Читать книгу Die schöne Begleiterin - Marion Chesney - Страница 3

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Morgens um zehn Uhr herrscht gewöhnlich eine unheimliche Stille auf den Plätzen und Straßen des Londoner Westends. Die Arbeiter haben sich bereits an ihr Tagwerk begeben, die Jongleure, Zauberer und Trödler sind noch nicht an ihrem Platz. Die Diener gehen stumm ihren vielfältigen Aufgaben nach und haben keine Zeit, auf den Straßen herumzuspazieren. Aus einem unerfindlichen Grund rufen auch die Händler ihre Waren nicht aus, und das vornehme London liegt noch im Bett, nippt an seiner morgendlichen Schokolade und wendet etwas gelangweilt die goldverzierten Einladungskarten, die ihm mit dem Frühstückstablett serviert wurden. Auch dieser schöne Mittwochmorgen im frühen Lenz machte da keine Ausnahme. Die Sonne schien hinter einer hohen Rauchschicht hervor und tauchte die Stadt in ein warmes goldenes Licht. Nicht ein Windhauch störte die stille, friedliche Ordnung der vornehmen Häuser, der säuberlich angelegten Parks und der Plätze, wo Narzissen unter der zerbrechlichen Anmut des Flieders Spalier standen.

Der Manchester Square sonnte sich in dieser allmorgendlichen Stille, und nirgendwo sonst war es so friedlich und ruhig wie um das hohe, schlanke Haus, welches Lady Amelia Godolphin gehörte. Dünne Rauchwolken stiegen kerzengerade gen Himmel, und eine schmale Reihe roter Tulpen säumte die Blumenkästen. Doch plötzlich unterbrachen gellende Schreie der Wut und der Angst die friedvolle Stille; in einem stetig steigenden Crescendo drangen sie aus Lady Amelia Godolphins Haus. Aufgeschreckte Tauben schwangen sich von den Dächern in die Lüfte. An den umliegenden Fenstern tauchten hinter den spitzengewirkten Wolken raschelnder Vorhänge Gesichter auf wie kleine Monde. Die Schreie hielten an. Türen flogen auf. Eine Menschenmenge bildete sich auf jene mysteriöse Weise, die Massen so an sich haben. Vor einer Minute war der Platz noch leer gewesen, jetzt schien eine ganze Schar von Menschen förmlich aus dem Gehweg gewachsen zu sein.

Eilig wurden die Jalousien an Lady Amelias Haus heruntergelassen. Ein livrierter Lakai eilte aus dem Haus, gefolgt von zwei kleinen Jungen, die er anwies, Stroh auf dem Gehweg und der Straße zu verteilen, damit das Geräusch etwa vorbeirollender Räder erstickt werde. Und immer noch hielten die Schreie an.

Die Menge war sich zunächst einig, daß hier jemand auf die denkbar feinsinnigste Art und Weise ermordet wurde, doch nur allzu bald sollte sie die Wahrheit erfahren.

Denn schlechte Nachrichten reisen auf dem schnellsten Weg. Als der letzte Schrei erstarb, hatte sich die Nachricht bereits wie ein Lauffeuer über das ganze Westend verbreitet: Londons führender Schönheit, Londons reichster Frau, Lady Amelia Godolphin, war der Eintritt ins Almack verwehrt worden.

Die Gesellschaftsräume des Almack waren der siebente Himmel für die vornehme Welt. An Mittwochabenden wurden hier während der Saison Bälle veranstaltet, und dem Zutritt zu diesem exklusiven Tempel der schönen Welt wurde allergrößte Wichtigkeit beigemessen.

Die gastgebenden Damen waren Lady Castlereigh, Lady Jersey, Lady Cowper und Lady Sefton sowie Mrs. Drummond Burrell, Prinzessin Esterhazy und Gräfin Lieven.

Die Beliebtheit des Almack war auf eine Woge des Snobismus zurückzuführen, die London zu überschwemmen drohte. Es hatte schließlich keinerlei Sinn, dieser vornehmen Gesellschaft anzugehören, außer man hatte keinen Zugang zu den Orten, an denen sich normale Sterbliche vergnügten.

