Читать книгу Maren - weniger Stress MEHR vom Leben - Marion Müller - Страница 10
ОглавлениеKapitel 1
Der erste KursabendDein Freund der Atem
Es geht los …
Der nächste Morgen: Maren wacht auf – wie immer um diese frühe Uhrzeit mit mehr oder weniger sanftem Druck des Weckers. Doch etwas ist anders als sonst. Was ist es bloß? Ach ja, heute Abend beginnt der Entspannungskurs. Ein Lächeln gleitet über Marens Gesicht. Sie ist echt gespannt, was sie da erwartet. Das Aufstehen fällt ein kleines bisschen leichter als sonst.
Bis zum Abend hat die Alltagshektik Maren wieder fest im Griff und sie muss sich ganz schön abhetzen, um es überhaupt rechtzeitig zum Kursbeginn zu schaffen. In letzter Sekunde hat sie noch nach den dicken Socken gegriffen, die jeder mitbringen sollte.
Da ist sie nun – dieser Raum soll also für die nächsten Wochen jeden Mittwochabend ihre Wohlfühloase sein. Maren schaut sich um. Gelb- und Terrakottatöne sind die vorherrschenden Farben. Das sieht gemütlich aus. Ein bunter Blumenstrauß und eine brennende dicke Kerze verbreiten eine angenehme Atmosphäre. Ein Stuhlkreis ist aufgebaut. Die meisten Kursteilnehmer, hauptsächlich Frauen, sind bereits eingetroffen und schauen sich genau wie Maren erwartungsvoll und skeptisch zugleich um. Die Kursleiterin ist natürlich auch schon da. Sie ist ungefähr in Marens Alter und sieht sympathisch aus. Na, dann kann es ja losgehen.
Die Kursleiterin Maria begrüßt alle. Insgesamt sind es mit Maren neun Frauen und drei Männer, die sich nun also jeden Mittwoch hier treffen wollen. Maren schaut sich die anderen etwas intensiver an. Sechs Teilnehmer scheinen in ihrem Alter zu sein, zwei sind deutlich jünger und der Rest ist älter. Eine bunte Mischung, wie es scheint. Marens Nachbar zur Linken erinnert sie an einen ziemlich gestressten Manager – Schweiß auf der Stirn und die Krawatte noch um. Er sieht aus, als wäre er in letzter Minute noch „eingeflogen“. Marens Nachbarin zur Rechten ist eine attraktive Frau in Marens Alter, die etwas unruhig ihre Finger knetet. Jeder stellt sich kurz vor und erklärt, warum er sich für diesen Kurs entschieden hat. Die meisten wollen wie Maren verschiedene Techniken einfach einmal ausprobieren und alle sind mehr oder weniger dringend auf der Suche nach Entspannung, nach einem Fluchtweg aus dem Hamsterrad, nach mehr Gelassenheit, nach ihrer Mitte. Maren fühlt sich wohl im Kreis von elf Gleichgesinnten.
Die Kursleiterin erklärt, wie die Abende ablaufen werden. Es wird zunächst immer ein bisschen Theorie geben – über Stress und seine Auswirkungen, aber natürlich auch über die jeweilige Entspannungsmethode, wie sie funktioniert, wo und wie sie genutzt werden kann. Dann folgt der praktische Teil mit entsprechenden Übungen. Manchmal werden sich Theorie und Praxis auch abwechseln.
Wasser steht zur Selbstbedienung bereit und die Kursleiterin erklärt, warum es auch für die Stressbewältigung wichtig ist, den Körper mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen.
Wasser
Der menschliche Körper besteht zu einem Großteil aus Wasser. Sind wir gestresst, benötigen wir mehr Flüssigkeit als im entspannten Zustand. Deshalb ist Trinken dann noch wichtiger als sonst, und zwar am besten bevor man Durst verspürt.
Vorsicht bei gesundheitlichen Einschränkungen
Eines ist Maria noch sehr wichtig: „Bevor es losgeht, habe ich noch eine Bitte. Falls jemand gesundheitliche Beeinträchtigungen hat, sei es das körperliche Befinden oder auch bestimmte Bilder, die Angst auslösen, wäre ich dankbar für einen Hinweis. Zum einen geht es um euer Wohlbefinden, zum anderen auch um gesundheitliche Aspekte. Nicht jede Methode ist für jeden geeignet. Menschen mit akuten Muskel- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollten zum Beispiel bei der Progressiven Muskelentspannung besonders achtgeben oder lieber eine andere Methode wählen. Außerdem ist es mir wichtig, dass ihr euch so wohl wie möglich fühlt. Wenn jemand zum Beispiel auf einem Ohr nicht gut hört, können wir es sicherlich gemeinsam so einrichten, dass diese Person so liegt, sitzt oder steht, dass sie alles mitbekommt. Ihr könnt mich selbstverständlich auch in der Pause oder nach Kursende ansprechen.“
Was ziehe ich an?
