopeminster war ein friedlicher, gelehrter, belesener Mann, ganz anders als ihr Vater; wenn der nicht nach Moschus roch, roch er nach Stall, und ständig war er voller Hundehaare.
Das ganze Pfarrhaus riecht nach nassem Hund, dachte Carina wütend.
Auf der einen Seite war eine ganz neue Liebe – zitternd, unschuldig und zerbrechlich, auf der anderen Seite war der Vikar, der die Umgebung von Hopeworth mit der Peitsche in der Hand nach ihr absuchte.
»Keiner versteht mich außer Guy«, flüsterte Carina den gleichgültigen Bäumen zu.
Verzweifelt sank sie auf die Knie und betete zu Gott um Hilfe. Sie betete lange und fieberhaft, während ein Eichhörnchenpärchen über ihrem Kopf lärmte und ein neugieriges Kaninchen sie mit unbeweglichen Augen anstarrte.
Und dann, auf einmal, sprach Gott zu ihr. Sie hörte eine Stimme in ihrem Inneren, die ihr genau sagte, was sie zu tun hatte.
Sie mußte ins Pfarrhaus zurückkehren und sich bei ihrem Vater entschuldigen und sagen, sie wolle mit ihm nach London gehen. Wenn sie dort war, mußte sie dafür sorgen, daß sie diesem Lord Harry Desire so sehr mißfiel, daß er sie nie wieder sehen wollte. Wenn sie dann in Ungnade, aber geachtet, nach Hopeworth zurückgekehrt war, würde sie Guy ausfindig machen und ihn bitten, mit ihr durchzubrennen.
Eine tiefe Ruhe überkam Carina. Es ist wirklich erstaunlich, wie der Allmächtige zuzeiten den Leuten sagen kann, daß sie genau das tun sollen, was sie ohnehin tun wollten. Nur sehr fromme Leute bringen es fertig, irgendwie zurechtzukommen, ohne daß sie Stimmen oder das Flügelschlagen von Engeln hören.
Carina war in gehobener Stimmung und fühlte sich edelmütig, als sie schließlich ihre Röcke nach unten strich und sich auf den Heimweg machte.
Der Vikar war seinerseits beschämt über seinen Zornesausbruch. Nachdem er sich mit Hilfe mehrerer Gläser Punsch in den ›Sechs fröhlichen Bettlern‹ beruhigt hatte, hatte er beschlossen, nach Hause zu gehen und dort auf Carina zu warten. Wenn sie zurückkam, würde er ihr ganz ruhig befehlen, die Koffer zu packen. Seine kühle Würde würde ihr sicherlich Respekt einflößen.
Aber zu seiner Erleichterung – denn das ruhige und würdige Bild von sich selbst begann schon wieder zu verblassen, als er das Pfarrhaus erreichte – wartete Carina bereits auf ihn, um ihn ganz reizend um Verzeihung zu bitten.
Angesichts des Vergnügens, seinen Kopf so leicht durchsetzen zu können, ließ der Vikar seine sonstige Gerissenheit ganz außer acht.
Diana und Frederica nahmen die Nachricht von Carinas bevorstehender Reise nach London mit der Gelassenheit von zwei kleinen Mädchen auf, die es gewohnt waren, daß ihre großen Schwestern Abstecher in die weite Welt machen. Beide besuchten immer noch das Seminar in Hopeminster. Die Pläne des Vikars, eine Gouvernante zu engagieren, waren nie in die Tat umgesetzt worden. Einzig Daphne schien aus ihrer narzißtischen Versunkenheit aufgeschreckt zu sein und begann eine lange Einkaufsliste für Carina zu schreiben, die die Namen sämtlicher in London aufzutreibenden Schönheitsmittel enthielt.
Von etlichen Gläsern Portwein besänftigt, lehnte sich der Vikar nach dem Abendessen in seinem Stuhl zurück und betrachtete seine Familie wohlgefällig.
Er ertappte Carina, wie sie ihn mit grün funkelnden Augen ansah, ein Blick, den er von Tieren kannte, die in der Falle saßen. Aber sobald sie seinen plötzlich aufmerksamen Gesichtsausdruck bemerkte, schlug sie die Augen demütig nieder und bot das überzeugende Bild einer gehorsamen Tochter.
Carina hatte das Gefühl, ihren Vater das erste Mal zu sehen. Ihr unbestechliches Auge nahm das Peinliche seines zu engen Rockes, seines geröteten Gesichts und seines knarrenden Korsetts wahr. Ihre ätzende Verachtung war Labsal für ihre wunde Seele, Ein solcher Vater verdiente, betrogen zu werden. Und ihre Mutter war noch nie irgendeine Hilfe gewesen – eingekapselt, wie sie war, in ihre verschiedenen Wehwehchen und Unpäßlichkeiten.