Diese Tanzveranstaltungen hatten dem englischen Leben etwas völlig Neuartiges beschert: einen unbeugsamen, engstirnigen und unmenschlichen Stolz. Die gewöhnlichste und zugleich hochmütigste der Gastgeberinnen war Lady Jersey. Die Gesellschaftsräume des Almack, über die sie herrschte, waren zum wichtigsten Heiratsmarkt des Königreichs geworden. Hier konnte man einige der reichsten Junggesellen der Welt beim schottischen Reigen bewundern.

Daher also Lady Amelia Godolphins wütende Verzweiflung. Denn Lady Amelia wollte sich nicht nur wieder standesgemäß vermählen, sie hatte sich auch bereits ein sehr hohes Ziel in den hübschen Kopf gesetzt: Lord Philip Cautry, einen gutaussehenden und wohlhabenden Aristokraten, dessen Abstammung sich bis in graue Vorzeiten zurückverfolgen ließ.

Lady Amelia war schön und sehr reich. Als Tochter eines verarmten irischen Edelmanns schockierte sie einst die Londoner Gesellschaft, als sie gegen Ende ihrer ersten Ballsaison den wohlhabenden und wesentlich älteren Harold Godolphin heiratete. Daß sie den reichen Geschäftsmann lediglich seines Geldes wegen geheiratet hatte, stand außer Zweifel, und er tat ihr den Gefallen, sechs Monate nach der Hochzeit zu sterben und ihr ein riesiges Vermögen zu hinterlassen.

Nur zu gerne hatte Lady Amelia das Geld angenommen, um schon bald die Stadt unsicher zu machen und nur ihrem Vergnügen zu leben. Zunächst waren ihre Abenteuer eher ungestüm als skandalös, aber schließlich hatte sie eine das Interesse der Öffentlichkeit erregende Affäre mit dem schon etwas älteren Herzog von Glendurran, ohne sich um die lautstarken Einwände der Herzogin zu kümmern. Doch gerade als es so aussah, als wollte sich der Herzog von seiner Frau scheiden lassen, um Lady Amelia zu heiraten, starb er an einem Herzinfarkt, verursacht, wie böse Zungen behaupteten, durch seine beständigen Anstrengungen, seiner schönen Geliebten jünger zu erscheinen, als er in Wirklichkeit war.

Lady Amelia zog sich daraufhin unverzüglich nach Italien zurück, um nach zwei Jahren, in der Annahme, die vornehme Welt habe ihre Affäre vergessen, nach London zurückzukehren, sich auf eine neue Saison vorzubereiten und Lord Cautry für sich zu gewinnen.

Da sie reich, adelig, jung und schön war, standen ihr alle Türen offen, mit Ausnahme der allerwichtigsten: der des Almack. Lord Cautry war bekannt dafür, außergewöhnlich hohe Ansprüche zu stellen und niemals eine Frau zu ehelichen, die nicht überall gesellschaftlich akzeptabel gewesen wäre.

Schließlich wichen ihre Schreie einem lauten Schluchzen. Aus Erfahrung wußte ihre Zofe, daß man nun vorsichtig damit beginnen konnte, das zerbrochene Porzellan zu beseitigen, und wieder einmal dafür sorgen mußte, daß der Spiegel repariert wurde.

Mit einer Ecke des Lakens trocknete Lady Amelia ihre blauen Augen, dann brachte sie mit den immer noch vor Wut und Verzweiflung zitternden Händen ihre Nachthaube in Ordnung. Mit einem Satz war sie aus dem Bett und stürmte an ihren kleinen Schreibtisch in der Ecke, um hastig einige Zeilen zu schreiben. Dann reichte sie ihrer Zofe Eliot den fertigen Brief. »Eliot, sorge dafür, daß ein Lakai diesen Brief augenblicklich Mrs. Besant überbringt«, forderte sie. Und nachdem Eliot aus dem Zimmer gehuscht war, saß sie nervös herum und blickte mit jähzornigen Augen ins Leere.

Zwischen der jungen und schönen Lady Amelia und der ältlichen und säuerlichen Mrs. Mary Besant hatte sich vor längerer Zeit eine etwas sonderbare Freundschaft entwickelt, deren einziger Grund darin bestand, daß dieses Gespann größte Freude daran hatte, sich den Mund über Freunde und Bekannte zu zerreißen. Mrs. Besant war ebenfalls Witwe, und ihre sauertöpfische Erscheinung und spitze Zunge sorgten auch dafür, daß sie es bleiben würde, sie, die ihren sanftmütigen Ehemann in ein frühes Grab genörgelt hatte. Anders als ihre Freundin hatte Lady Amelia genug Takt, ihre Zunge wenigstens in der Öffentlichkeit zu hüten. Und obwohl ihr nur allzu oft eine Boshaftigkeit entschlüpfte, wurde ihr ob ihrer Schönheit im allgemeinen bereitwillig vergeben.