Nachdem sich erst einmal niemand meldet, fährt Maria fort: „Die Übungen werden wir mal im Sitzen, mal im Liegen und sogar im Stehen durchführen. Es ist wichtig, dass wir verschiedene Varianten ausprobieren. Denn nicht immer haben wir ein Bett oder ein Sofa zur Verfügung, um uns zu entspannen. Es muss zur Not auch mal an der Bushaltestelle oder in der Warteschlange im Supermarkt gehen.
Da kommt auch schon die erste Frage von einer Teilnehmerin: „Welche Kleidung ist denn angebracht? In der Ausschreibung stand, wir sollen dicke Socken mitbringen.“ Maria erläutert: „Viele – vor allem wir Frauen – bekommen schnell kalte Füße, wenn wir still sitzen oder liegen. Dicke Socken leisten da gute Dienste. Eines möchte ich allerdings gleich vorweg stellen: Es gibt hier überhaupt kein Muss. Davon habt ihr im Alltag schon genug. Alles ist freiwillig. Wer die Schuhe anbehalten möchte, der darf das. Wer Übungen im Sitzen statt im Liegen machen möchte, der darf auch das. Es ist wirklich euch überlassen. Natürlich kann der Nutzen unterschiedlich sein. Wenn ich mich in zu engen Schuhen nicht wohl fühle, wird das meine Chance zu entspannen reduzieren. Wenn ich meine Krawatte nicht ablegen oder lockern will, bei einer figurbetonten Hose den Gürtel oder Knopf geschlossen lasse, dann wird mich das einengen. Bequeme Kleidung ist einfach angenehmer. Das kann die Jogginghose sein, muss aber nicht. Wer direkt von der Arbeit kommt, der ist eben in Alltagskleidung. Es muss vielleicht an unseren gemeinsamen Tagen dann nicht die engste Hose oder der engste Rock sein. Letztendlich aber ist das Ziel, die Übungen in jeder Situation anwenden zu können. Deshalb werden wir auch nicht ausschließlich im Liegen üben, obwohl sich viele dabei vielleicht am besten entspannen können. Allerdings ist die Gefahr einzuschlafen nicht zu unterschätzen. Das ist grundsätzlich nicht so tragisch. Dann hat für euch der Schlaf einfach Priorität. Einige werden die eine oder andere Methode sogar nutzen, um einzuschlafen. Schade ist nur, dass ihr dann nichts mehr von der Methode mitbekommt. Außerdem bedeutet Entspannung nicht gleichzeitig Schlaf. Manchmal brauchen wir ein paar Minuten Ruhe, weil wir anschließend besonders leistungsfähig sein müssen. Es kann sein, dass wir ein schwieriges Gespräch vor uns haben oder eine Präsentation oder einen Vortrag.“ Einer der drei Männer ist hellhörig geworden: „Also, ich suche vor allem nach einer Methode, um mein Lampenfieber vor einem Vortrag zu reduzieren. Ich bin jedes Mal furchtbar aufgeregt.“ „Ja, wir kennen sicher alle Situationen, in denen uns das Herz bis zum Hals schlägt. Wenn ihr geübt seid in einer Entspannungsmethode, genügt meist schon eine kurze Sequenz. Außerdem gibt es viele kleine Entspannungsübungen, die sich gut für den Alltag eignen. Eine davon ist zweifellos die Atemtechnik, mit der wir uns ja bereits heute befassen werden“, erwidert die Kursleiterin.
Stress als Lebensretter?
