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Meine Stunde Null

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Ich hatte in neurochirurgischen Abteilungen verschiedener Krankenhäuser gearbeitet, ehe ich mich dazu entschloss, eine zweite Facharztausbildung zu absolvieren, und Ärztin an einer psychiatrischen Klinik in Wien wurde. Hier betrachtete ich das Gehirn von einer neuen Seite, nicht mehr als Neurochirurgin, die Schädel mit Werkzeugen öffnet, sondern als Psychiaterin, die sich dem Gehirn ihrer Patienten über Interaktion nähert.

Als ich gerade meine Ausbildung zur Psychiaterin machte, musste ich einmal für ein Jahr an ein anderes Krankenhaus rotieren, wovon ich nicht gerade begeistert war. Ich mochte mein Leben so, wie es war. Ich liebte meinen Job und meine Abteilung. Mein Chef war angenehm und mit meinen Kollegen verstand ich mich gut. Sie waren Menschen, mit denen ich plaudern und während ruhiger Minuten auch einmal in der Sonne sitzen konnte. Bei Nachtdiensten brachte immer einer von uns Frühstück mit und die Putzfrauen kochten zwei große Kannen Kaffee für uns. Wir waren ein gutes Team, fast so etwas wie eine große Familie, und ich kam an den meisten Tagen pünktlich nach Hause.

Auch privat lief bei mir alles nach Wunsch. Ich war verheiratet, hatte fünf entzückende Kinder, und wenn ich morgens aufstand, wusste ich genau, was mir der Tag bringen würde. Nach den Tagdiensten verbrachte ich gemütliche Abende zu Hause, und nach den Nachtdiensten saß ich manchmal ganze Vormittage mit Freundinnen in Cafés, wo wir frühstückten und über Gott und die Welt redeten.

Ich mochte dieses Leben, weil ich schon immer einen Hang zur Gemütlichkeit gehabt hatte. Schon in der Schule hatte ich gerne den Sport geschwänzt, um stattdessen mit Gleichgesinnten im Kaffeehaus zu sitzen. Ich machte mich auch einfach nicht gut im Sport. Ich war das Mädchen, das sich beim Volleyball aus Furcht vor dem Ball bückte. Wenn es darum ging, an den Seilen hochzuklettern, schaffte ich es mit meinen Spaghetti Armen keine zehn Zentimeter vom Boden weg. Doch auch ohne Sport hatte ich mich immer wohl in meiner Haut gefühlt. Bewegung machen bedeutete für mich jetzt, mit den Kindern in den Park zu gehen.

An meinen freien Tagen machte ich es mir am liebsten zu Hause bequem, las ein paar Zeitschriften, setzte mich vor den Fernseher oder sah mir auf meinem iPad meine Lieblingsserien »2 Broke Girls« und »Two and a Half Men« an, während ich Mikrowellenpopcorn aß.

Oft kamen meine Freundinnen zu Besuch. Für meine Kinder waren sie wie Tanten. Dann drängten wir uns alle um den kleinen Küchentisch und tranken, je nach Tageszeit, Milchkaffee oder Rotwein. Manchmal lief eine von uns zum Italiener und holte Pizza für alle. Wenn Gregor, mein Mann, nach Hause kam, war die Pizza immer schon weg und wir alle ziemlich betrunken. Es war nicht nur ein angenehmes und ruhiges, sondern auch ein fröhliches Leben und meine laufende Ausbildung zur Psychiaterin brachte ich auch noch unter.

Doch jetzt musste ich im Rahmen eines Austauschprogrammes für ein Jahr an eine größere Klinik, um dort kompliziertere Fälle zu sehen, als die, mit denen ich sonst zu tun gehabt hatte, und um noch mehr praktische Erfahrung zu sammeln. Ich kannte den Arbeitsalltag in solchen Abteilungen bis dahin nur vom Hörensagen. Dort gab es endlose Dienste und viel Stress, eine Kombination, die mich noch nie gereizt hatte. So motiviert konnte ich in Sachen Karriere gar nicht sein, um unbezahlte Überstunden ein paar Drinks mit Freundinnen vorzuziehen. »Du bist dort ja nur Gast, nur eine Art Zuschauerin«, sagte Gregor zu mir, »das Jahr wird sicher schnell vorbeigehen.«

Ich war damals weder dick noch gertenschlank. Nach meiner letzten Schwangerschaft hatte ich relativ rasch wieder abgenommen. Sicher hätte meine Taille etwas schöner geformt sein können und wie alle meine Freundinnen dachte ich, dass ich mit fünf Kilo weniger den absoluten Traumkörper hätte, aber im Grunde war ich ganz zufrieden mit mir. Das sollte sich nun bald ändern.

