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Fall zwei

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Zwölf Uhr Mittag an einem sonnigen Tag Anfang März. Ich hatte meinen Dienst vor vier Stunden angetreten und war fit und relativ gut ausgeschlafen. Als ich in den Schockraum gerufen wurde, klang die Vorabinformation zu der Patientin drastisch. Eine deutsche Skifahrerin war ohne Helm kopfüber auf einen Stein gestürzt. Sie kam mit einer großen Platzwunde am Kopf und, logischerweise, dem Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma. Also mussten Neurochirurgen zur Stelle sein. Wer nicht gerade im OP arbeitete, musste sich in so einem Fall einfinden.

Wir, zwei Neurochirurgen und ein Anästhesist, warteten auf den Hubschrauber, der sich als schwarze Silhouette vor dem wolkenlosen Himmel auf die Landeplattform am Krankenhausdach herabsenkte. Mit einem Blick durchs Fenster auf die Landefläche stellte ich bereits fest, dass der Kopfverband der Frau komplett mit Blut vollgesogen war und das Blut schon über die Trage rann. Nach den Informationen, die ich vom Notarzt und den Sanitätern am Ort des Unfalls bekommen hatte, war mir klar, das sie keine Chance hatte. Sie würde sterben. Denn neben der Blutung deutete auch alles auf ein Hirnstamm-Schertrauma hin. Dabei entsteht durch durch den harten Aufprall des Schädels eine derartige Beschleunigung, dass der Hirnstamm vom Grosshirn abgetrennt wird, als Folge tritt eine diffuse Gehirnschädigung auf. In so einem Fall kann kein Arzt der Welt helfen.

Selbst bei einem Notfall wie diesem laufen die Vorbereitung für die Operation kontrolliert und ohne Panik. Das Ärzteteam legt die Zugänge, untersucht die Extremitäten auf Brüche und legt die Patientin auf den Tisch für die Computer-Tomographie. Die Helfer entledigen sie ihrer Kleidung, wobei sie sich nicht lange mit Reißverschlüssen oder Knöpfen aufhalten. Um die Verletzte nicht ungünstig zu bewegen, schneiden sie die Kleider mit einer scharfen Schere herunter. Bei Skifahrern denke ich manchmal, tausend Euro Anorak. Sechshundert Euro Skihose. Aber egal, diese Dinge spielen dann keine Rolle. Die Skischuhe brechen die Helfer einfach auf. Ringe schneiden sie mit Zangen von den Fingern.

Auf dem Computertomographie-Bild sah ich ein Epiduralhämatom, eine Blutung außerhalb des Gehirns, zwischen der harten Hirnhaut und dem Schädelknochen. Ein Epiduralhämatom ist grundsätzlich nicht besonders schwer zu operieren, es muss bloß alles sehr schnell gehen. Außerdem zeigte das CT-Bild, wie ich erwartet hatte, eine offene Fraktur der Schädeldecke, wobei das eingebrochene Stück Knochen im Gehirn der Patientin steckte. Überlebens-Chance meiner Einschätzung nach: gegen null.

Trotzdem musste ich operieren, denn das Herz der Patientin schlug noch. Sie hatte auch keine Scheinwerfer, wie wir es nennen, sprich keine bis an den Rand der Augäpfel erweiterten Pupillen, die auf einen Hirntod hingewiesen hätten. Sie war offensichtlich noch am Leben.

Ich schnitt die Haut ihres inzwischen vollständig rasierten Schädels an der Scheitellinie auf, klappte den Hautlappen zur Wange herunter und fixierte ihn dort mit Haken, die wie Fischerhaken aussehen. Mit der Bohrmaschine bohrte ich mehrere Löcher mit je zehn bis fünfzehn Millimetern Durchmesser in den Knochen. Beim ersten Loch setzte ich das Kraniotom an und schnitt den Knochen von Loch zu Loch auf.