Zunächst gibt es erst einmal ein bisschen Theorie. Hierbei zeigt sich, dass ein Rückblick in die Vergangenheit durchaus spannend sein kann. „Wer von euch glaubt, dass wir ohne Stress überlebt hätten?“ Maren und die anderen schauen sich ein wenig ratlos an. Als sich keiner meldet, fährt Maria fort: „Für unsere Vorfahren, ich meine die, die damals noch in der Höhle lebten und mit einem schmucken Bärenfell bekleidet umherstreiften, war Stress noch viel überlebenswichtiger als für uns heute. Und es gab durchaus sehr, sehr stressige Momente für unsere Ahnen. Versetzt euch mal in folgende Situation: Ihr kommt morgens genüsslich aus der Höhle gekrochen, den Schlaf noch in den Augen, reckt und streckt euch erst einmal - und plötzlich hört ihr ein Knacken im Gebüsch. Was ist das - etwa der Säbelzahntiger, dem ihr gestern nur mit knapper Not entkommen seid? Sofort wird euer Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Ihr habt Stress. Abhauen oder draufhauen, Flucht oder Kampf? Was ist die lebensrettende Strategie? Euer Körper schaltet blitzschnell in den Stressmodus. Die Nebennieren schütten die Hormone Adrenalin und Noradrenalin aus. Atmung, Herzschlag und Durchblutung werden beschleunigt, der Blutdruck steigt, damit die Muskeln in Armen und Beinen gut mit Energie versorgt werden können. Das Immunsystem fährt hoch, die Verdauung herunter. Schließlich könnt ihr mit dem Säbelzahntiger keine Toilettenpause aushandeln und erst einmal hinter einem Busch verschwinden.
Ein kurzer Sprint und ihr rettet euch in die Höhle. Ist noch einmal gut gegangen. Die sichere Höhle war ganz nah. Gestern war es knapper. Ihr seid gerannt, was das Zeug hielt, den Atem des Tigers im Nacken. Ihr seid gestolpert, beinahe hätte er euch am linken Fuß erwischt. Ihr habt euch blitzschnell wieder hoch gerappelt, seid über eine Hecke gesprungen und mit letzter Kraft in eure Höhle geflüchtet. Das nenne ich Stress pur. Hat uns dieser akute Stress damals geschadet?“, will Maria nun wissen und fügt schmunzelnd hinzu: „Vorausgesetzt natürlich, wir haben den Kampf oder die Flucht überlebt.“ „Nein, vermutlich nicht. Er hat uns erst ermöglicht, zu fliehen oder zu kämpfen“, vermutet Marens Nachbar zur Linken. „Genau, Stress macht uns leistungsfähig – sofern wir ihm nicht ständig ausgesetzt sind und er nicht chronisch wird. Ein paar stressige Momente können wir durchaus verkraften. Auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger haben unsere Vorfahren die vom Körper bereit gestellte Energie verbraucht. Stresshormone hatten keine Chance, sich dauerhaft im Blut anzusammeln. Doch wie sieht das heute aus? Es gibt sie immer noch – die Säbelzahntiger. Sie haben sich bloß verkleidet - kommen zum Beispiel als Chef daher oder als lauter Nachbar. Unsere Vorfahren haben durch Flucht oder Kampf ihren Stress abgebaut. Wir aber können den Chef nicht verhauen, und weglaufen macht auch keinen guten Eindruck. Der Stress, der uns heute belastet, hat mit den plötzlichen Gefahrensituationen, denen unsere Vorfahren ausgesetzt waren, nicht mehr viel zu tun. Zeitnot, permanente Verfügbarkeit, ein zu hohes Arbeitspensum, dazu noch familiäre Aufgaben – all das führt zu chronischem Stress. Der sichert nicht kurzfristig unser Überleben, sondern führt zu einer Dauerbelastung. Denn unser Gehirn und unser Körper fahren weiterhin ihr Steinzeitprogramm ab. An unseren Reaktionsmustern hat sich nichts verändert. Wir können die tollsten technischen Geräte bedienen und haben doch nach wie vor ein steinzeitdesigntes Gehirn, das sein Stressprogramm abfährt genau wie bei unseren Vorfahren. Die Säbelzahntiger sind moderner geworden, unser Gehirn nicht. Bei manchen ist der Stresspegel inzwischen so hoch, dass sie überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie stehen unter Dauerstrom. Ich will jetzt keinen Vortrag halten über die Folgen. Lasst uns lieber überlegen, wie wir mit Stress umgehen können oder noch besser, wie wir unser Stressempfinden reduzieren können.“
Stressoren und Handlungsmöglichkeiten
„Jetzt sind wir dran“, denkt Maren und sie liegt richtig. Jeder Teilnehmer soll spontan seine größten Säbelzahntiger oder auch Stressoren aufschreiben. Damit keiner lange nachdenken kann, ist die Zeit auf 60 Sekunden begrenzt. Maren hat eine ganz nette Sammlung zusammen bekommen.
