Читать книгу Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben - Marion Tauschwitz - Страница 10

KAPITEL 2

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Die Luft ist leis und voll von Sehnen,

so daß man wartet auf die blauen Lerchen 1

Das Jahr 1924 ließ sich alles andere als »gut und süß« für die junge Familie an. Max Merbaum war erkrankt. »An der Lunge« umschrieb die Verwandtschaft es zuerst noch vage, bis Tuberkulose zur Gewissheit wurde. Die Krankheit schwächte Max schnell. Die Leitung des Schuhgeschäftes musste er ganz seinem Bruder übertragen. Frieda Merbaum ließ ihrem Mann beste ärztliche Hilfe zukommen. Die Arztkosten fraßen die finanziellen Rücklagen auf – und Max’ Gesundheitszustand verschlechterte sich dennoch zunehmend.

Inspektionsarzt Dr. Saveanu war ununterbrochen im Einsatz. Die »weiße Pest« breitete sich epidemisch in der jüdischen Gemeinde von Czernowitz aus, raffte Alte und Junge gleichermaßen dahin. »Phtisis Pulmonum« trug der Amtsarzt wieder und wieder ins Sterberegister des Jahres 1924 ein.

Max war ein guter Vater, ein begeisterter Vater. Sooft es ging, führte er seine kleine Selma zu Spaziergängen aus. Immer wieder zur Verwandtschaft in die Bilaergasse 16. Dort steckte ihm Abraham jedes Mal hauseigene Milch und Butter aus der Meerbaum’schen Molkerei zu.2 Max verfiel zusehends, verlor immer mehr an Kraft. Die Verwandtschaft erinnerte sich, wie stolz Max auf seine Tochter war. Doch auch, dass es schlecht um den jungen Vater stand. Sein körperlicher Verfall war nicht aufzuhalten.

Friedas dreiunddreißigster Geburtstag am 29. Oktober 1924 wird von der Krankheit ihres Mannes überschattet gewesen sein. Als der November, der tristeste aller Monate in Czernowitz, mit feuchter Kälte den nahen Winter ankündigte, ging es mit Max zu Ende. Am 9. November, einem Sonntag, kam Dr. Saveanu in die Rapfgasse 6, um nur noch den Tod des Zweiunddreißigjährigen zu konstatieren und die Todesursache festzuschreiben: »Phtisis Pulmonum.« Am Tag darauf wurde Max Merbaum auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz beigesetzt.3

Areal 61 A, Plot 32. Jedes Areal fasst mehr als zweihundert Grabstätten. Aufgestellt für alle Ewigkeit. Und doch widerstehen die Grabsteine nicht der Zeit und nicht der Natur: Sie sacken ab. Sie rutschen weg. Neigen sich zur Seite, am Nachbarstein Halt suchend, der doch selbst dem Verfall wenig entgegenzusetzen hat. Die Pflanzenwelt wird nach den Steinen greifen und sie mit ihrem Grün überwuchern. Zögerlich sanft, entschlossener bald und schließlich undurchdringbar. Mannshohe Riesen-Goldruten schlagen über den Grabmalen zusammen, verschlucken sie. Essigbäume bilden wehrhafte Mauern. Ahornschösslinge stellen sich quer. Schlingpflanzende Fußfesseln lassen Besucher straucheln. Dornen stechen. Nesseln brennen. Reife Holunderbeeren geben ihren blauroten Saft dazu. Bienen schwärmen auf. Für das Grabmal hatte die Familie belgischen Marmor ausgesucht. Der es nicht mit der Robustheit seines italienischen Gesteins-Bruders aufnehmen kann. Wind und Wetter werden sich durch die Schichten fressen und abtragen, was für die Ewigkeit gedacht war. Knapp neunzig Jahre später wird die Gravur mehr zu ertasten als zu entziffern sein. »Die Seele muss zum Himmel fliegen«– auch das Epitaph mit den hebräischen Schriftzeichen über dem deutschen Text wird kaum noch lesbar sein.


Grabstein: Max Meerbaum

»Max Meerbaum gest. 9. Nov 1924 im 32. Lebensjahr tief betrauert von seiner Gattin und den Angehörigen« ist in die graue Marmorplatte eingemeißelt worden, die in hellen Sandstein eingelassen ist. Im Tod ist Max Merbaum endgültig in die Familie väterlicherseits aufgenommen worden: »Meerbaum« wurde mit Doppel-e in den Stein eingraviert.

Alles ruhte in den Tagen der Schiwa, der Trauerwoche. Das Merbaum’sche Schuhgeschäft wurde geschlossen. Sieben Tage lang. Sieben Tage lang Schweigen, sieben Tage lang Besinnen. Gemeinsam mit Familie und Freunden verharren, sich bekümmern. Gemeinsam mit Familie und Freunden essen. Kein Spiegel reflektiert den Schein der brennenden Kerze, die zur Erinnerung an den Verstorbenen entzündet wird. Denn die Spiegel werden verhängt: Den Toten will man nicht zweimal sehen, heißt es. Auch Eitelkeit soll außen vor bleiben. Immer wieder gesellen sich neue Besucher zu den Trauernden. Schweigen mit ihnen. Hocken und wippen auf unbequemen Schemeln und richten sich auf das Unabänderliche ein, weil die jüdische Religion nicht auf Verharren im Schmerz, sondern auf das Leben ausgerichtet ist.

Josef nahm die Arbeit im Schuhgeschäft deshalb so schnell wie möglich wieder auf – und zwar gemeinsam mit seiner Schwägerin, die sich in der Pflicht fühlte. Sie hatte in den vergangenen Monaten für die Pflege ihres Mannes keine Kosten gescheut. Nun saß sie auf einem Schuldenberg von fast einer Million Lei, die sie bei den Markenlieferanten »Derby« und »Baku« abzustottern hatte.4 Frieda war gezwungen, nach und nach selbst das Inventar ihres Ladens zu verkaufen.

Sie war nach dem Tod ihres Mannes mit Selma zu den Eltern in die Franzengasse 46 gezogen, nur einen Steinwurf von der Rapfgasse entfernt. Die freigewordene Wohnung übernahm nun Chaim Merbaum, der mit seiner jungen Frau Jente Blasenstein dort einzog. Friedas kleiner Laden war unabhängig vom dortigen Wohnhaus: Drei Stufen führten von außen zum Eingang hinunter.

Selmas Mutter war mit ihren dreiunddreißig Jahren eine junge Witwe. Schon ihrer kleinen Tochter zuliebe musste sie sich dem Leben zuwenden. Die jüdischen Gesetze hätten einer verwitweten Frau nach drei Monaten eine Wiederheirat zugestanden. Doch der Schloschim, der Trauermonat, war gerade um, als am 13. Dezember 1924 Dr. Scurteanu gegen Abend in das Jüdische Hospital in der Synagogengasse gerufen wurde. Helfen konnte der Arzt auch hier nicht mehr. Selmas Großvater Israel Schrager war den Folgen einer »Arterio Sclerose« erlegen. Dreiundsechzig Jahre alt war der Kantor der jüdischen Gemeinde nur geworden.5 Selma hatte innerhalb eines Monats Vater und Großvater verloren.

Es war ein Glück, dass Onkel Josef, der vertraute Bruder des Vaters, weiterhin um Selma herum war. Und auch Onkel David mit seiner kleinen Erika, die im selben Alter wie Selma war. Denn mit ihrem Cousin David kam Selmas Mutter bestens aus. Die Familien unternahmen so viel gemeinsam, dass man sagen konnte, dass »Selma und Erika zusammen aufwuchsen«.6

»Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne, so soll seine Witwe nicht die Frau eines Mannes aus einer andern Sippe werden, sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen und sie zur Frau nehmen und mit ihr die Schwagerehe schließen.«7 Dieses sogenannte Levirat hätte sich auch für Josef und Frieda angeboten. Waren sie nicht jung genug? Waren sie nicht ein gutes Team? Hatten sie nicht beide mit vereinten Kräften die gemeinsamen Schulden reduziert? Doch selbst der sozialverträgliche Aspekt schien die »Schwagerehe« nicht attraktiv gemacht zu haben. Als 1927 nur noch zwölftausend Lei Restschuld an »Derby« zu bezahlen waren, zog sich Josef aus dem gemeinsamen Geschäft zurück. Er ging weg – nur mit dem, was er auf dem Leibe hatte. War Frieda der Grund für die Trennung? Selmas Mutter wollte wieder heiraten. Doch Josef war nicht der Auserwählte.