Durch die Fraktur hatte ich danach zwei Stücke des Schädelknochens in der Hand und ein drittes steckte nach wie vor im Gehirn. Es hatte die harte Hirnhaut, die das Gehirn umgibt, durchdrungen und war ins Gehirn selbst eingedrungen. Es sah so ähnlich aus wie diese dreieckigen Eiswaffeln, die manchmal in den Eisbechern im Eis stecken. Gewöhnlich schnitt ich in so einem Fall die harte Hirnhaut sternförmig auf und klappte die Ecken auseinander. Aufgrund der Form der Verletzung ging das bei der Skifahrerin nicht. Ich konnte nichts tun, als das Knochenstück nehmen und es aus dem Gehirn ziehen.

Das Stück Schädeldecke, das ich entnahm, legte ich normalerweise zur Seite, um es später in eine zertifizierte Knochenbank zu schicken. Die lagerte es bei minus siebzig Grad Celsius ein, bis ich es meinem Patienten wieder einsetzen konnte. In diesem Fall ging auch das nicht. Ich hatte am Ende drei Teile der Schädeldecke in der Hand. Mit denen wäre selbst im besten Fall für die Patientin, ihrem Überleben, nichts mehr anzufangen gewesen. Ich warf sie in den Müll. „Für den Flocki“, also für den Hund, sagen die OP-Pfleger dann gewöhnlich makabererweise.

Vor mir sah ich jetzt das Hämatom, einen Klumpen geronnenes Blut, und ich begann, es mit dem Sauger abzusaugen. Danach legte ich die Hirnhaut wieder über die offene Stelle und wollte gerade mit dem Zumachen beginnen, als ich bemerkte, dass es überall wieder zu bluten begonnen hatte. Vor lauter Blut unter meinen Händen konnte ich nicht sehen, was passiert war, ich konnte nur absaugen, absaugen, absaugen. Minutenlang.

Eigentlich war klar, was passiert war. Durch die starke Blutung nach dem Unfall hatte ihr Körper alle im Blut enthaltenen Gerinnungsfaktoren aufgebraucht, und dann blutet eben auf einmal alles, scheinbar ohne Ende. Der Anästhesist, der die Blutwerte kontrollierte, fing zu schreien an. „Mach was“, schrie er, „sie steht gleich“, womit er sagen wollte, dass die Patientin schon fast einen Herzstillstand hatte.

Mir gingen damals verschiedene Überlegungen durch den Kopf. Einige hatten mit dem Überleben der Patienten zu tun. Einige mit meiner Angst zu versagen. Einfach ruhig bleiben, dachte ich. Tu, was du gelernt hast, und tu es, so gut du kannst. Die meisten der Überlegungen, die mir in diesem Moment durch den Kopf gingen, waren aber viel pragmatischerer Natur. Wenn ein Patient schon sterben musste, dann besser nicht auf dem Operationstisch sondern auf der Intensivstation. So hatten es mir meine erfahrenen Kollegen von Anfang an eingetrichtert. Tote auf dem Operationstisch machten nur Probleme. Sie machten eine Selbstanzeige erforderlich. Ich würde mich rechtfertigen müssen, warum ich dieses und jenes gemacht und dieses und jenes unterlassen hatte, auch wenn am Ende herauskäme, dass keiner Schuld an gar nichts war.

Herzstillstand.

Die Anästhesisten reanimierten meine Patientin. Ich sah das Gesicht der Skifahrerin, während ihr Blut unter dem OP-Tisch zu einer rasch anwachsenden Pfütze zusammenfloss. Auch sie war noch jung und hübsch. Doch für grundsätzliche Fragen, die das Leben und das Schicksal betrafen, hatte ich während einer Operation keine Zeit.

Ich ließ einen Kollegen anrufen, der ebenfalls Facharzt war, weil ich unmöglich die Blutung alleine stillen konnte. Als er endlich kam, bewegte er sich langsam wie unter Drogen auf den Tisch zu und betrachtete in aller Ruhe den blutüberströmten Schädel.

„Sieht schlimm aus“, sagte er.