Doch das war nur der erste Schritt. Nun sollen alle zu den drei erstgenannten Stressfaktoren innerhalb von 90 Sekunden je mindestens eine Lösungsmöglichkeit entwickeln. „Ich habe geglaubt, ich bin bei einem Entspannungskurs“, denkt sich Maren. Aber da geht es auch schon los. Eigentlich ist es ganz gut nach den Eingangsinformationen über Stress nun selbst aktiv zu werden. Die Kursleiterin erklärt, dass es wichtig ist, den Feind zu kennen. Denn jeder ist durch andere Faktoren gestresst. Bei dem einen sind es die vielen, kaum zu schaffenden Aufgaben, bei dem anderen sein eigener Hang zum Perfektionismus, die schlechte Arbeitsorganisation, fehlende Informationen, die Erwartung, ständig erreichbar sein zu müssen. Wiederum andere leiden unter den Anforderungen der Familie, unter dem eigenen schlechten Gesundheitszustand usw. Die Auswahl an Stressoren ist reich, die Auswahl an Lösungsmöglichkeiten zum Glück auch. Die Zeitvorgabe ist so knapp gewählt, damit der „Bedenkenträger“ in uns gar nicht erst die Chance hat, unsere Ideen madig zu machen mit Sprüchen wie „Das klappt ja doch nicht“. In der Tat hat auch Maren innerhalb dieser kurzen Zeit Ideen entwickelt, wie sie mit ihren Stressauslösern umgehen könnte. Ob sich diese Ideen umsetzen lassen, weiß sie noch nicht. Erstaunlich ist erst einmal, dass ihr so spontan etwas eingefallen ist. Den anderen Kursteilnehmern ist es ähnlich ergangen. Vielleicht ist manches ja viel einfacher als es scheint. „Wenn erst einmal der Anfang gemacht ist, fallen mir bestimmt noch andere Lösungsmöglichkeiten ein“, denkt Maren zufrieden mit dem ersten Teil des Abends.
Doch es geht noch weiter mit der Liste. Nun sollen alle die drei Säbelzahntiger auf ein gesondertes Blatt schreiben, die ihnen am Ärgsten zu schaffen machen. Das können, müssen aber nicht die drei ersten aus der Vorrunde sein, zu denen jeder selbst ja schon Ideen entwickelt hat. Ein A4-Blatt wird in drei Drittel – eines für jeden Stressor - eingeteilt. Nun wandern die Blätter reihum von Teilnehmer zu Teilnehmer und jeder schreibt zu einem der drei Stressoren eine Idee direkt auf das Papier. Am Ende landet das Blatt dann – versehen mit im besten Fall elf Lösungen wieder beim Absender. Natürlich ist die Zeit wieder begrenzt. Das macht richtig Spaß. Da es hier nicht um die eigenen Probleme geht, sprudeln die Ideen noch besser. Es geht wirklich um Spontanität, darum, dem ersten Impuls zu folgen und nicht ins Grübeln zu verfallen, um die beste Lösung zu finden. Das scheint eine gute Übung gegen Perfektionswahn zu sein. Auch bei Maren findet sich Perfektionismus auf der Liste.
Maria ermutigt die Teilnehmer, solche spontanen Listen ruhig öfter anzufertigen: „Es muss dabei nicht nur um Stress gehen. Auch Dankbarkeits- und Ressourcenlisten sind klasse. Denn Dankbarkeit – auch für die vielen kleinen Dinge im Alltag wie die warme Dusche, den duftenden Kaffee oder ein liebes Wort - reduzieren unsere Stressanfälligkeit. Mach dein Denken zum Danken.“ „Welch ein schöner Satz. Den will ich mir merken“, denkt Maren. „Zu wissen, auf welche Ressourcen wir im „Ernstfall“ zurückgreifen können, beruhigt. Das müssen nicht unbedingt andere Menschen oder Dinge sein. Wichtige Ressourcen sind auch unsere eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften“, rundet Maria das Thema ab.
Nun können alle in einer kurzen Pause durchschnaufen, die Keramikabteilung besichtigen, in den mitgebrachten Apfel beißen und vor allem miteinander ins Gespräch kommen. Auch Maren tauscht sich mit einigen aus. Alle haben das Gefühl, dass es eine gute Entscheidung war, den Kurs zu buchen.