1927 stellten sich Josef und Frieda dem Fotografen zu einem Abschiedsfoto.


Frieda und Josef

Die wirtschaftliche Not der vergangenen Jahre hatte Spuren hinterlassen. Beide wirken erschöpft. Frieda ziert die Eleganz ihres spitzenbesetzten Kleides, doch die junge Frau ist dünn geworden. Ihr widerspenstiges dunkles Haar, das sie Selma vererbt hat, bändigt sie mit einer großen Schleife zum Zopf. Josef an ihrer Seite verliert sich in seinem weiten Anzug. Doch er neigte wohl immer schon zum Schlanksein. Als die Zeiten bedrohlich wurden, sah er sich dürr wie »ein Skelett«.8 Auf dem Foto ähnelt Josef seinem Bruder Max – und dann auch wieder nicht. Josef hat nicht die aufgeworfene Oberlippe des Bruders. Auch in der Augenpartie unterscheiden sie sich. Josef schmückt ein modisches Menjou-Bärtchen. Wer die Fotografie genau betrachtet, empfindet einerseits die Vertrautheit des Paares, kann andererseits die Distanz zwischen ihnen nicht leugnen. Wieder ist die Ernsthaftigkeit der Pose wohl dem Zeitgeist geschuldet. Nicht aber die Melancholie, die Wehmut, die von den beiden ausgeht. Ratlos scheinen sie in eine ungewisse Zukunft zu blicken. Die in sorgsamem Sütterlin verfasste Widmung auf der Rückseite des Fotos soll optimistisch klingen, doch liest sie sich wie ein Seufzer: »Froh gedenket mein. In Lieb und Treu allzeit. Wenn in weiter Fern werd sein umgeb Euch Lust und Munterkeit.« »Bettelstudent« ist noch hinzugefügt worden – dachte die Verfasserin der Zeilen an den armen »Bettelstudenten« Symon, der in der Millöcker-Operette am Ende doch noch sein Glück findet?

Josef und Frieda hatten etliche Abzüge von dem Foto machen lassen und zur Verwandtschaft in alle Welt geschickt.9

Am 20. Mai 1927 heiratete die Witwe Frieda Merbaum den geschiedenen, siebenundreißigjährigen Händler Leo Eisinger, Löwi gerufen. Unter diesem Namen wurde er sogar in das jüdische Heiratsregister eingetragen.10


Hochzeitsregistereintrag: Friederika Merbaum und Löwi Eisinger

Über das Zusammentreffen von Leo und Frieda ist nichts überliefert. Auch Josef Merbaum schwieg sich später darüber aus. Hatte ihn die Hochzeit gekränkt? Der Kontakt zu den Meerbaums kühlte mit Friedas Hochzeit ab.

Zu Löwi Eisinger »schweigen die Quellen«11 nicht. Er war der Sohn des Viehhändlers Moses Eisinger und seiner Frau Rosa, Rosel gerufen. Eisingers und Merbaums mussten sich gekannt haben: Als sich die Eisingers nach dem Ersten Weltkrieg in Czernowitz niederließen, hatten sie mit Chaim Merbaum in der Steingasse jahrelang Haus an Haus gewohnt.

Davor waren Leos Eltern viel herumgekommen. Bis nach Böhmen hatte es Moses Eisinger verschlagen. Seine Frau stammte aus Rohozna im damals Böhmischen Kronland der Habsburgmonarchie. Dort war Leo am 5. Juli 1890 zur Welt gekommen. Vielleicht auch zehn Tage später. Wieder nehmen es Meldezettel und Gemeindebucheinträge mit den Daten nicht so genau. Doch sie legen Zeugnis ab über die unruhige Wanderschaft der Eisingers: 1910, 1915, 1916, 1917 bewegte sich die Familie rastlos von Ort zu Ort.12 Erst mit dem Ende des Krieges, als Rohozna der Tschechoslowakei zugeschlagen wurde, hatten sich die Eisingers in Czernowitz niedergelassen. Der deutschen Sprache wegen. Vielleicht auch, weil es Leos Vater Richtung Heimat zog. Er stammte aus dem nahen Sadagora.

»Sadagora«– die russische Übersetzung des Namens »Gartenberg«. Der deutsch-baltische Offizier Peter Nikolaus von Gartenberg hatte 1770 während des Russisch-Türkischen Krieges im Auftrag der Zarin Katharina der Großen eine Münzprägeanstalt am linken Pruthufer nahe bei Czernowitz eingerichtet. Aus dem Metall der erbeuteten osmanischen Kriegswaffen wurden die Münzen für den Sold der Soldaten der russischen Armee geprägt.

Viele Juden hatte von Gartenberg in Lohn gehalten. Nach der österreichischen Annexion der Bukowina 1774 waren sie mit Privilegien und Landbesitz erst gelockt, dann mit bürokratischen Zwängen vertrieben worden, als sie nicht länger dienlich waren. Erst als sich 1842 Israel Friedmann, der Führer der Chassidim, der Wunderrabbi, in Sadagora ansiedelte, stieg die Zahl der Juden wieder. Vor allem galizische Juden ließen sich vom Chassidismus und Prunk des Rabbis faszinieren – auch wenn die verwinkelten, kotbedeckten Straßen Sadagoras mit ihren kleinen schindelgedeckten Holz-Häuschen, in die niemals ein Sonnenstrahl drang, im krassen Gegensatz zum Prachtbau standen, in dem der Rabbi Hof hielt.

»Am Hof des Wunderrabbi von Sadagora lernte der Vater die schwierigen Geheimnisse […] Von Sadagora nach Czernowitz und zurück zum Heiligen Hof gingen die Wunder […]«13 – auch Rose Ausländer hatte der Wunderrabbi beeindruckt. Der in Russland eingebürgerten Czernowitzer Dichterin Klara Blum war dieser Paradiesvogel ebenfalls ein Gedicht wert.

»Man raunt: er kann Geburt und Tod erzwingen,

Auf einem Tüchlein fährt er übers Meer,

Sein Lächeln wird dir Glücksgeschäfte bringen,

Sein Zornesblick macht deine Taschen leer.

Man geht zu ihm mit Klagen und Beschwerden,

Verlassne Fraun und Händler vorm Bankrott.

Es ist nicht leicht: von ihm empfangen werden.

›Ein andermal, der Rabbi spricht mit Gott.‹«14

Doch vielen blieb der Chassidismus fremd. Mehr noch, er stieß sie ab. Da tanzte einer in goldenen Pantoffeln, während andere hungerten. Paul Celan assoziierte mit Sadagora, wie andere Czernowitzer auch, Gauner und Ganoven15, selbst wenn es der Geburtsort seiner Mutter war.

Leo Eisingers Mutter Rosa wurde 1925 in Sadagora beerdigt, nachdem sie an den Folgen einer Tuberkulose und Unterzuckerung gestorben war. Der Tod seiner Mutter könnte Leo bewogen haben, seine Wohnung in der armseligen Sterngasse aufzugeben und wieder zu seinem Vater Moses in die Steingasse zu ziehen. Als später in direkter Nachbarschaft zum Vater eine Wohnung in der Steingasse 6 frei wurde, zog er dort ein. Möglicherweise schon mit Frieda und Selma?