Sie hatte blaßblaue Augen, wie der Frühlingshimmel, weißblondes Haar und war von hoher, feenhafter Gestalt.

Sie hoffte, Mrs. Besant werde ihrer Aufforderung nachkommen und sofort herbeieilen. Sie läutete nach Eliot und wirkte, als diese sie in eine blaßblaue, zu ihren Augen passende Redingote kleidete, wie eine wunderschöne Statue.

Lady Amelia schritt gerade die Treppe hinab, als Mrs. Besant gemeldet wurde. Beide Frauen begaben sich in den rosa Salon.

Mrs. Besant trug ein unkleidsames rostfarbenes Wanderkostüm von fast männlicher Strenge. Sie hatte ein hageres, gerötetes Gesicht, eine Hakennase sowie große gelbliche Zähne. Ihre schmalen Lippen waren leicht zu dem für sie typischen Lächeln geöffnet, das niemals ihre bläßlich-grauen Augen zu erreichen schien.

Die Gesellschaft fürchtete sie durch und durch und reihte sie deshalb unter die Ihrigen ein, obschon sie vor ihrer Heirat mit dem verstorbenen Mr. Besant, der aus der niederen Aristokratie stammte, lediglich die Tochter eines Pfarrers gewesen war. Einige verwegene Stutzer hatten von Zeit zu Zeit versucht, dieser furchterregenden Witwe einmal gründlich den Kopf zu waschen, doch diese hatte sich prompt revanchiert, irgend etwas Zwielichtiges und Beschämendes über ihre Peiniger herausgefunden und nicht gezögert, dies auf die liebenswürdigste Art und Weise zu verbreiten.

»Nun, Amelia?« begann sie. »Ich hoffe nur, es handelt sich um etwas Wichtiges. Ich habe noch nicht einmal meine Morgen-Schokolade getrunken.«

»Natürlich ist es wichtig«, gab Lady Amelia scharf zurück. »Ich pflege Sie normalerweise nicht im Morgengrauen aus dem Bett zu scheuchen.« Es war zwar bereits elf Uhr, aber für einen vornehmen Londoner bedeutete dies nun einmal Morgengrauen. »Ich habe keine Einladung fürs Almack erhalten.«

»Eine Katastrophe, eine absolute Katastrophe«, stöhnte Mrs. Besant und genoß die Demütigung ihrer Freundin ungemein. »Sally Jersey, nehme ich an.«

»Geschwätzige Kuh«, sagte Lady Amelia gehässig und meinte damit Lady Jersey. »Wie in aller Welt eine dermaßen gewöhnliche Person zu solchem Einfluß gelangt, wird mir wohl ewig ein Rätsel bleiben. Was wird Lord Cautry davon halten? Er ist mir zwar wärmstens zugetan und macht mir den Hof, aber ich will Lady Cautry werden und nicht seine Geliebte.«

Insgeheim glaubte Mrs. Besant nicht, daß Lord Cautry sich von den Diktaten des Almack würde umstimmen lassen, wenn seine Zuneigung ernst gemeint war. Aber dies hätte Lady Amelia beruhigen können, und Mrs. Besant blühte förmlich auf unter anderer Leute Kummer.

»Das ist in der Tat ein Problem, Amelia«, sagte Mrs. Besant mit kaum verhohlener Genugtuung. »Ihre Affäre mit Glendurran ... Ich habe Ihnen immer gesagt ...«

»Ach, behalten Sie es für sich«, sagte Lady Amelia, die nie auch nur einen Hauch Freundlichkeit an Mrs. Besant verschwendete. »Erzählen Sie mir nicht, was ich besser nicht hätte tun sollen. Sagen Sie mir, was ich jetzt tun soll.«