Ganz plötzlich wurde ihr bewußt, daß er über Guy sprach. »Ich habe gehört, daß der junge Wentwater wieder da ist«, sagte der Vikar. »Komische Sache mit den Wentwaters. Lady Wentwater kam vor bald zwanzig Jahren hierher. Keiner hat je etwas von einem Lord Wentwater gehört, und sie steht auch nicht im Adelsregister. Ich habe sie immer wieder über ihren verstorbenen Gatten befragt, aber sie hat sich taub gestellt. Was soll’s, sie ist eine harmlose alte Dame. Schade, daß man das von ihrem Neffen nicht behaupten kann.«
»Kaum, Papa«, ließ sich Carina mit süßer Stimme vernehmen. »Da niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, Mr. Wentwater als alte Dame bezeichnen würde.«
Der Pfarrer schaute sie scharf an, aber sie hatte ihre Augen bereits wieder niedergeschlagen.
»Nun gut«, sagte er, »So lange er hier nicht herumschnüffelt wie ein Fuchs auf der Suche nach Hühnern. Wie konnte Bella nur so dumm sein, diesen Mann auch nur anzuschauen …«
»Wir alle haben ihn für gut genug befunden«, führte Mrs. Armitage matt an, »bis er uns erzählte, was für einen Beruf er hat. Auch du konntest bis dahin nichts Unrechtes an ihm finden, mein lieber Mann.«
»Das ist Blödsinn. Ich …« Der Pfarrer unterbrach sich und starrte ganz verwirrt an die Decke. »Wie kann es hier heruntertropfen? Lauft hinauf und schaut, ob die Schlafzimmer unter Wasser stehen.«
»Es ist nicht der Regen«, sagte Carina. »Es ist Betty. Sie weint«, fügte sie hinzu, als das Mädchen aus dem Eßzimmer rannte.
»Was hat sie zu heulen?«
»Weinen ist sehr gut für die Augen«, warf Mrs. Armitage mit plötzlichem Enthusiasmus ein. »Es trainiert die Retina.«
»Betty weint«, sagte Carina laut und deutlich, »weil ihr vor zwei Jahren versprochen worden ist, daß sie uns verlassen und John Summer heiraten kann.« John Summer war der Kutscher des Pfarrhauses. Er war gleichzeitig Stallbursche, Hundeführer und Hundepfleger.
»Nun, dann muß sie eben noch warten«, meinte der Vikar gereizt. »Ich kann keine Bediensteten brauchen, die heiraten wollen. So etwas habe ich noch nie gehört. Wir können es uns im Augenblick nicht leisten, noch eine Magd einzustellen, und wir können es uns auch nicht leisten, John Summer genug zu bezahlen, daß er einen’ eigenen Hausstand gründen kann. Also, was soll’s!«
Carina dachte bitter an die Unsummen, die zum Kauf neuer Hunde und Pferde ausgegeben worden waren, und öffnete ihren Mund, um einen beißenden Vorwurf zu machen. Aber dann erinnerte sie sich an ihren Plan und blieb still.
Schließlich war man mit dem Abendessen fertig, und die Mädchen nahmen ihre Bettkerze vom Tisch in der Halle und stiegen die Treppe hinauf in ihre Zimmer.
Seitdem Minerva und Annabelle, aus dem Haus waren, hatten Daphne und Carina ein eigenes Zimmer, während Diana und Frederica sich immer noch ihr altes Zimmer teilten.
Der Sturm war abgeflaut. Carina öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die kühle frische Luft roch nach feuchten, vermodernden Blättern und Immergrün.
Hinter der hohen Hecke, die den Pfarrgarten umgab, tauchte die Gestalt eines Mannes auf, dessen Stock weißlich in der Dunkelheit schimmerte.
»Guy«, flüsterte Carina, und ihr Herz begann gegen ihre Rippen zu pochen.
Sie warf sich einen Mantel über und schlich sich aus ihrem Zimmer und langsam die Treppe hinunter; dabei ging sie auf den Zehenspitzen, um ja keinen Lärm zu machen.
Die dröhnende Stimme ihres Vaters und die hohe Stimme ihrer Mutter drangen durch die Tür des Wohnzimmers.
Sie stand ganz still in der Halle. Betty und die Köchin waren bestimmt noch in der Küche. Die Haustür war noch nicht abgeschlossen und verriegelt. Sie mußte versuchen, auf diesem Weg hinauszugelangen, und beten, daß sie keinen Lärm machte, und daß ihr Vater nicht zufällig aus dem Fenster schaute, wenn sie die Auffahrt hinunterlief.