Ob Löwi Eisinger Selma ein guter Vater wurde, wissen wir nicht. Doch von der Nestwärme einer Großfamilie mit Brüdern der Mutter und zahlreichen Cousinen und Cousins wird Selma in ihren ersten Lebensjahren profitiert haben. Die Berufstätigkeit von Mutter und Stiefvater hat der Kleinen sicher schon früh Selbstständigkeit abverlangt. Unterstützung der Mutter bei hausfraulichen Tätigkeiten wird Selma eine Selbstverständlichkeit gewesen sein – in Handarbeit und Hauswirtschaft gehörte Selma später in der Schule immer zu den Besten.

Eine von Selmas wichtigsten Bezugspersonen war wohl Großmutter Henriette »Henie« Schrager, die Mutter von Selmas Mutter Frieda. Und das nicht nur, weil sie immer schon vertrauter Teil der Familie gewesen war, sondern auch, weil die Großmutter die Kultur in Selmas Elternhaus geprägt hatte. Selmas Cousine Edit in Israel erinnerte sich noch im hohen Alter an die würdevolle Eleganz der Großmutter, die selbst im Alltag nie ihre lange Perlenkette abgelegt hatte.16 Großmutter Henie hatte Stil und den verdankte sie ihrem guten Elternhaus. Ihr Vater Abraham Thaler war ein vermögender »Eigenthümer« und hatte ihr offenbar die Erziehung angedeihen lassen, die jüdische Bildungsbürger für ihre Töchter vorsahen: Haushaltsführung, Belesenheit und Klavierspiel mit Gesang. Selmas Großmutter war belesen. Und sie spielte auch Klavier. Selma wird jede Gelegenheit genutzt haben, der Großmutter dabei zuzuhören. Ihre Musikalität wurde im Hause der Großmutter gefördert und geprägt. Stundenlang konnte das kleine Mädchen lauschen, wenn jemand Klavier spielte, und war nachhaltig fasziniert davon, wie Finger dem Ebenholz und Elfenbein der Tastatur Töne und Klänge entlockten. Die ihre Fantasie beflügelten, für sie Gestalt annahmen und zu religiösen Bildern führten: zum Beispiel zu Szenen des Kampfes, den der Engelfürst Michael ausfocht, als er den Drachen niederzwang; Szenen, die Selma später in ihrem Gedicht Der Kelch verarbeiten wird:

… Frauenhände,

die, über Tasten schwebend, spielen die Legende

vom Prinzen, welcher mit dem Drachen rang. 17

Musik verband oft mehr als Worte. Musik war für Selma mehr als bloßer Hörgenuss. Musik führte Menschen zusammen, schuf dauerhafte Vertrautheit. In Selmas einzigem erhaltenen Brief von 1942 aus dem Lager im Steinbruch an ihre Freundin Renée ruft sie sich in den wohl verzweifeltsten Momenten ihres Lebens diese Innigkeit ins Gedächtnis. Sie schöpft Kraft und Trost aus der Erinnerung an die Nachmittage, als die beiden Mädchen »zusammengesessen sind ohne zu reden. Nachmittage, an welchen Du gespielt hast, und ich zugehört habe«18. Musik, »muzică vocală«, gehörte auch in der Schule zu Selmas Lieblingsfächern, in denen sie mit guten Noten glänzte.

Wenn Großmutter Henie Klavier spielte, durfte der Gesang der Kinder nicht fehlen. Deshalb kam auch die Familie von Philipp Schrager, dem Bruders ihres verstorbenen Mannes, gern zu der alten Dame. Vorzugsweise, um gemeinsam den Sabbat zu feiern. Und dann war natürlich auch Cousin Paul mit von der Partie. Selma und Paul haben offenbar mehr Zeit gemeinsam verbracht als bisher angenommen.

Pauls Musikalität wurde in den höchsten Tönen gerühmt, seine schöne Singstimme gepriesen. Kein Wunder also, dass der Junge dieses vielgelobte Talent kultivierte und in das Erwachsenenalter hinüberrettete: Den Rhythmus der jüdischen Gebetsstimme beim Rezitieren seiner Gedichte behielt er bei, was viele Jahre später zu einer großen Demütigung führen sollte.

Der erste öffentliche Auftritt in Deutschland des damals noch weitgehend unbekannten Dichters Paul Celan fand im Mai 1952 auf der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee statt. Die Wiener Freunde um Ingeborg Bachmann hatten ihren Einfluss spielen lassen. Dass die Gruppe nicht zimperlich mit Kritik umging, war bekannt. Doch Paul Celan wurde dort wegen seiner Vortragsweise richtiggehend ausgelacht. Bemerkungen wie »Der liest ja wie Goebbels« oder »Singsang wie in einer Synagoge« verletzten ihn tief. Die Verhöhnung seines Gedichts »Todesfuge« aber riss eine immer schwärende Wunde auf. Hatte er doch darin nicht nur die bittere Erfahrung der schlimmsten Verfolgung, die »schwarze Milch der Frühe«, thematisiert, sondern auch versucht, dem traumatisierenden, nie verarbeiteten Schmerz über den gesichtslosen Tod seiner Mutter im Arbeitslager Michailowka Gestalt zu geben. Der von Hans-Werner Richter »herbergsvatermäßig geführte Haufen«19 beschwieg die Existenz von Juden ohnehin. Weder kam der Holocaust im Allgemeinen, noch die persönlichen Schicksale der Einzelnen je zur Sprache.

Bei seinen Großeltern hatte Paul Kritik dieser Art nicht zu fürchten und seinen jüngeren Cousinen Edit, Erika und Selma wird er ohnehin Vorbild gewesen sein und in ihnen willige Zuhörerinnen für seine selbsterdachten Märchen gefunden haben. Selma wird ihm bald nacheifern und ihm auch in ihrer Verbundenheit mit der Natur in nichts nachstehen.

Diesen Wochenenden mag Selma auch deshalb entgegengefiebert haben, weil sich dann die Großfamilie versammelte und die orthodoxe Großmutter die religiösen Riten zelebrierte, als ob der Großvater noch mit dabei wäre. Und wenn die Sabbatkerzen entzündet wurden und einer der Alten den Segen sprach, kehrte mit der Stille die Erinnerung an die Verstorbenen, den Vater und Großvater, ein.

Im Zimmer schwebt die Stille und die Wärme,

ganz wie ein Vogel in durchglühter Luft,

und auf dem schwarzen kleinen Tische

liegt still das Deckchen, dünn und zart wie Duft. 20

Von Düften geprägt ist die Hawdala, die Abschiedszeremonie, die mit Liedern den Sabbat von der kommenden Woche scheidet. Die Dose mit den wohlriechenden Gewürzen durfte nicht fehlen.

Als Selma mit ihren fünfzehn Jahren diese Stimmungen des Sabbats einfing, verfügte sie noch nicht über die Abstraktion, mit der Paul Celan später in seinem Gedicht »Hawdalah« die Atmosphäre der Kindheitserinnerung ästhetisch umgesetzt hat:

»von unten her, ein

Licht geknüpft in die Luft –

matte, auf der du den Tisch deckst, den leeren

Stühlen und ihrem Sabbatglanz zu –

zu Ehren.«21

Doch geprägt hatten die Abende im Hause der Großmutter offenbar beide. Dann konnte sich Selma in Geborgenheit wiegen und die Wohnung der Großmutter zu ihrer Märchenwelt machen:

… betäubend süßer Duft lullt ein,

als wollt’ er aus dem Märchenschlaf Dornröschen rauben. 22

Selmas Gedicht Stille wurde bisher nur in Bezug auf die Beschreibung gesetzt, die ihre Freundin Renée Abramovici in der späten Erinnerung über die ärmlichen Wohnverhältnisse abgab, in denen Selma groß wurde.