Dann geht es auch schon weiter mit einer kurzen theoretischen Einführung. „Haben wir einen tibetischen Mönch unter uns?“, will Maria wissen. Als Reaktion erntet sie Kopfschütteln und Schmunzeln. „Dachte ich mir fast. Man sagt, tibetische Mönche könnten ihren Herzschlag regulieren. In unserer westlichen Welt ist diese Kunst den meisten versagt. Wir können allerdings unseren Atem kontrollieren, zumindest in einem gewissen Rahmen. Im Ruhezustand atmen wir ungefähr 12- bis 15mal pro Minute. Unter Stress atmen wir flach und schnell. Manchmal vergessen wir vor lauter Anstrengung sogar zu atmen. Das halten wir natürlich nicht lange durch. Ich kenne das vom Sportkurs. Bei einer anstrengenden Übung erinnert uns unsere Kursleiterin immer wieder daran, dass wir atmen dürfen. Es heißt nicht umsonst, man hält die Luft an oder da bleibt einem vor lauter Schreck die Luft weg. Wenn wir wissen, dass wir unter Stress schnell und flach atmen, wie können wir gegensteuern, um zur Ruhe zu kommen?“ „Langsam und tief atmen“, antwortet eine Teilnehmerin, die Maren gegenüber sitzt. „Genau, in stressigen Situationen sollten wir bewusst langsam und tief atmen. Ich meine natürlich nicht die Situationen, wo wir tatsächlich einmal weglaufen müssen, sondern vielmehr den ganz normalen Alltagswahnsinn, der uns unter Stress setzt, die vielen ärgerlichen und verletzenden Momente, denen wir ausgesetzt sind. Wir haben ja schon geklärt, dass wir dem Chef weder eine runterhauen noch abhauen können. Warum nehmen wir uns dann nicht die Zeit, uns durch ruhiges Atmen selbst zu beruhigen.
Wir probieren das am besten sofort aus. Dazu stellen wir uns im Kreis auf und drehen uns um, so dass wir auf die Wand bzw. auf das Fenster schauen. Ich möchte, dass sich diejenigen, die die Augen schließen, unbeobachtet fühlen.
Atemübung 1
Stelle dich bitte gerade und schulterbreit hin, beide Fußsohlen berühren den Boden. Die Knie sind leicht gebeugt. Lass die Schultern locker. Lege die Hände auf deinen Bauch. Wenn du möchtest, schließe die Augen.
Spüre wie der Einatem kühl und angenehm durch deine Nase fließt und immer tiefer geht in die Lungen und weiter bis in den Bauch. Dein Bauch wölbt sich nach vorne. Atme langsam wieder aus, lass die Luft wieder heraus. Spüre die Veränderung mit deinen Händen. Atme ein paar Mal ruhig und tief durch die Nase ein und aus. Lass den Atem bis in deinen Bauch strömen. Genieße die Ruhe, die dich dabei durchflutet.“
Nachdem alle Teilnehmer wieder sitzen, erläutert Maria, dass die Übung natürlich auch im Sitzen oder Liegen funktioniert. „Vielleicht möchtet ihr das heute Abend im Bett einmal ausprobieren. Es ist im Übrigen sehr wichtig, dass ihr in den nächsten Tagen immer mal wieder auf den Atem achtet und euch auch zwischendurch Zeit nehmt, ruhig und tief zu atmen. Das gilt auch für die anderen Entspannungstechniken, die wir in den nächsten Wochen ausprobieren werden. Ich weiß, jeder hat wenig Zeit und das tägliche Üben fällt nicht immer leicht. Wir können jedoch in Stresssituationen nur auf das zurückgreifen, was wir vorher trainiert haben. Nur wenn wir säen, können wir anschließend auch ernten.“
Die Kursleiterin hat auch noch einen „Plan B“ zu der Atemübung zu bieten: „Natürlich lässt sich die Übung variieren. Viele Menschen atmen die verbrauchte Luft nur unzureichend aus. Es bleibt immer ein mehr oder weniger großer Rest zurück. Wir werden uns gleich in einer zweiten Atemübung bewusst auf das Ausatmen konzentrieren und uns vorstellen, dass wir alles Belastende ausatmen. Wir probieren es diesmal im Sitzen. Dreht bitte die Stühle um, so dass ihr mit dem Gesicht zur Wand bzw. dem Fenster sitzt. Ihr wisst schon, es sollen sich alle unbeobachtet fühlen, ob mit offenen oder geschlossenen Augen. Los geht es …
Atemübung 2
Stelle die Füße parallel auf den Boden, halte den Rücken möglichst gerade, so dass der Atem frei fließen kann. Die Arme und Hände kannst du entspannt auf den Oberschenkeln ablegen. Lass die Anspannung so gut es geht los. Atme tief und langsam. Wenn du möchtest, schließe die Augen.