Die Haustüre öffnete sich mit einem Knall wie von einem Pistolenschuß. Carina erstarrte und dachte sich bereits Ausreden aus. Aber im Wohnzimmer unterhielt man sich weiter, und in der Küche klapperte das Geschirr.
Sie schlüpfte leise hinaus und bemühte sich, die Türe langsam und sorgfältig hinter sich zu schließen. Dann lief sie im Schatten der Eiben die Auffahrt hinunter, denn ein verräterischer Mond tauchte alles in ein silbriges Licht.
Das Eisentor kreischte wie ein böser Geist, aber Carina konnte sich nicht mehr zwingen, auf mögliche Auswirkungen zu warten. Sie ließ das Tor krachend hinter sich zufallen und rannte auf die Straße hinaus, in beide Richtungen schauend.
Niemand.
Sie stieß einen Laut der Enttäuschung aus und dann einen voller Angst, als sich ein Arm von hinten um ihre Taille legte. Sie wirbelte herum. »Guy!«
»Ich habe mir gedacht, daß Sie mich vielleicht sehen und nach mir schauen«, flüsterte er. »Gehen Sie ein Stückchen mit mir spazieren. Wird man Sie vermissen?«
Carina schüttelte den Kopf, und es entging ihr nicht, wie gut Guy im Mondlicht aussah mit seinen schimmernden weißen Zähnen und den Augen, die aufregend glänzten.
Die Bemerkung ihres Vaters vom Fuchs, der nach Hühnern Ausschau hielt, kam ihr in den Sinn, und sie sagte nervös: »Ich hasse diese heimlichen Treffen. Ach, ich wünschte, Sie könnten mich im Pfarrhaus besuchen und Papa wäre vernünftig.«
»Ich bin gekommen, weil mir jemand erzählt hat, daß Ihr Vater mit der Peitsche hinter Ihnen her war«, sagte er mit leiser ernster Stimme. »Ich konnte nicht schlafen. Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Glauben Sie mir, ich mag diese heimlichen Treffen auch nicht.«
»Ist es nicht erstaunlich«, fragte Carina sanft, »daß wir so gute Freunde geworden sind? Es ist, als ob wir zur gleichen Zeit die gleichen Gedanken hätten.«
»Ich glaube, es liegt daran, daß ich genug von albernen, kichernden weiblichen Wesen habe«, sagte Guy. »Ich bewundere Frauen mit Verstand. Ich muß gestehen, daß Ihre Schwester, Annabelle, mich durch ihre Schönheit blendete, aber das war, bevor ich Vernunft angenommen hatte.«
»Ja«, stimmte Carina mit mäßiger Begeisterung zu. Sie hätte es lieber gehabt, wenn Mr. Wentwater gesagt hätte, er sei von ihrer Schönheit und ihrer Klugheit gleichermaßen geblendet.
»Oh, Mr. Wentwater«, sagte Carina, blieb auf dem mondhellen Weg stehen und ergriff seine beiden Hände, »ich muß es Ihnen erzählen. Es ist etwas Furchtbares passiert.«
Der Wind seufzte über ihren Köpfen, und ein Schauer von nassen Blättern rieselte auf sie herab.
»Erzählen Sie’s mir. Warum war Ihr Vater hinter Ihnen her? Wenn ich irgendwie helfen kann?« sagte Guy und drückte dabei ihre Hände an seine Brust.
»Papa hat eine Heirat für mich arrangiert. Ich soll morgen nach London fahren und bei Lady Godolphin bleiben, damit mich irgend so ein Mensch namens Lord Harry Desire begutachten, meine Zähne kontrollieren und am Ende sagen kann, ob er mich will oder nicht.«
»Das ist unerhört! Ihr Vater hat bereits zwei Töchter reich verheiratet. Wozu noch mehr?«
Carina seufzte, und der Wind, der über die hohen Hecken zu beiden Seiten des Weges strich, schien ihren Seufzer aufzunehmen und über die kahlen herbstlichen Felder zu tragen. »Wir sitzen finanziell schon wieder auf dem trockenen«, sagte sie. »Papa gibt sehr viel Geld für die Jagd aus. Dieser Lord Desire muß heiraten, um in den Besitz der Erbschaft seines Onkels zu kommen; er braucht eine Frau, Papa braucht das Geld, ich bin das Opfer.«
Er ließ ihre Hände los und wandte sich ein wenig von ihr ab, so daß sein Gesicht im Schatten war. Carina wartete angespannt darauf, daß er sagte, er wolle sie selbst heiraten.