Doch ist das Gedicht wirklich Spiegel einer armseligen Wohnsituation? Stille stimmt eher auf feierliche Ruhe und Reinheit ein. Selma schien beim Schreiben ihrer Verse festlich gestimmt gewesen zu sein. Glanz und Duft hat die Fünfzehnjährige in ihre Zeilen eingeflochten und sich aus der kümmerlichen Realität tragen lassen. Mag die Wohnung der Großmutter auch bescheiden gewesen sein – sie gab Selma Raum für ihren Kindertraum: der die rote Nelke zum Kleid der Engel, zum Kleid aus Goldstaub werden ließ.23 1939 wird Selma zur Großmutter ziehen.

Die Trennung von der Großmutter musste Selma deshalb mehr Verlust gewesen sein als der Tod ihres Vaters, an den sie sich wenig erinnern konnte. Der Umzug der Großmutter in die Judengasse 22 nach dem Tod ihres Mannes und nach Friedas Hochzeit mit Löwi Eisinger sollte sich dennoch als Segen erweisen – wenn auch leider nicht als Rettung. Vorübergehend aber konnte Not gelindert werden und Hoffnung aufflackern.

Wenn die Wohnsituation einengt, verbringen Kinder jede freie Minute in Wald und Flur, zumal, wenn eine Stadt wie Czernowitz mit Parkanlagen und Grünflächen gesegnet ist.

Der Volkspark versprach neben Natur immer auch noch Amüsement: Brezelmänner boten ihre Backwaren an. Ein holzgeschnitzter Musikpavillon lockte zum Toben, selbst wenn keine Kapelle spielte. Imbissbuden machten Kindern mit bunten »Kracherln«–»kleine Flaschen mit süßen, moussierenden Getränken«24 – den Mund wässrig. Wenn dann beim sonntäglichen Aufmarsch die Militärkapelle aus der nahegelegenen Kaserne aufspielte, bevölkerten selbst Kindermädchen der gutgestellten Familien den Park. Den Nachwuchs der Arbeitgeber als Alibi fest an der Hand, hoffte wohl jede der jungen Damen insgeheim, einem der feschen Soldaten bei vaterländischen Klängen näherzukommen.25

Die Liebe zum Volksgarten wurde und wird einem Czernowitzer in die Wiege gelegt. Bei Selmas Cousin Paul war das nicht anders. Schon als Kind verfiel er dem besonderen Zauber dieses Parks, in dem er endlich der Enge der elterlichen Wohnung seines Geburtshauses in der Wassilkogasse26 entkam. Lieber wollte Paul Prügel einstecken, als sich den Park verbieten zu lassen!

Wenn es ihn dorthin zog, nahm er gar nicht erst die Türe, sondern stieg durch die tiefen, ebenerdig gesetzten Fenster der Wohnung direkt auf den Hof hinaus. Seine kleinen Cousinen Selma und Edit brauchte er bei sonntäglichen Besuchen nicht lange zu diesem Kletterspaß zu überreden: hinaus in die Freiheit auf diesem ungewöhnlichen Weg. Hin zu den enormen Kastanienbäumen. Schon in der Josefsgasse um die Ecke säumten Kastanien den Weg und wuchsen sich in der Siebenbürgerstraße zu prächtigen Alleen aus.

»Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.

Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen

und irgendwer steht auf dahier.«27

Der Volkspark grenzt auch heute noch an den Botanischen Garten, dessen Pracht legendär war. Czernowitzer stellten den exotischen Pflanzengarten gern auf eine Stufe mit den weltberühmten Londoner Kew Gardens. Selma hat ihn auch gekannt. Hat dort »Fremdländische Orchideen« und »Nachtschatten« kennengelernt, mit denen sie später die Kapitel ihrer Gedichtsammlung Blütenlese überschreiben wird.

Nachwuchs von wohlhabenden Eltern traf man in den öffentlichen Parks eher selten an. Sie besuchten sich gegenseitig in ihren Privatgärten. Hauptsache aber war hier wie dort: draußen zu sein. Das Leben der Kinder spielte sich unter freiem Himmel ab. Draußen wurde gespielt und vorgelesen: klassische Märchen, deren Stimmung Selma in ihren Gedichten aufnahm wie ein altes Bild aus einem Märchen28. »Märchen und Mythen lagen in der Luft«29, erinnerte sich Rose Ausländer. Märchen der Gebrüder Grimm waren den Kindern die liebsten, vertraut auch die von Bechstein, Andersen und Hauff. Mütter, denen Bildung höchstes Gut war und die Wert auf die deutsche Sprache legten, lasen daraus vor: meist abends, die Familie um sich geschart – und vorgelesen wurde natürlich auf Deutsch.

Deutsch sprach Selma zu Hause. Deutsch sprach Selma mit ihren Freunden. Gutes Deutsch, wohlgemerkt. Nicht das Bukowiner Deutsch, das stark vom Jiddischen geprägt war und von den Wienern nicht nur wegen seines Nigun, seines Singsangs, verspottet wurde, sondern auch seiner Syntax wegen. Im Czernowitzer Deutsch sagte man zum Beispiel nicht »Ich bin hingegangen«, sondern »Ich bin gegangen hin«. Wer gutes Deutsch sprach, vermied das Perfekt, wenn man sich der Vergangenheitsform bedienen wollte: »Ich las, ich ging« statt »Ich habe gelesen, ich bin gegangen.« »Gejiddeltet« werden sollte bitteschön auch nicht. Und keine doppelten Verneinungen!

Doch spöttelten die einen, so schätzten die anderen die schöpferische Inspiration, mit der das Jiddische die Sprache bereicherte. »Denn unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenen Kulturen.«30

Alle Sprachgruppen – das Rumänische, Ruthenische und auch das Russische machten da keine Ausnahme – peppten die eigene Sprache mit jiddischen Wörtern auf. Ukrainisches und Ruthenisches wurde germanisiert und fügte sich dann neu und interessant: »Dill mich bitte nicht mit diesem pisten Gerede« war damals eine gebräuchliche Wendung unter den Jugendlichen: »piste« hatten sie im Sinne von »langweilig« dem ukrainischen Wort »pusto« (leer, hirnlos) entlehnt, »dillen« stand für ellenlanges, sinnloses Gerede. Manche dieser Worte haben sich in unsere Zeit hinübergerettet: Aus dem Jiddischen »rewach«–»Vorteil« oder »Zins«– ist »Raibach« übernommen. »Koscher« hat sich von seiner religiösen Bedeutung »recht, rein« gelöst. Ist etwas »nicht koscher«, so ist es »nicht ganz geheuer«. Zocken, Mischpoke, Meschugge, Ramsch, Maloche – die Liste lässt sich beliebig fortführen.

Nicht zuletzt dieser multikulturellen Sprachvielfalt verdanken Dichter wie Paul Celan und Rose Ausländer ihren Mut zu extravaganten Sprachartefakten. Selma hatte nicht genug Zeit gehabt, diesen Mut für Sprachakrobatik zu entwickeln.

Aber selbst die, die das Jiddische im Alltag ablehnten, begeisterten sich in seiner Kunstform dafür. Für die jiddischen Fabeln des zeitgenössischen Dichters Elieser Steinbarg zum Beispiel. Cousin Paul konnte die Fabeln Steinbargs bald auswendig vortragen, obwohl er kein Jiddisch gelernt hatte. Die vom Spieß und der Nadel gehörte zu seinen Favoriten:31

»[…]

›Verzeiht‹, spricht die Nadel, ›ich mein’s ja nicht schlecht,

doch möchte ich wissen, was ihr denn stecht?‹

›Ich? – Menschen, Menschen steche ich‹,

spricht der Spieß, ›das weißt du nicht?‹

Da aber lachte die Nadel, (vielleicht lacht sie noch!)

›Menschen sticht er, hört es doch!