Fühle wie du über die Füße fest mit der Erde verbunden bist. Vielleicht möchtest du dir vorstellen, dass tiefe Wurzeln von deinen Füßen in die Erde reichen. Die Erde trägt dich. Du bist sicher und beschützt und kannst mehr und mehr entspannen. Atme langsam und tief ein und aus. Fühle, wie die frische Luft über deine Wurzeln in dich hineinströmt. Atmen ist Leben. Der Sauerstoff verteilt sich in deinem ganzen Körper und versorgt dich mit frischer Energie.
Atme langsam und genussvoll aus. Stelle dir vor, wie alles Belastende mit dem Ausatmen aus deinem Körper weicht. Auch der letzte Rest an Unruhe, Ärger, Stress geht mit deinem Atem. Wenn der nächste Atemimpuls kommt, atme wieder über deine Wurzeln die neue Energie ein, die sich in deinem Körper verteilt. Alles Belastende lässt du los und mit dem Ausatmen aus deinem Körper entweichen.
Atme wieder tief ein, spüre wie du mit frischem Sauerstoff versorgt wirst – von den Füßen, durch die Waden, die Oberschenkel, den unteren Rücken. Die frische Energie gelangt in deinen Bauch, den oberen Rücken, die Brust, in die Arme bis in die Finger. Die Luft strömt in deinen Hals und Nacken, in deinen Kopf, in dein Gesicht. Wo in deinem Körper hat sich noch Belastendes versteckt? Lass es mit dem nächsten Ausatmen einfach gehen. Lass die Lasten los. Spüre noch einen Moment nach. Kannst du Leichtigkeit spüren? Wie fühlt sich dein Gesicht an, deine Schultern, dein Rücken, dein Bauch?
- Kurze Pause -
Bewege langsam deine Hände und Füße, recke und strecke dich, balle die Hände zur Faust, lasse wieder los und öffne die Augen.
Die Stühle werden wieder umgedreht. Jeder hat nun Gelegenheit, etwas zur Übung zu sagen. Marens Sitznachbarin spricht vielen aus der Seele: „Wow, das war richtig toll. Ich wusste gar nicht, dass ich mir so etwas wie Wurzeln vorstellen kann. Aber es hat super geklappt. Ich glaube, wenn wir gelegen hätten, wäre ich eingenickt.“ „Ich fand es auch klasse“, meint eine andere Teilnehmerin. „Ich hatte einen ziemlich blöden Tag heute mit einem nervigen Kunden. Ich glaube, den konnte ich mir von der Schulter atmen.“
Insgesamt hat es allen gut getan – auch Maren. „Wie simpel Entspannung doch sein kann. Es muss gar nicht immer eine lange Übung sein“, sagt sie erleichtert bei dem Gedanken an ihr knappes Zeitbudget.
„Es gibt verschiedene Methoden und Übungen und die auch noch in unterschiedlichen Varianten“, nimmt die Kursleiterin den Faden auf. „Gerade der Atem erlaubt uns eine Vielzahl von kleinen, aber wirkungsvollen Übungen. Verbindet einfach einmal das Atmen mit Zählen und atmet bewusst zehnmal ein und aus. Das kann eine gute Einschlafhilfe sein. Der Einatem muss nicht über Wurzeln kommen. Eine Variante ist, über den Kopf einzuatmen und alles Belastende durch die Füße in die Erde fließen zu lassen. Ihr könnt euch auch vorstellen, dass sich beim Einatmen eine Farbe in eurem Körper ausbreitet. Das kann weiß sein, gold oder jede andere Farbe, die euch in den Sinn kommt. Experimentiert, seht es wie ein Spiel. Entspannung soll kein anstrengendes Zusatzprogramm sein, sondern Spaß machen.
Mit diesem motivierenden Schlusswort geht der erste „Entspannungsabend“ zu Ende.
Draußen vor der Tür nutzen Maren und ein paar andere Kursteilnehmer noch die Gelegenheit für einen kurzen Austausch. Der Einstieg ist geschafft, die Resonanz positiv.