Während der ersten Tage in meinem neuen Job fühlte ich mich tatsächlich noch wie ein Gast. Ich redete mir ein, dass mich die Probleme dieser Abteilung nichts angingen, doch diese Einstellung hielt ich nicht lange durch. Nachdem ich einige Tage bis tief in die Nacht Überstunden gemacht hatte, nur um die ganz normale Routinearbeit zu erledigen, wurde mir klar, dass dies ein sehr langes Jahr werden würde. Es lag auf einmal wie eine Ewigkeit vor mir.

Wenn ich abends endlich nach Hause kam, war ich so gestresst, dass ich, noch während ich das Abendessen zubereitete, zur Beruhigung ein großes Stück Baguette mit Nutella essen musste. Morgens brauchte ich zwei Schokocroissants und zwei große Tassen Milchkaffee, um einigermaßen in die Gänge zu kommen. Ich wollte einfach nicht in diese Klinik.

Rasch gewöhnte ich mir an, zwischendurch Sandwiches oder Kuchen zu essen. Oft bestellte ich, wenn wir gemeinsam mit den Krankenschwestern zu Mittag Pizza bestellten, eine extra Pizza auf Vorrat, weil ich nie wusste, wie lange der Dienst in den Abend hinein dauern würde. Zwischen den Patientengesprächen fing ich an, alles zu essen, das ich zwischen die Finger bekam. Nach nur zwei Wochen in der neuen Abteilung hatte ich drei Kilo zugenommen.

»Blödsinn«, sagte Gregor, als ich ihm mein Problem schilderte. »Du hast einfach zu salzig gegessen und zu viel Wasser im Körper. Das sind diese Baguettes. Wenn du sie weglässt, hast du gleich wieder dein normales Gewicht.«

Doch mir war als Gehirnspezialistin der verhängnisvolle Zusammenhang zwischen Stress und Körpergewicht nur allzu bekannt. Unter Stress bilden wir das Hormon Cortisol. Das kann Stress am Arbeitsplatz sein, aber auch psychischer Stress, etwa eine Beziehungskrise, finanzieller Druck, ein familiäres Problem oder auch körperlicher Stress, ausgelöst durch einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel. In einer Stresssituation sendet die Großhirnrinde Signale an den Hypothalamus. Dort beginnt eine chemische Reaktion, die über die Hypophyse, die Hirnanhangdrüse, läuft und mit der Bildung von Cortisol in der Nebennierenrinde endet.

In der Steinzeit, für deren Anforderungen unser Körper nach wie vor programmiert ist, hatte das Cortisol die Aufgabe, in Stresssituationen, wie etwa der Mammutjagd, einen Energieschub zu gewährleisten. Cortisol erzeugt Energie, indem es bestimmte Stoffwechselvorgänge aktiviert.

Dieser Prozess hat allerdings einige ziemlich unangenehme Nebenwirkungen. Ist der Cortisolwert längerfristig erhöht, kann es zu einem Muskelabbau mit Muskelschwund und allgemeiner Schwäche kommen. Außerdem verändert Cortisol die Blutsalze, was eine verstärkte Wasserbindung im Körper bedingt. Dadurch steigen der Blutdruck und das Gewicht.

Zudem setzt Cortisol Fettsäuren aus den Fettzellen frei. Das hört sich gut an, ist es aber nicht. Wenn der Körper die viele Energie nicht verwertet, wandern die Fettsäuren wieder in die Fettzellen, die sie erneut speichern, nun aber vorwiegend in den Fettspeichern der Bauchregion und im Gesicht. Dauerhaft zu viel Stress macht uns also zu Michelin-Männchen mit Mondgesichtern.

In der Steinzeit waren diese Mechanismen kein Problem. Durch die intensive körperliche Betätigung während der Stressphasen haben die Menschen damals die vom Cortisol bereitgestellte Energie gleich verbraucht. Auf kurze Stressphasen folgten außerdem lange Ruhephasen und keine andauernden finanziellen Belastungen, keine chronische Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, kein unaufhörliches Multitasking und es herrschte nicht die Bewegungsarmut, die heute unsere Zivilisation prägt.