»Ich hatte gehofft«, sagte er schließlich, »daß wir uns besser kennenlernen würden … daß ich mich in der Grafschaft niederlassen könnte und von Ihrer Familie akzeptiert würde.«
Er stieß ein verlegenes Lachen aus. Carina fröstelte und zog ihren Mantel enger um die Schultern.
»Aber«, meinte er lebhaft, »es ist nicht gesagt, daß dieser Lord Harry Sie heiraten will. Dann können Sie nach Hause zurückkehren, und es geht uns allen wieder gut.« Er lachte genüßlich. »Ich bin sicher, daß Sie genau wissen, wie Sie sich bei ihm unbeliebt machen können. Eine intelligente Frau wie Sie …«
»O Guy! Unsere Gedanken sind wirklich immer dieselben«, rief Carina aus und vergaß darüber ihre Enttäuschung über ihn. »Das ist genau das, was ich plane.«
»Sie müssen nach Hause gehen«, sagte er, nahm ihren Arm in seinen und führte sie zurück zum Pfarrhaus. »Ich möchte nicht, daß Ihr Vater seine Meute auf mich hetzt und mich wieder aus der Grafschaft jagt.«
»Was?« Carina blieb stehen, und Guy verfluchte sich wegen seiner vorübergehenden Unaufmerksamkeit. Sie wußte offensichtlich nichts von der Demütigung, die er von seiten ihres Vaters erlitten hatte. Sie durfte nie erfahren, wie sehr er ihren Vater haßte für den Tag, an dem er buchstäblich von Hunden gehetzt die sommerlichen Straßen entlang fliehen mußte, dicht gefolgt von der Meute des Vikars, die nahe daran war, ihn zu zerreißen. Sie durfte nie ahnen, wie er Rache geschworen und Pläne dafür entwickelt hatte. Sie durfte noch viel weniger ahnen, daß ihre Anziehung für ihn vor allem darin bestand, daß er in ihr ein Instrument für diese Rache sah.
»Papa tat was?« Carina bestand auf einer Antwort.
Er lachte und zog sie am Arm, so daß sie gezwungen war, mit ihm Schritt zu halten. »Sie haben mich mißverstanden. Ich meinte, daß ich hoffe, daß Mr. Armitage mich nicht wegjagt. Nur ein Scherz, wissen Sie.«
Die Lampen im Wohnzimmer waren bereits gelöscht, und das Haus lag im Dunkeln. Es ist noch schwieriger zurückzukommen, dachte Carina. Diesmal wußte sie nämlich nicht, wo ihr Vater war.
Aber der Zauber von Guys Gegenwart gab ihr Mut. Sie blickte hinauf auf seine ausgeprägte Kinnlinie, das untadelige Weiß seines Hemdes und sein edles Profil und fühlte sich einer solchen Begleitung beinahe unwürdig. Er war Welten entfernt von ihrem großsprecherischen, vulgären Vater und seinen kleinkarierten Machenschaften.
»Gute Nacht«, sagte er zärtlich, hielt ihr das Tor auf und zog es leise hinter ihr zu.
Sie drehte sich um und schaute ihn durch die Gitterstäbe des großen Tors an; dabei spürte sie die Kälte des Eisens an ihren bloßen Händen. »Gute Nacht«, erwiderte sie ebenso zärtlich.
Er lehnte sich vorwärts, und sie tat das gleiche. Er küßte sie ganz zart durch die Gitterstäbe hindurch; es war ein leichter, keuscher Kuß.
Carinas Gesicht strahlte vor unverhüllter Liebe und Bewunderung, und Guy merkte, während er sie aufmerksam beobachtete, wie ein Gefühl von Macht in ihm aufkam.
Carina schwebte ins Haus und merkte nicht einmal, daß die Haustür immer noch offen war; sie versuchte auch gar nicht, leise die Stufen hinaufzuschleichen.
Wäre ihr Vater ihr in diesem Augenblick begegnet, hätte Carina ihm sicher ihre Liebe gestanden, und ihr Idyll mit Guy Wentwater wäre bestimmt zu Ende gewesen.
Aber niemand begegnete ihr auf der Treppe, und sie erreichte unbemerkt ihr Zimmer.
Lange Zeit saß sie traumverloren am Fenster.
Morgen würde sie nach London fahren. Am Montag würde sie Lord Harry Desire treffen.
Und wenn sie ihre Karten richtig ausspielte, war sie sehr bald danach wieder zu Hause, ungebunden und frei, ihre Romanze mit Guy weiterzuspinnen.
Nach einem solchen Fehlschlag war ihr Vater sicherlich froh, sie überhaupt verheiraten zu können.