Zufrieden fährt Maren nach Hause: „Eine richtig nette Runde, eine souveräne Kursleiterin und ich habe schon eine Menge für mich mitnehmen können.“
Am liebsten würde Maren sofort Sabine, ihre meditierende Freundin, anrufen. Aber nein, dafür ist es eindeutig zu spät. Das Fachsimpeln unter „Atemexperten“ muss warten. Außerdem ruft auch Marens Bett schon ziemlich laut nach ihr. Morgen heißt es wieder früh raus, und so atmet sich Maren in den Schlaf …
Der Morgen danach
Maren ist auch am nächsten Morgen noch ganz euphorisch und probiert noch im Bett liegend aus, ob das mit dem Atmen noch funktioniert. Sie muss heute unbedingt Sabine, ihre Freundin anrufen und ihr von dem gestrigen Kursabend erzählen und die Dankbarkeitsliste will sie auch auf jeden Fall erstellen. Beschwingt steht Maren auf. Den ersten Dämpfer des Tages verpasst ihr allerdings kurz darauf ihr Sohn. „Mama, ich kann mein Lieblingsshirt nicht finden.“ „Ist noch in der Wäsche.“ „Oh nee! Das darf doch wohl nicht wahr sein“, kommt die mürrische Antwort. Aus den Augenwinkeln kann Maren gerade noch sehen, wie sich Daniel an dem Wäschekorb zu schaffen macht und sein Shirt herausfischt – nicht ohne den anderen Inhalt auf dem Boden zu verstreuen. „Tief durchatmen“, denkt sich Maren. „Daniel, du willst das Shirt doch wohl nicht noch mal anziehen.“ „Klar, das geht noch.“ Stefan wirft Maren den berühmten Lassihndocheinfach-Blick zu. So können anscheinend nur Männer das Thema Sauberkeit sehen. Zum Glück ist noch genug Entspanntheit vom gestrigen Abend übrig und Maren beschließt, diesmal auf ihren Mann zu hören. Schließlich muss ihr Sohn ja mit dem Shirt herumlaufen und nicht sie. Gelassenheit hat ja auch etwas mit lassen zu tun.
„Na, Schatz, wie war es eigentlich gestern Abend bei deinem Kurs?“, fragt Stefan beim Frühstück. Maren freut sich über sein Interesse. Sie weiß, er hält das Ganze eher für „Psychoquatsch“. Als ganzer Kerl rennt und schlägt er sich den Stress aus dem Körper bei den wöchentlichen Tennisstunden mit seinem Freund Nils und kommt dabei eher außer Atem als bewusst auf den Atem zu achten. Maren legt los mit ihrem Bericht, merkt jedoch schnell, dass Stefan eher auf die Zeitung schielt als wirklich zuzuhören.
„Wann hat er eigentlich aufgehört, sich wirklich für mich zu interessieren?“, schießt es Maren kurz durch den Kopf. Dann wird ihre Aufmerksamkeit wieder von ihren Kindern beansprucht. Franzi beschimpft Daniel gerade als „asozial“, weil er das Shirt aus dem Wäschekorb angezogen hat. Daniel kontert mit „dumme Kuh“ und Maren beamt sich gedanklich zum gestrigen Abend zurück. Wie friedlich doch bei dem Kurs alles war.
Na gut, also auf ins Gefecht. Auf dem Weg mit dem Auto zur Arbeit wartet schon der morgendliche Stau auf Maren. Als sie gerade beginnen will, ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad zu trommeln, fällt ihr wieder der Atem ein. Eigentlich eine gute Gelegenheit für eine Atemübung. Maren konzentriert sich auf ihren Atem, atmet langsam und ganz bewusst ein und aus, stellt sich dabei vor, wie der Stress mit dem Ausatmen durch ihre Füße entweicht. Fantastisch – es funktioniert. Der Stau löst sich dadurch zwar nicht auf, aber Maren wird ruhiger. Sie kann die Situation jetzt sowieso nicht ändern, aber sie kann entscheiden, wie sie mit dem Stau umgeht, ob sie sich aufregt, ungeduldig wird und sich dadurch selbst stresst oder ob sie die Wartezeit nutzt für eine Atemübung.
Nicht die Situation stresst, sondern unsere Einstellung
Wir können nicht verhindern, in stressige Situationen zu geraten. Das wird immer wieder passieren. Wir können jedoch entscheiden, wie wir reagieren. Eine Situation ist einfach da. Unsere Bewertung erst macht sie zu einer Katastrophe oder einer guten Gelegenheit. Nehmen wir als Beispiel das Wetter. Wir haben nicht die Macht, Wetter zu machen, sondern müssen uns mit dem arrangieren, was kommt. Wenn es regnet, können wir uns ärgern, weil die geplante Radtour ins Wasser fällt oder uns freuen, dass wir die Pflanzen im Garten nicht gießen müssen. Egal wie wir uns entscheiden, am Regen ändert das nichts. Es ändert jedoch viel an unserem Wohlbefinden.