Wir dagegen haben mit den Nebenwirkungen des Cortisol ein Problem und bei mir war es ein besonderes großes. Studien über den Cortisolspiegel von Ärzten während Nachtdiensten belegen, dass er unverändert hoch ist, egal, ob der Arzt einen ruhigeren Nachtdienst hat und zwischendurch schlafen kann oder ob er fünfundzwanzig Stunden operieren muss. Der Organismus des Arztes ist durch die ständige Rufbereitschaft in einem dauernden Alarmzustand. Das betrifft nicht nur Ärzte, sondern alle Menschen, die ständig abrufhar sein müssen, etwa auch Verkäufer, Kassierer oder Taxifahrer.

Doch mein Stress wuchs weiter. Das lag nicht an den anderen Ärzten dieser Abteilung. Viele von ihnen waren ganz nett und einige waren sogar richtig lustig. Es waren die Arbeitsbedingungen, die ich so schwer ertrug. Es kamen zu viele Patienten, wir waren zu wenige Ärzte, und keiner von den wenigen blieb lang. Die meisten waren weg, sobald sie etwas Besseres fanden, und manche verschwanden schon nach zwei Wochen wieder. Bloß ich hatte keine Wahl. Ich musste ein ganzes Jahr bleiben. Diese Ewigkeit von einem Jahr.

Ich war ständig vollkommen erschöpft. Oft hielt ich am Heimweg bei einer Bäckerei und verschlang die Mehlspeisen, die ich mir gekauft hatte, noch auf der Straße. Sie waren meine Belohnung für den Stress. Der Zucker beruhigte mich auch wirklich, ich konnte es spüren.

Dann wurde einer meiner Kollegen ständig krank und wir anderen mussten uns auch noch seine Arbeit und seine Nachtdienste teilen. Ich schlief immer weniger und hatte das Gefühl, das ganze Leben würde mir entgleiten. Ich vergaß Rechnungen zu bezahlen und bekam Mahnungen. Ich war immer zerstreut und verlor ständig etwas. Ich ließ die Handyhülle in der U-Bahn liegen, warf meinen Arztmantel samt dem Schlüssel in die Wäsche und verlor mehrere Sonnenbrillen. Nach einem Vortrag über Psychopathologie ließ ich einmal Gregors hundert Euro teuren Super-Spezial-Laserpointer liegen und fand ihn nie wieder. Mehrmals sperrte ich mich aus unserer Wohnung aus und musste quer durch die Stadt zu Gregor ins Büro fahren, um mir seinen Schlüssel zu holen.

Die Stationssekretärin unserer Abteilung hatte in ihrem Schreibtisch eine große Lade, die wir »die Notfall-Abteilung« nannten. Die ganze Lade war randvoll mit Schokolade in 300-Gramm-Tafeln, mit Pralinen und Schokoriegeln. Dort bedienten wir uns und füllten sie hinterher wieder auf. Es gab Nachtdienste, zu denen ich eine 300-Gramm-Tafel für alle mitbrachte, sie aber bereits zur Halbzeit selbst aufgegessen hatte. Ich aß immer zwei Reihen schnell hintereinander, einfach um mich ein bisschen zu beruhigen oder zu belohnen, und um mich kurz gut zu fühlen, ehe die nächste Katastrophe über mich hereinbrach.

Nach zwei Monaten hatte ich mehr als fünf Kilo zugenommen. Meine Lieblingsjeans bekam ich fast nicht mehr zu und wenn, kam ich mir wie eine Knackwurst vor. So trug ich immer die gleichen zwei Hosen, die mir noch halbwegs passten, und ansonsten Röcke. Es war fürchterlich.

Zu meiner Rechtfertigung vor mir selbst sagte ich mir, dass ich nur dieses Jahr irgendwie überstehen müsste, und dass ich andere Probleme hätte, als mich um meine Figur zu kümmern. Etwas von meinem Essen wegzulassen kam nicht in Frage, denn an vielen Tagen war Essen das einzig Schöne für mich. Manchmal hatte ich den Eindruck, ich lebte nur von Mahlzeit zu Mahlzeit und meine Riesen-Nutella-Baguettes waren der große Lichtblick meines Alltags.