Mrs. Besant spitzte ihre schmalen Lippen. »Sie müssen Ihr gesellschaftliches Ansehen heben, Amelia«, meinte sie schließlich. »Könnte ich wohl einen Schluck Wein bekommen, nur um meine Lippen etwas zu benetzen? Sie wissen, ich trinke normalerweise nicht, aber dies scheint mir doch eine besondere Angelegenheit zu sein. Vielen Dank! Wo war ich gleich stehengeblieben? Ah ja. Gesellschaftliches Ansehen ... Sehen Sie, meine Liebe«, fuhr sie fort und »benetzte« ihre Lippen mit mächtigen Schlucken Madeira, »Sie brauchten einfach jemanden, der bei Ihnen lebt. Eine Frau einwandfreien Charakters, je gläubiger, desto besser. Verstehen Sie mich richtig! Sie empfangen Herrenbesuche, und es ist bekannt, daß Sie ohne Anstandsdame sind. Sähe man Sie nun aber überall in Begleitung eines unnachgiebigen Drachens, würde die Gesellschaft bald ihre Meinung über Sie ändern.«

»Wen schlagen Sie vor?« fragte Lady Amelia mit zusammengekniffenen Augen. »Sich selbst?«

»Um Himmels willen, nein!« stieß Mrs. Besant hervor. »Ich bin eine wohlhabende Frau und von viel zu bedeutendem gesellschaftlichen Ruf, um irgend jemands Anstandsdame zu sein. Setzen Sie doch eine Annonce in die Zeitung ... Jetzt muß ich aber los. Ich bin zu einem Frühstück bei den Cholmleys eingeladen. Wir sehen uns dort.«

»Natürlich«, erwiderte Lady Amelia mit einem strahlenden Lächeln. Sie war nicht eingeladen und glühte erneut vor Wut und Beschämung, aber sie war entschlossen, Mrs. Besant nichts davon spüren zu lassen.

Mrs. Besant bemerkte, wie sich Lady Amelias Finger verkrampften, und verließ das Haus in bester Laune. Denn sie, Mrs. Besant, war natürlich nicht zum Frühstück bei den Cholmleys eingeladen. Auch gaben die Cholmleys gar kein Frühstück. Aber wenn es Freunden schlecht ging, war es jedesmal eine Quelle der Freude, wenn man dafür sorgen konnte, daß dies auch so blieb.

Lady Amelia murmelte etwas ganz und gar nicht Damenhaftes vor sich hin, sobald Mrs. Besant außer Hörweite war. Erst das Almack und jetzt auch noch die Cholmleys. Das war einfach zu viel!

In jedem Fall aber hatte Mrs. Besant eine gute Idee gehabt. Eine Anstandsdame war die Lösung! Aber wer kam dafür in Frage?

Ich muß doch irgendwo eine arme Verwandte haben, dachte Lady Amelia und ging im Geist ihren Stammbaum durch. Eine Verwandte würde nicht viel kosten. Eine Verwandte war viel einfacher zu dirigieren als eine bezahlte Begleiterin. Eine Verwandte würde nur Kost und Logis, aber kein Gehalt verlangen. Der irische Zweig der Familie kam nicht in Frage: Iren können sehr selbständig und eigen sein. Ihre Mutter war Engländerin gewesen. Vielleicht irgend jemand mütterlicherseits ...

Dann lächelte sie leise. Plötzlich war ihr genau die richtige Person eingefallen. Es gab da eine Base ihrer verstorbenen Mutter, eine Miss Maria Lamberton, von tadelloser Herkunft und geradezu furchterregenden Moralvorstellungen. Aus Kindertagen war ihr die alte Jungfer in Erinnerung geblieben: eine dürre, aufrechte alte Dame, die unaufhörlich die Bibel zitierte und keinen Kreuzer ihr eigen nennen konnte. In der Öffentlichkeit würde Miss Lamberton so viel moralisieren können, wie sie nur wollte, aber sie, Amelia, würde schon dafür sorgen, daß sie zu Hause den Mund hielt.

Dann begann sie, in ihren Papieren nach der Adresse der Base zu suchen. Ah ja, da war sie. Miss Lamberton, Berry House, Witherton, Essex. Miss Lamberton mußte es einfach sein. Wie würde die Gesellschaft je wieder schlecht von ihr denken können - mit so einer Anstandsdame an ihrer Seite! Sie hörte heute noch ihre Mutter sagen, daß Berry House nicht viel mehr als ein Landhäuschen sei mit etwas Grund und Boden hier und da und Hypotheken bis unters Dach.

Sie setzte sich an ihren Sekretär und begann geschäftig zu schreiben. »Meine liebe Miss Lamberton ...«

Die schöne Begleiterin

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