Wie lächerlich und ohne Sinn,

so wahr ich eine Nadel bin, sticht man Stoffe mit Bedacht,

entstehn nützlich feine Sachen,

doch Menschen? – stecht ihr sie auch Tag und Nacht,

was wollt ihr dann aus ihnen machen?‹«32

Selma konnte jiddisch lesen, verstehen und schreiben. Sie übersetzte Gedichte aus dem Jiddischen und nahm sie in ihren Gedichtschatz auf. Die dem hebräischen Alphabet angepassten Schriftzeichen beherrschte Selma perfekt und brachte sie flüssig zu Papier.

An Steinbargs Fabeln wird Selma das Unkonventionelle geliebt haben. Sie waren ungewöhnlich, originell und lebensnah. Hatten Pfiff. Dafür war Selma immer zu haben. Ihr gefiel, dass ihnen der lehrhafte Dünkel der althergebrachten Tierdichtungen fehlte.

Elieser Steinbarg war ein »kleiner Mensch, dicklich, mit einem runden Kopf, wenigen Haaren, einer blassen, breiten, feucht-schimmernden Stirn, mit einer runden Brille auf der flachen, drolligen Nase, wo sie sich gerade noch halten kann. Ein merkwürdiger Mensch, ein Gnom.« Mit den »ernsten, kurzsichtigen Augen eines Kindes«.33 Steinbarg hatte sich den Blick der Kinder bewahrt. Sicherlich nicht nur, weil er von seiner Statur her kaum mehr als Kindergröße erreicht hatte.

Wurden Steinbargs »Lebende Bilder« im jüdischen Kulturhaus aufgeführt, schnappten sich Mütter und Väter ihren Nachwuchs, denn Alt und Jung ließen sich von den Aufführungen gleichermaßen begeistern. Außerdem hatte Elieser Steinbarg einen Riecher für Talente. Mütter vor allem hofften, dass Steinbarg die schlummernden Begabungen ihrer Sprösslinge entdeckte. So wie bei Joseph Schmidt. Der weltberühmte Tenor hatte als Kind bei Steinbarg gespielt und gesungen, bevor seine Lieder schließlich »um die Welt« gingen. Auch wenn der Barde des Jiddischen in Czernowitz nur kurz seine Wirkung entfalten konnte – er erreichte dort Unsterblichkeit.

Grenzenlos war die Trauer, als Steinbarg 1932 überraschend an den Folgen einer Blinddarmoperation starb: die Menschenmenge, die den Sarg begleitete – unüberschaubar. Rose Ausländer schrieb anlässlich der Gedenkfeier im Czernowitzer »Morgenblatt« über den Dichter, » … der allen Wesen und stummen Dingen die verborgenen Zungen löste und sie uns durch eine Sprache und einen Rhythmus nahebrachte, der uns den Atem raubt und in uns Visionen von unendlichen Lebendigkeiten und Märchengestalten erweckt«.34

Und weil er eine geradezu »mystische Begabung« gehabt hatte und Kind unter Kindern geblieben war, wurde Steinbarg auf dem jüdischen Friedhof inmitten der Kindergräber beigesetzt. Auch im Tod sollte er Kindern nahe bleiben.

Sprachvielfalt gehörte für Selma also zum Erwachsenwerden, auch wenn der Alltag Rumänisch forderte.

»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – Eine alte Frau kocht Rüben – Eine alte Frau kocht Speck – Und du musst weg!«35,

zählten sie beim »Fangerl-Spielen« auf Deutsch. Und wechselten ungeniert zur snobistischen, dem Französischen entlehnten, rumänisierten Variante:

»Un Dum Dri/​Gardez les mezi/​Les mezi/​Les meseaux/​De capelle san-ti-mo/​Santimo Teperi/​Un Dum Dri.«36

Je nach Anlass schlüpfte Selma in die jeweilige Sprache wie in ein bereitliegendes Kleid. Sie hatte keine Wahl – die Geschichte erzwang das jeweilige Sprachkostüm. Doch darin bewegten sich Kinder ohnehin ungehemmter.

Französisch, Rumänisch, Latein und Deutsch waren Selma als Unterrichtsfächer aus der Schule vertraut. Hätte sie mehr Zeit zum Schreiben gehabt – ihre Dichtung hätte sich mit der Rose Ausländers messen können: beide geprägt von Sprachvielfalt, beiden war Deutsch ihr »Mutterland Wort«, in das sie immer zurückfanden. Es gab aber auch Stimmen, die genau diese Mannigfaltigkeit für den Verlust ihrer Sprachidentität verantwortlich machten und sich letztlich in jeder Sprache fremd blieben: »In welcher Sprache liebe ich, fluche ich, träume ich, klage ich und bete ich – in welcher Sprache wird der Tod mir kommen?«37

Dass die deutsche Sprache ihren Eltern mehr als bloßes Mittel zur Kommunikation bedeutete, wird den Kindern nicht verborgen geblieben sein. Deutsch blieb die Brücke zur alten Habsburger Herrlichkeit. Wenn also Eltern ihre Zöglinge mit deutscher Lektüre ausrüsteten, liebäugelten sie stets auch mit dem dahinterliegenden Bildungsauftrag. »Kultur-Kult« auch bei den Kindergeburtstagen. Lehrreiche Spiele und Geschenke wie Quartette und Sachbücher schätzten die Eltern sehr. Mochten Wochenheftchen wie »Schmetterling«, »Papagei« oder »Kiebitz«38 pädagogische Ziele verfolgen und den Nachwuchs für die Natur sensibilisieren – die Kinder erwarteten sie dennoch sehnsüchtig. Struwwelpeter, Rübezahl, Till Eulenspiegel, Münchhausen und Wilhelm Busch werden Selma wie allen jüdischen Czernowitzer Kindern vertraut gewesen sein. Jungs begeisterten sich für Tarzan und Karl May, die Mädchen wuchsen mit den »Nesthäkchen«-Büchern der jüdischen Schriftstellerin Else Ury auf. Und wenn kleine Mädchen das Glück hatten, in einem begüterten Elternhaus groß zu werden, eiferten sie der Protagonistin Annemarie auch mit Dienstpersonal, Kindermädchen, eigenem kleinen Hund und Singvögeln auf dem Balkon nach. So wie Margit Bartfeld, die später Selmas Klassenkameradin im »Hofmann-Lyzeum« werden wird. Noch im hohen Alter schwärmte Margit von Urys Büchern. Ihre Eltern hatten wie viele andere auch mit dem renommierten Berliner Meidinger Verlag ein Abonnement abgeschlossen: Jede Neuausgabe der »Nesthäkchen«-Bände wurde umgehend frei Haus geliefert.39

Vom Schicksal der Autorin Else Ury wussten die Czernowitzer Kinder damals nichts: dass für eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik mit Hitlers Machtergreifung alles vorbei war. Dass Ury mit Schreibverbot belegt und 1935 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde – was das Ende jeglicher Veröffentlichung bedeutete. Enteignet, geknechtet und 1943 nach Ausschwitz deportiert, wurde Else Ury dort unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.

Selma wird nicht mit teuren Abonnements verwöhnt worden sein. Nach den Schuldenkrisen musste Frieda Eisinger mehr denn je mit ihrem Geld haushalten. Deshalb gab es für Selma weder nachmittäglichen Privatunterricht noch ein eigenes Klavier. Im Gegensatz zur verschwägerten Familie Antschel. Zu einem Klavier für Cousin Paul hatte das Geld zwar auch nicht gereicht, doch auf ein Instrument verzichten wollte seine ehrgeizige Mutter Fritzi dennoch nicht. Und so quälte der kleine Paul sich und die Verwandtschaft einige Monate lang mit einer Geige.