Gregor erzählte mir zur Aufheiterung, wie beim Heer die Rekruten während der Grundwehrausbildung die Tage zählten. Überall, an den Spinden und in den Toiletten, stand es geschrieben oder eingeritzt. NL: 100. Neue Lage: 100 Tage, bedeutete das. Ich zählte die Tage ab, die ich noch in der Abteilung bleiben musste und schrieb auf das Kuvert einer Strafverfügung wegen Falschparkens: NL: 290. Es war furchtbar.

Als ich sieben Kilo zugenommen hatte, wurde mir klar, dass ich etwas ändern musste. Gregor meinte zwar, ich solle ruhig bleiben, die Kilos würden ganz von selbst wieder verschwinden, half mir dann aber doch beim Durchforsten der Diätbücher in den Buchhandlungen.

Ich hatte schon in der Vergangenheit immer wieder Diäten ausprobiert und war an jeder gescheitert, aber damals war mein Druck auch nicht so groß gewesen. Eine neue Diät zu beginnen, das hatte so etwas Hoffnungsvolles. Nach Essensplänen einzukaufen, in der Früh weißes Joghurt zu essen und Salat in die Arbeit mitzunehmen.

Ich probierte auch diesmal verschiedene Diäten aus, aber schon nach wenigen Tagen fing ich immer zu schummeln an. Auch deshalb, weil zu dem Stress in der Arbeit jetzt immer mehr Streitereien mit Gregor kamen und mir die Kinder ständig den letzten Nerv raubten. In so einer Stimmung hätte der kleine Salat mit Vollkornbrot einfach nichts ausrichten können, zumal bei »NL: 220«. Außerdem war da auch noch die Stimme in meinem Kopf, die mir über meine inneren Konflikte hinweg half. Sie hatte immer beruhigende Sätze für mich parat.

Ein kleines Stück Schokolade geht immer.

Iss einfach heute ein bisschen mehr und dafür morgen nichts!

Macht ja nichts, wenn du jetzt ein Thunfisch-Sandwich isst, lass dafür das Abendessen aus!

Natürlich blieb es nie bei dem einen Stück Schokolade und natürlich gab es nie einen Tag, an dem ich nichts aß. Es gab auch kein einziges Abendessen, das ich ausließ, eher aß ich für zwei.

Nach wenigen Tagen verwarf ich die jeweilige Diät wieder ganz. So will ich nicht leben, dachte ich jedes Mal, lieber werde ich fett.

Die Diäten nutzten mir nicht nur nicht, sie schadeten mir sogar. Das wurde mir klar, während ich im Fernsehen eine besonders schlimme Abnehmsendung sah. Eine Ernährungsberaterin mit weit aufgerissenen Augen besuchte stark übergewichtige Menschen in ihren Wohnungen und entwickelte Ernährungs- und Abnehm-Programme für sie. Diesmal war sie bei einer jungen Frau, die fast hundertdreißig Kilo wog. Die Beraterin hatte sich angesehen, was die Frau den ganzen Tag aß und mäkelte daran herum.

Die Portionen der jungen Frau waren wirklich groß. Zwei Teller Nudeln und dann noch drei Wiener Schnitzel, eine Familienportion Eis, und so ging es weiter. Das ging natürlich nicht. Aber diese Beraterin hatte so etwas Belehrendes. »Kennst du eigentlich die Risiken deines Gewichts?«, fragte sie. Sie sprach von Zuckerkrankheit und der Amputation von Extremitäten. Zur Demonstration zeigte sie der Frau eine Prothese. »Das ist deine letzte Chance, abzunehmen«, sagte sie zu ihr und es klang wie eine Drohung.

Es mochte ja alles stimmen, was sie sagte, aber dieses Angst machen, das Drohen mit schlimmen Folgen und der Druck, den sie erzeugte, machten mir alleine beim Zusehen Stress und ich überlegte sogar hinterher, ob ich mir nicht einen kleinen Kakao holen sollte.

Diese Beraterin war besonders brutal, doch im Prinzip läuft es bei allen Diäten auf dieses belehrende »Mach es einfach so, wie ich es dir sage, und wenn du es nicht schaffst, hast du etwas falsch gemacht!« hinaus.

Ich hatte immer gespürt, dass in dieser Art von Tipps eine gewisse Aggressivität steckte, dass sie Stress auslösten, den Cortisolspiegel hoben und uns damit erst recht zu Michelin-Männchen mit Mondgesichtern machten.