„Mach schon“, schrie ich ihn an. „Wir müssen die Blutung stillen, und dann raus mit ihr.“

Noch nie war einer meiner Patienten am Tisch gestorben. Danach auf der Intensivstation schon, das gehörte dazu, aber noch nie unter meinen Händen. Dieses Mal sollte nicht das erste Mal sein. Mein Kollege wusste, worum es ging, und deshalb konnte ich es nicht fassen, dass er so langsam machte. Nur möglichst rasch ab auf die Intensivstation mit ihr, dachte ich.

Mein Kollege stopfte blutsaugendes Fleece in ihren Schädel. Im OP waren jetzt bereits fünf Anästhesisten. Der Tropf reichte längst nicht mehr. Die Versorgung war viel zu langsam. Die Anästhesisten pressten das Blut mit beiden Händen aus den Blutkonserven in sie hinein.

Auf einmal begann die Skifahrerin sich zu stabilisieren. Ich nähte die Hirnhaut zu und mein Kollege vernähte die Platzwunde, in aller Ruhe und mit einer Genauigkeit, als wolle er sie für eine Ausstellung in Schuss bringen. Der Mann hatte einen Hang, auf Stress mit Phlegma zu reagieren, weshalb er in einer Abteilung wie der unseren superdauerphlegmatisch war.

Theoretisch war die Operation letztendlich ganz gut verlaufen. Theoretisch würde die Skifahrerin nach ein bis drei Monaten eine weitere Operation bekommen, bei der ihr ich oder ein anderer Neurochirurg einen dauerhaften Ersatz für das fehlende Stück ihrer Schädeldecke einsetzen würde. Doch ich glaubte nicht daran. Ich rechnete damit, dass sie auf der Intensivstation sterben würde, an Herzstillstand oder an Kreislaufversagen.

Eine Woche lang sedierten die dort zuständigen Ärzte die Patientin, maßen ihren Hirndruck und hielten ihren Kreislauf stabil. Die Schwellung ging zurück. Die Ärzte konnten sie aufwecken. Sie konnte die Extremitäten bewegen und war ansprechbar. Im MR zeigte sich, dass die Patientin, anders, als ich es vermutet hatte, kein Schertrauma hatte, und dass das Gehirn beim Unfall nicht weiter beschädigt worden war. Die Art, wie sie von selbst zu sich gekommen war und Hände und Füße bewegt hatte, hatte schon angedeutet, dass sie den Unfall erstaunlich gut überstanden hatte.

Klar, sie hatte einen kahl rasierten Kopf, eine große, eingesunkene Hautstelle dort, wo die Schädeldecke fehlte, was sich nicht nur beschissen anfühlt sondern auch beschissen aussieht, aber das war normal. Das hatten alle Trauma-Patienten. Es hingen ja auch keine Spiegel auf der Intensivstation, die Patienten dort hatten andere Probleme.

Nach sechs Monaten bekam sie ein Knochendeckel-Implantat eingesetzt. Durch einen Zufall war wieder ich dafür zuständig, wobei ich vom erfreulichen Verlauf ihrer Genesung erfuhr. Für eine kleinere Stelle hätte ich selbst eine Rekonstruktion des Knochens herstellen können, aus einer Masse, die sich wie Plastilin anfühlt, die geformt und dann eingesetzt wird. Die Skifahrerin brauchte allerdings eine halbe Schädeldecke in Form einer dreidimensionalen Rekonstruktion ihres Schädelknochens aus Kunststoffkarbonplastik, und das musste nach einer CT-Vorlage angefertigt werden.

Das Einsetzen war nur noch ein Routineeingriff. Ich legte die Schädelöffnung frei, präparierte die Schichten und setzte den neuen Deckel ein. Kein Mensch würde je glauben, dass die Neurochirurgin, die sie operiert hatte, nicht mehr um ihr Leben gekämpft hatte, sondern nur noch darum, wo sie sterben würde – gleich am Operationstisch oder hinterher in der Intensivstation. Glück gehabt. Auch das gibt es.

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