Weil Selmas Elternhaus auch nicht mit einer eigenen Bibliothek aufwarten konnte, stöberte Selma schon früh im Bücherschatz ihrer Freundinnen – und wird das Kulturangebot der »Toynbee Halle« geschätzt haben. Dieses jüdische Volkslehrhaus lieferte jüdischen Kindern jeden Alters Bildung und Lesestoff, bot Lehrlingen Ausbildung und Unterkunft. Es organisierte Vorträge, Kurse und Theateraufführungen. Gastschauspieler aus Bukarest wurden für Opernaufführungen verpflichtet. Purim- und Chanukkafeiern wurden für Kinder jener Familien ausgerichtet, die sich die teuren privaten Feiern in den edlen Czernowitzer Cafés nicht leisten konnten. Sonntags lockte die »Toynbee Halle« mit Märchenaufführungen: »Rotkäppchen« und Andersens »Prinzessin auf der Erbse« waren 1937 der Schlager.40 Selma wird sie gesehen haben. Mit berühmten Ausländern wurden auch weniger Kulturbeflissene gelockt: Als »Pat und Patachon« in Czernowitz auftraten, waren »Stolz und Freude grenzenlos«41.

Die Idee der englischen »Toynbee Halls« hatte der Wiener Philologe Leon Kellner 1900 von England aus erst nach Wien und dann nach Czernowitz exportiert. Kellner lehrte Anglistik an der Universität in Czernowitz und war ein enger Vertrauter von Theodor Herzl, dessen zionistische Ideen er teilte. Die Ideale der englischen Settlement-Bewegung deckten sich mit seiner Weltanschauung.

Wohlhabende Studenten und Graduierte der renommierten Elite-Universitäten Oxford und Cambridge hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts in sogenannten »Settlement Houses« zusammengetan, um mit Menschen aus den ärmsten Bevölkerungsschichten im Osten Londons zu leben und zu arbeiten und ihnen so Zugang zu Bildung zu ermöglichen. So waren die »Toynbee Halls« als Kultur- und Begegnungshäuser mit vielgestaltigen Angeboten für die Unterprivilegierten entstanden. Mit der Namensgebung wurde dem Nationalökonom Arnold Toynbee ein Denkmal gesetzt, der einer der ersten gewesen war, der sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen in Londons Elendsquartieren einsetzte.

Im Herbst 1910 gründete Leon Kellner mit der akademischen Verbindung »Hebronia« die Institution »Toynbee Halle« in Czernowitz, die ihr eigenes Haus der Stiftung des jüdischen Czernowitzer Ehepaars Markus und Anna Kisslinger verdankte. Die Crème de la Crème aus Kultur und Verwaltung hatte sich zur großartigen Einweihung am 15. November 1913 eingefunden. Festreden und Gebete huldigten immer auch dem Habsburger Kaiser. »Allgütiger, erhalte und beschütze deinen Gesalbten, der uns Bekenner des Judentums zu treuen Bürgern dieses Staates gemacht, gib, o Herr, langes glückliches Leben, Friede und Freude unserem erhabenen geliebten Kaiser Seiner Majestät Franz Josef I. Amen! Amen!«42

Selma konnte schon von der gut bestückten Bibliothek in der »Toynbee Halle« profitieren, die 1923 mit Spenden eröffnet worden war. Cousin Paul verdiente sich als Gymnasiast und Student dort sein Taschengeld.43

Möglicherweise hielt Selmas Mutter bei diesem Kulturangebot und bei den Begegnungen mit den zahlreichen Cousinen und Cousins einen Kindergarten für überflüssig.

Czernowitz verfügte über mehr als dreißig Volksschulen. Kleine, schmucke Häuschen im Habsburgerstil. Oft aneinandergereiht wie Perlen an der Schnur, oft alle in derselben Straße, etliche in der Landhausgasse.

Selma wird ab 1930 eine Volksschule besucht haben. Zeugnisse aus dieser Zeit ließen sich nicht finden.

Doch die Schulunterlagen des »Liceul Particular de fete« in der Str. Cuza Vodă 8, der Althgasse, sind erhalten geblieben. 1924 war auch dieses Lyzeum, das vorwiegend jüdische Mädchen besuchten, mit allen Czernowitzer Schulen gleichgeschaltet und somit ein staatlich anerkanntes Mädchengymnasium geworden – das fünfte in der Auflistung, »LPF 5«, »Liceul Particular de Fete cu drept de publicitate«. Eltern und Schülerinnen sprachen weiterhin vom »Hofmann-Lyzeum«. Direktor Hofmann hatte die Schule gegründet, sie mit seinem Namen und seinem pädagogischen Konzept geprägt. Bis die rumänische Regierung ihm nicht nur die Leitung seiner Schule entzog, sondern ihn auch seines Amtes als Geschichts- und Erdkundelehrer enthob.44

Denn längst richtete sich der rumänische Nationalismus ganz offen vor allem gegen Juden. Die 1932 gegründete Czernowitzer Tageszeitung »Der Tag« warnte nahezu in jeder Ausgabe vor den Folgen der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland und seinen Auswirkungen auf Rumänien, das in ihren Augen »Führer und Förderer der Hitlermannschaft« war. »Aus dem Hitler-Würmchen Rumäniens kann ein Wurm werden, der sich in den Organismus einfrißt und Verheerungen anrichtet. Die Gefahr ist endlich erkannt. Nur die Regierung doktort noch zuviel herum«45, schrieb sie am 7. Mai 1933. Vier Tage zuvor hatte die Zeitung über den Selbstmord eines jüdischen Professors der Marburger Universität berichtet, der elf Sprachen beherrschte. Er hatte sich vor einen Schnellzug geworfen, nachdem er seines Amtes enthoben worden war.46

Der aggressiven Rumänisierungspolitik setzte König Carol II. nichts entgegen. Erst im Juni 1930 war der Sohn des 1927 verstorbenen Königs Ferdinand aus dem Exil nach Rumänien zurückgeholt und zum König ausgerufen worden. Unrühmliche Liebschaften hatte man ihm übel genommen. Nach dem Tod seines Vaters war er deshalb vorübergehend von der Thronfolge ausgeschlossen und verbannt worden.

Bis dahin hatten ein Dutzend Regierungen mit staatlich gefördertem Antisemitismus und einem extremen Nationalismus »auf die Marginalisierung der Minderheiten im Wirtschaftsleben und in der letzten Phase auch auf die Enteignung der Juden«47 gesetzt und faschistischen Bewegungen wie der »Eisernen Garde« Vorschub geleistet.

Den meisten Menschen ging es wirtschaftlich immer schlechter. Im Mai 1937 setzte eine künstlich provozierte Teuerung ein. Der Preis für Butter verdreifachte sich. Brennholz war bald unerschwinglich. Man war dankbar, dass der Brotpreis wenigstens noch konstant blieb. Ein Sündenbock war schnell gefunden: Die Ultranationalisten machten die jüdische Dominanz für die desolate Lage verantwortlich. Der König musste handeln. Und so setzte Carol II. im Dezember 1937 mit den beiden Politikern der »National-Christlichen Partei« Octavian Goga und Alexandru Cuza – ein Dichter der eine, ein Universitätsprofessor der andere – eine faschistische Regierung ein, die Antisemitismus unverhohlen als Teil ihres Regierungsprogramms proklamierte. Die Hakenkreuzfahne, die unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt am Czernowitzer Rathaus wehte, signalisierte die Sympathien für den deutschen Nationalsozialismus. Juden wurden nicht länger unterschwellig diskriminiert, die »Eiserne Garde« machte regelrecht Hatz auf sie. Juden wurden aus ihren Dörfern vertrieben, ihr Eigentum beschlagnahmt, ihre rumänische Staatsbürgerschaft aberkannt. Ungeniert hetzte Goga in öffentlichen Reden gegen die »Judenheit« und sprach ungestraft von »Saujuden«48 – die Rumänisch-Orthodoxe Kirche hatte ihren Segen dazugegeben.

Im Februar 1938 setzte Carol II. der Goga-Cuza-Regierung und den Gewalttätigkeiten der »Eisernen Garde« ein Ende. Er entließ die Regierung und machte sich selbst zum Diktator. Ganz offen suchte er die Nähe zu Hitler und dem nationalsozialistischen Deutschland.