Neuropsychologisch ist es für uns nicht nur enttäuschend, wenn wir an einer Diät scheitern und sie abbrechen, sondern auch, wenn wir zum Beispiel bloß einmal das Joggen auslassen, das wir uns vorgenommen haben. Dann haben wir unsere Pläne nicht eingehalten und auch wenn sie unrealistisch gewesen sein mögen, fühlen wir uns als Versager. Das Gefühl, versagt zu haben, also die Enttäuschung über uns selbst, löst Stress aus, biochemisch betrachtet genau den gleichen Stress wie ein ungemütlicher Arbeitsplatz.

Nach dieser Erkenntnis beschloss ich neuerlich, meine Versuche mit Diäten vorerst zu verschieben.

Nach den Weihnachtsfeiertagen, etwa acht Monate nach meinem Wechsel in die neue Abteilung, hatte ich mehr als zehn Kilo zugenommen. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, die dicken Oberschenkel und das dicke Gesicht, bekam ich schon allein durch diesen Anblick noch mehr Stress. Dann brauchte ich so rasch wie möglich ein Baguette mit Nutella. Diese Baguettes waren meine besten Freunde geworden.

Es ging mir eigentlich nie wirklich darum, satt zu sein. Ich erlag einfach regelrechten Fressattacken, bei denen es um Betäubung ging. Ich betäubte mich mit viel Essen und als logische Folge schwabbelten mein Bauch und mein Hintern bald. Meine Oberschenkel ebenso.

Mit dieser Figur wollte ich mir keine Markenjeans mehr kaufen. Es wäre zu frustrierend gewesen, teure Jeans in der Größe »Zirkuszelt« anzuprobieren. Ich kaufte nur mehr die billigsten Leggins und trug weite T-Shirts dazu. Es war ein Desaster. Ich fühlte mich wie eine lebendige Katastrophe.

Wir wissen alle, mit welchem Gewicht wir uns wohl fühlen. Niemand weiß das besser als wir selbst. Wenn Menschen sehr dünn oder sehr dick sind, ist das ihre Sache. Wenn sie sich mit etwas mehr Kurven oder einem gemütlichen Bäuchlein wohl fühlen, gut so. Bloß fühlte ich mich eben nicht wohl. Ich war einfach zu schwer, da halfen auch keine beruhigenden Worte. Wenn mich jemand damit trösten wollte, dass richtig dick sein doch etwas ganz Anderes wäre, konnte ich richtig wütend werden. Dann fühlte ich mich unverstanden, war enttäuscht und aß noch mehr.

Die Situation im Job entspannte sich mit Jahreswechsel etwas. Die Leitung des Krankenhauses genehmigte mehr Stellen für unsere Abteilung und mehr Ärzte kamen. Ich musste weniger Nachtdienste und Überstunden machen und die Routinearbeit war schneller erledigt. Manchmal kam ich jetzt sogar wieder pünktlich nach Hause.

Der erhoffte Effekt, dass das etwas an meinem Gewicht verändern würde, trat jedoch nicht ein. Nicht von selbst und auch nicht, als ich nachhalf. Ich scheiterte weiterhin an jeder Diät, auch wenn sie noch so neu und vielversprechend klang. Denn obwohl ich jetzt wieder viel mehr Freizeit hatte, konnte ich nicht mehr damit aufhören, ständig zu essen. Es war wie eine Sucht. Ich musste mich weiterhin ständig mit Essen beruhigen und betäuben.

Besonders schlimm war es, wenn mir Freunde und Bekannte, die meine äußerliche Veränderung inzwischen nicht mehr so leicht wegreden konnten, gut gemeinte Tipps gaben.

Warum isst du nicht einfach weniger?

Lass nur die Schokolade weg!

Ich habe mehr als sieben Kilo mit »Dinner Cancelling« abgenommen.

Laufen hilft super. Lauf einfach morgens eine Runde, dann hast du auch weniger Hunger!

Iss einfach kein Fleisch!

Iss einfach kein weißes Mehl!

Lass einfach die Milchprodukte weg!