Willkommen im Land der Säbelzahntiger
Maren hat es endlich ins Büro geschafft. Ihr Chef empfängt sie schon ungeduldig: „Wo ist die Präsentation für den Vorstand, Frau Meyer? In 20 Minuten geht es los. Ich muss noch mal drüber gucken.“ „In Ihrer rechten Schublade, Herr Keller.“ Maren atmet erst einmal durch. Das ist ja schon wieder ein toller Empfang – kein „guten Morgen“, kein „bitte“, kein „danke“, keine Wertschätzung dafür, dass sie gestern noch eine Stunde länger gearbeitet hat, um die Präsentation fertig zu bekommen. Herr Keller ist ein übelgelaunter, knurrender Säbelzahntiger. Bei dem Gedanken muss Maren unweigerlich schmunzeln. Gut wenigstens, dass Herr Keller jetzt erst einmal für zwei bis drei Stunden mit dem Vorstand und seiner Präsentation beschäftigt ist.
Kurz darauf ruft Marens Kollegin an. Sie kommt gerade vom Arzt, ist weiterhin arbeitsunfähig geschrieben. „Na großartig, das scheint wirklich mein Glückstag zu sein“, denkt Maren, bevor das Telefon schon wieder klingelt.
So geht es den ganzen Morgen, an Pause ist nicht zu denken. Als Maren gerade Feierabend machen will, packt der Säbelzahntiger in Form von Herrn Keller sie am Wickel. „Frau Meyer, könnten sie das noch eben für mich erledigen?“ Maren beißt die Zähne zusammen und bleibt wieder einmal länger.
Nachmittags zu Hause geht es weiter: Essen kochen, Wäsche waschen, bügeln, Staub saugen, aufräumen – das normale Programm eben. Das bewusste Atmen hat Maren inzwischen schon fast vergessen. Es wird höchste Zeit, sich selbst zu motivieren. Stefan hat seinen Tennisabend mit Nils. Das ist die Gelegenheit, um endlich ihre Freundin Sabine anzurufen. Schade, es ist nur der Anrufbeantworter zu Hause. Ach ja, ist heute nicht Vollmond? Da lädt Sabine doch immer zur Vollmondmeditation ein. Das soll angeblich so kraftvoll sein. Maren ist da eher skeptisch. „Ich könnte mir ja die Listen von gestern Abend nochmals ansehen“, beschließt sie.
Interessant, Säbelzahntiger Keller nimmt einen der vorderen Plätze bei den Stressoren ein. Als Lösung hat Maren „einfach mal Nein sagen“ notiert. Die Chance hat sie vertan heute. Sagt sich theoretisch ja auch leichter. Wahrscheinlich bekommt der Keller einen Tobsuchtsanfall, wenn Maren nach Hause geht, ohne alle seine Forderungen vorher gewissenhaft erfüllt zu haben. Alles richtig machen, perfekt sein – das ist auch so ein Thema. Heute Morgen, als ihr Sohn das schmutzige T-Shirt angezogen hat, war ihre größte Befürchtung, was die anderen denken könnten – sie sei eine schlechte Mutter, überfordert mit Beruf und Familie, bei Meyers geht es drunter und drüber. Eigentlich ist es doch das Problem der anderen, was die denken und nicht ihres – theoretisch jedenfalls.
Von Tag zu Tag hält der Stress Maren stärker umschlungen und der Entspannungskurs, die Atemtechnik, die Listen geraten mehr und mehr in den Hintergrund. Das Telefonat mit Sabine, das Maren dann 2 Tage später endlich führt, bringt sie für kurze Zeit wieder auf Kurs, aber leider eben nur für kurze Zeit. Gut, dass bald wieder Mittwoch ist.
Kapitel 1: Das Wichtigste im Überblick
o Auch und vor allem bei Stress ist es wichtig, viel (Wasser) zu trinken
o Akuter Stress kann lebensrettend sein, chronischer Stress schadet
o Ressourcen- und Dankbarkeitslisten können den Blick öffnen für Positives, für Fähigkeiten und Möglichkeiten
o Wer seine Stressoren kennt, kann ihnen besser begegnen
o Aufschreiben von Stressoren und Lösungsmöglichkeiten unter Zeitdruck lässt Gedanken zu, ohne sie zu bewerten
o Den Atem können wir in gewisser Weise beeinflussen
o Ein ruhiger Atem beruhigt auch die Gedanken
o Tiefes Atmen versorgt den Körper gut mit Sauerstoff
o Atemübungen sind überall möglich
o Nicht die Situation stresst, sondern unser Umgang damit
o Nur wer in ruhigen Zeiten übt, wird das Erlernte in Stresssituationen anwenden können