Als Rumänien 1940 in den Strudel der Auswirkungen des »Hitler-Stalin-Paktes« hineingezogen wurde und seine nach dem Ersten Weltkrieg dazugewonnenen Gebiete durch die neuen Machtkonstellationen wieder verlor, musste Carol abdanken und die Regierungsgeschäfte ab September 1940 General Ion Antonescu überlassen. Besetzung, Krieg und Shoah sollten bald schon Rumäniens Geschichte bestimmen.

Auch Selma und ihre Freundinnen wussten, dass sie schleunigst das Weite suchen mussten, wenn der warnende Ruf »Die Cuzisten kommen!«49 durch die Czernowitzer Straßen hallte. Die Vertreter der Goga-Cuza-Regierung hatten vor allem im Schulwesen hart durchgegriffen und vollendet, was in den Zwanzigerjahren begonnen worden war: die Rumänisierung der jüdischen Minderheitenschulen. »Juden und Hunden ist der Eintritt verboten«– auch die rumänischen Universitäten wurden zu willigen Vollstreckern dieser Politik.50

Unvergessen blieb die Affäre um den Studenten David Fallik, die 1926 die Diskriminierung jüdischer Schüler auf die Spitze getrieben hatte: Professor Diaconescu vom renommierten Czernowitzer Aron-Pumnul-Gymnasium – Emil Franzos war dort Schüler gewesen – hatte sämtliche jüdischen Schüler wegen mangelnder rumänischer Sprachkenntnisse bei der Abiturprüfung durchfallen lassen. Mit »ganz ungenügend«51 war einem gesamten Jahrgang der Zugang zu den Universitäten verwehrt worden! Lang angestaute Empörung entlud sich, als die betrogenen Jugendlichen samt Eltern ihren Prüfer auf der Straße abpassten: »Nieder mit dem Bakschisch« skandierte die aufgebrachte Menge und bedrängte den Vertreter der Schulbehörde so massiv, dass die Polizei einschritt, sich junge Leute wahllos herausgriff und festnahm. Dem Studenten David Fallik sollte exemplarisch der Prozess gemacht werden. Noch vor der Urteilsverkündung aber wurde er von einem rumänischen Studenten erschossen. Der Täter wurde freigesprochen. Zwanzigtausend Czernowitzer Juden blieb als Zeichen ihrer Machtlosigkeit nur, ihre Solidarität zu bezeugen und den Sarg des Ermordeten zu begleiten.52

Als die Rumänin Vera Brateanu zum Schuljahr 1937/​38 die Leitung des »Hofmann-Lyzeums« übernahm, wurde zeitgleich eine weitere Stufe der Rumänisierung umgesetzt: »Liceul Particular de Fete ›Iulia Hașdeu‹ Cernăuți« hieß Selmas Schule nun. Ein Affront. Nicht, weil Iulia sich in jungen Jahren als Dichterin einen Namen gemacht hatte und 1888 achtzehnjährig an Tuberkulose gestorben war. Sondern weil sie die Tochter des Schriftstellers Petre Hașdeu war – einem ausgewiesenen rumänischen Antisemiten.

Wie jedes kleine Mädchen, dem ein Schulwechsel bevorsteht, wird sich Selma gefreut haben, dass sie im September 1934 in das Lyzeum aufgenommen wurde und die gefürchtete anspruchsvolle Aufnahmeprüfung bestens gemeistert hatte: mit 8,6 Notenpunkten von 10 möglichen! Doch vorher war noch eine unangenehme Bedingung für die Aufnahme in die weiterführende Schule zu erfüllen – die Impfung. Den Pocken-Epidemien, die in Rumänien in den vergangenen Jahren immer wieder Tote gefordert hatten, wurde mit Massenimpfungen begegnet, die im letzten Schuljahr an der Volksschule von einer robusten Krankenschwester vorgenommen wurden. Mit Serum, Spirituslampe und einer Schreibfeder, die in einem Gänsekiel steckte, leistete sie Fließbandarbeit: die spitze Feder in der Flamme desinfizieren, in das Serum tunken, Oberarm damit ritzen. Ein und dieselbe Feder für alle. Bis ein Jahrgang durchgeimpft war. Und weil 1928 eine Masernepidemie in Czernowitz gewütet und Kinder und Erwachsene dahingerafft hatte, gab es noch eine zweite Impfung. Wochenlang waren damals die Schulen geschlossen geblieben, Masern-Impfungen für Schulkinder seitdem Pflicht. Ihre Einhaltung kontrollierte die Schulbehörde penibel.53 Auch bei Selma ist im Zeugniskopf »vaccinată în anul 1934« vermerkt – die Schule konnte beginnen.

Selma musste sich von Anfang an auf die rumänische Sprache einlassen. Rumänisch war Pflichtfach und stand im Zeugnis an erster Stelle aller Sprachen. Auf Rumänisch waren Vorträge zu halten. Nur auf Rumänisch durften Wortmeldungen eingebracht werden. »Vorbiţi româneşte«54 – Sprecht Rumänisch! Auf Korridoren und in Klassenzimmern forderten überdimensionale Plakate die Einhaltung des Gebots ein. Eigens dafür eingesetztes Personal patrouillierte während der Pausen mit kleinen Reitgerten durch die Gänge, um notfalls mit Gewalt durchzusetzen, was das Wort nicht erreicht hatte. Mit Fantasie und Einfallsreichtum schafften die Mädchen sich kleine Fluchten und übertölpelten die Kontrolleure: Sie hängten deutschen Wörtern kurzerhand rumänische Endungen an und hatten eine Sprache, die nur sie verstanden.

Lehrer, die sich der Rumänisierung widersetzten, wurden entlassen. Im »Hofmann-Lyzeum« wurden jüdische Lehrer mehr und mehr durch rumänische ersetzt. Auch wenn der Anteil der jüdischen Schülerinnen 1934 noch überwog, so hatte die Schule ihren jüdischen Charakter verloren, seit sie sich allen Konfessionen geöffnet hatte. Von den vierundvierzig Mädchen in Selmas Klasse waren achtunddreißig mosaischen Glaubens. Fünf Mädchen besuchten den römisch-orthodoxen Religionsunterricht. Eugenie Merdinger war als einzige evangelisch.

Frieda Eisinger hatte bei der Anmeldung Selmas wohl persönlich in der Schule vorgesprochen. Im unhandlichen, übergroß dimensionierten Klassenregister des neuen Schuljahres 1934/​35 waren anfangs von den Neuankömmlingen nur die Familiennamen eingetragen worden. Ein schwungvolles »Eisinger« stand noch über Selmas Halbjahresleistungen, doch war im Endzeugnis des ersten Schuljahres 1934/​35 schon korrigiert auf »Selma Merbaum« ausgestellt worden.55 Und dabei blieb es: Selma hieß nie anders als »Selma Merbaum«– von der ersten bis zur letzten Klasse. Bis die Politik dem »Hofmann-Lyzeum« 1940 den Garaus machte.

Selmas Stiefvater Leo Eisinger trat namentlich nicht in Erscheinung. Der Name »Eisinger« spielte während Selmas Schulzeit erstaunlicherweise keinerlei Rolle mehr. Dafür mutet die Eintragung im Feld mit den persönlichen Angaben über Selmas Eltern kurios an:


Kopfzeile in Selmas Zeugnis

Als »Vater« von Selma fungierte all die Jahre hindurch Selmas Großmutter väterlicherseits unter »Eidel Abisch Merbaum«. Selmas Mutter ist in den Zeugnissen stets nur mit »Friederika Merbaum« und nie mit ihrem Namen »Eisinger« eingetragen, den sie 1927 nach ihrer Hochzeit mit Leo Eisinger doch angenommen hatte.