Immer war da dieser Imperativ. Ich wusste, dass sie alle es gut meinten, aber es war trotzdem schrecklich. Ich wusste das ja alles schon. Ich wusste ganz genau, welches Nahrungsmittel wie viele Kalorien hatte. Weniger essen, mehr Bewegung, weniger Stress, weniger Kilos. Ursache, Wirkung, Lösung. Die Theorie war ganz einfach. Bloß half mir das nichts, wenn ich mich hässlich fühlte und traurig war und nur eines wollte: allein sein mit einer riesigen Tafel Schokolade.

Keiner meiner Freunde und Bekannten bemerkte, dass das ständige Gequatsche über meine Figur und die vielen gut gemeinten Tipps mich nur noch mehr unter Druck setzten. Dass sie nur das Gegenteil von dem bewirkten, was sie sollten und mitschuldig an weiteren Fressattacken waren. Doch das Schlimmste war: Als das Jahr in der inzwischen gar nicht mehr so ungemütlichen Abteilung vorbei war und ich zurück an meine ursprüngliche Klinik durfte, änderte sich rein gar nichts. Ich nahm mein neues Gewicht und meine Fressattacken mitsamt meiner Unfähigkeit, etwas dagegen zu tun, in mein altes Leben mit. Selbst als ich im Sommer eine Stelle als Psychiaterin an einer Wiener Klinik bekam, also meinen Traumjob, blieb mein Gewicht gleich.

Schließlich kam dieser kühle Herbsttag. Es war nebelig und es nieselte leicht. Ein perfekter Tag, um sich daheim zu verkriechen, um zu lesen oder ein bisschen aufzuräumen, doch ich musste zum Zahnarzt. Der Bus war wie immer knallvoll. Ich fuhr mit der Linie 13A, die Wiens beliebteste Einkaufsmeile, die Mariahilfer Straße, quert. Dementsprechend gedrängt standen in dem Bus Menschen mit ihren Einkaufstaschen und übler Laune. Ich war noch nie gerne mit dem 13A gefahren. Ich hatte sogar meine einzige Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio beendet, weil ich es nur mit dieser Linie erreichen konnte.

Ich stand in dem schmalen Gang zwischen den Sitzen und hielt mich an einer Stange fest. Ein etwa dreißigjähriger Typ wollte sich an mir vorbei quetschen, um in den hinteren Teil des Busses zu gelangen. Dabei sagte er diesen Satz.

Weich aus, Blade!

»Blad« ist ein abfälliges wienerisches Wort für »dick«. »Blad« ist noch schlimmer als dick. Es ist eine ganz schlimme Art von dick, eigentlich die schlimmste, und ich konnte mich umsehen, so viel ich wollte: Er hatte wirklich mich gemeint. Denn es stand niemand neben mir, der noch »blader« war als ich. Eine alte Frau war da noch mit einem Kleinkind an der Hand. Sie war wohlbeleibt, aber sie war dem Typen nicht richtig im Weg gestanden. Ich merkte gar nicht, wie ich Platz machte, dermaßen getroffen war ich von diesem Satz.

Weich aus, Blade!

Dieser Satz löste ein mulmiges Gefühl in meinem Magen aus, das ich den restlichen Tag nicht mehr loswurde. Ich fühlte mich elend.

Es gibt Momente im Leben, in denen wir an einer Kreuzung stehen. Wir wissen, dass wir geradeaus weitergehen können wie bisher. Es gibt aber auch einen Weg nach rechts und einen nach links und beide führen ganz woanders hin.

An jenem Nachmittag stand ich an so einer Kreuzung. Ich wusste, dass ich nicht einfach geradeaus weitergehen konnte. Der Satz, gesprochen von einem Mann, der mich bestimmt in der gleichen Sekunde wieder vergessen hatte, markierte in Sachen Figur und Ernährung meine Stunde Null. Es reichte. Ich wollte nicht mit diesem Gewicht weiterleben. Ich musste etwas dagegen tun.

Ich hatte bloß keine Ahnung, was das sein konnte, eine weitere Diät jedenfalls nicht. Nach meinen Erfahrungen damit erschöpfte mich schon der bloße Gedanke daran psychisch. Ich hatte wirklich keine Lust auf noch ein Buch von irgendeinem Fitnesstrainer, der einen Zwei-Wochen-Plan mit Knäckebrot, gegrilltem Hühnchen und frisch-fröhlichen Joggingrunden morgens um fünf empfahl. Aber was konnte ich sonst tun?

Kopfsache schlank

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