Erklärungen dazu finden sich aus heutiger Sicht nicht. Doch es erübrigen sich damit bisherige Spekulationen, ob Leo Eisinger Selma adoptiert hatte oder nicht: Leo Eisinger hatte Selma nicht adoptiert. Selma hatte nie einen Doppelnamen getragen. Weder in ihren Schuldokumenten noch in den jüdischen Gemeinderegistern, die jede Familienstandsänderung (Namensänderung, Scheidung, Adoption) sorgfältig festgehalten haben.

Auch in den Deportationslisten von 1942, als Selma ihren letzten Schicksalsweg antreten musste, wird sie ohne Doppelnamen als »Zelma Meerbaum« erfasst, direkt hinter ihrer Mutter »Frieda Eisingher« und Stiefvater »Leo Eisingher«. Das schwungvolle »S« der rumänischen Eintragung mutierte unter deutschem Überschwang zu einem »Z«.

Der Maler Arnold Daghani, der das Arbeitslager Michailowka überlebte, in dem Selma umkam, zeichnete aus den Namen der im Lager getöteten und gestorbenen Insassen einen Frauenkopf. Darin nahm er auch »Selma Meerbaum« auf. Ohne Doppelnamen, allerdings mit »ee«.


»Eisinger and wife and daughter Meerbaum«

Wie konnte es zu dem Doppelnamen kommen? Er wurde 1976 von Hersch Segal, Selmas ehemaligem Lehrer an der jiddischen Schule, in die Welt gesetzt. Segal wurde 1976 in Israel von Paul Celan-Biograf Israel Chalfen zu Pauls Cousine »Selma Meerbaum« befragt. Der alte Klassenlehrer gab Chalfen den Rat, Selma mit »Selma Meerbaum-Eisinger« zu benennen: »Sie schreiben Selma Meerbaum, sie hiess aber Selma-Meerbaum-Eisinger. … ich glaube am besten Sie schreiben Selma Meerbaum-Eisinger.«56 Zeitgleich edierte Segal Selmas Gedichte im Eigenverlag unter dem Namen »Selma Meerbaum-Eisinger«.

Am Tag ihrer Einschulung im September 1934 wohnte Selma schon in der Bilaergasse 34 (Strada Bilei 34), die nichts mehr vom Charme der Rapfgasse hatte.

Die Mieten stiegen in diesen Jahren rasant. Wenn die Mieter auch noch Juden waren, wurde die Pacht künstlich hochgeschraubt, so dass eine Flut von Kündigungen jüdische Familien aus den guten Wohnungen der besseren Wohngegend in immer billigere Unterkünfte drängte, immer weiter aus der Stadt heraus, immer tiefer den Hügel hinunter, dem Fluss und dem Armenviertel entgegen. Bis Selma und ihre Mutter in der Bilaergasse 34 gelandet waren – einer Verlängerung der feineren Franzengasse, in der Nähe des Güterbahnhofs.

Dort unten am Fuße der »Habsburghöhe« und nur durch die Brücke über den Pruth von den Czernowitzer Vororten getrennt, war Wohnen billig, denn der Grund war günstig. Besitzer von Zucker- und Textilfabriken, Brauereien und Molkereien profitierten davon. Viele Gerber und Schuster hatten sich in ehemaligen Streuobstwiesen angesiedelt. Auch Abraham Meerbaum hatte dort gewohnt, bevor er sich in der Bahnhofstraße ein größeres Haus leisten konnte. Seine Molkerei stand weiterhin auf der grünen Wiese Bilaergasse 16. Den Handeltreibenden war die gute Anbindung an den Güterbahnhof im Norden der Stadt wichtig. Die Eisenbahnstation »Volksgarten«, die den Personenverkehr abwickelte, lag im Süden von Czernowitz.

Das Haus, in dem Selma wohnte, lag direkt im Knie der Straßenbiegung der Bilaergasse – ein imposanter Bau, der mit seinem Jugendstil-Zierrat eigentlich nicht ärmlich wirkte. Von der Straße aus gesehen zumindest nicht. Doch viele Czernowitzer Häuser verfügten über kleine einfache Wohnungen ohne Komfort im Parterre oder Hinterhof. Und so hausten Selma und ihre Mutter in einer Einzimmerwohnung, die »[…] bestand aus einer Küche und einem großen Zimmer. Man ist reingekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief; dann zwei Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad.«57

Wenigstens war ein öffentlicher Brunnen unmittelbar gegenüber der Bleibe, sodass Selma und ihre Mutter keine langen Wege in Kauf nehmen mussten, um Wasser zu beschaffen. Solche armseligen Wohnverhältnisse, wie sie Selmas Freundin Renée beschrieben hat, ergaben sich, wenn Witwen nicht länger beanspruchte Zimmer ihrer großen Wohnung abtrennten und untervermieteten. Vor allem, wenn sie über eine zweite Küche verfügten, die ehemals zu einer Dienstpersonalwohnung gehörte.

Lebte Selma in der kleinen Wohnung in der Bilaergasse möglicherweise nur mit ihrer Mutter? Laut Adressbuch war Leo Eisinger auch 1936 noch in der Steingasse 6 gemeldet in direkter Nachbarschaft zu seinem Vater Moses.


Selmas Wohnhaus Bilaerstraße mit Plakette

»In diesem Haus wohnte die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger. Czernowitz 5. 2. 1924 – Lager Michailovka 16. 12. 1942.« Auf Deutsch und Ukrainisch informiert heute eine Gedenktafel über die Lebensdaten der so jung umgekommenen Dichterin der Bukowina. Die ehemalige Bilaergasse heißt jetzt Tschernischewskoho-Straße und das Haus trägt nicht mehr die Nummer 34, sondern die Nummer 38. Es präsentiert sich in feschem Orangerosa und Weiß – Farben, die in Czernowitz gerne für Renovierungen von Gebäuden mit Denkmalpotenzial eingesetzt werden. Der Putz bröckelt – die Spuren der Vergangenheit wurden zu hastig übertüncht.58


Gedenktafel in der Bilaerstr. 38

Selmas Schulweg verlangte gute Kondition. Dass Mirabellen-, Nuss-, Holunder- und Kastanienbäume ihn säumten, wird ihn ihr nicht schmackhafter gemacht haben: Der Anstieg war steil und beschwerlich und im Winter sicherlich eine Herausforderung. Ein Ansporn war, dass Renée oben in der Rapfgasse 4 schon vor der Haustüre wartete – immer geduldig, selbst wenn sich Selma verspätete. Und das passierte oft genug. Dann kam Selma abgehetzt, atemlos und verdrossen bei Renée an. Wieder einmal hatte sie mit ihrer Mutter einen Kampf um ihre Zöpfe ausgefochten. Jeden Morgen dieselbe Prozedur. Jeden Morgen derselbe Ärger, wenn die Mutter das dichte krause Haar der Tochter bändigen und für die Schule zu ordentlichen Zöpfen flechten wollte. Selma zeigte sich dann so widerborstig wie ihre Haare. »Die Prozedur war zeitraubend.«59 Und schmerzhaft. Immer wieder wird Selma deshalb ihrer Mutter damit in den Ohren gelegen haben, dass alle Klassenkameradinnen schon den modischen Bubikopf trugen. Selma hasste diese Zöpfe und würde gegen sie aufbegehren. Bis zur Pubertät. Dann hatte sie den Kampf um ihre Haare gewonnen: Die Zöpfe fielen.

Selma und Renée waren für die Klasse 1A eingeteilt worden, die damit eine Klassenstärke von vierundvierzig Schülerinnen erreichte. Zehn Mädchen weniger machte die Parallelklasse schon übersichtlicher.


Klassenfoto 1935. Selma, 1. Reihe, 1. von rechts. Letzte Reihe: Margit, 3. von links; Renée, 4. von links

Zum Schuljahresende scharten sich die Mädchen zum obligatorischen Klassenfoto wie Küken um drei ihrer Lehrer: Streng und scharf gescheitelt thront Selmas Klassen- und Rumänischlehrerin Alma Bogdan in der Mitte. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Dominanz manifestierte sie mit jeder ihrer Unterschriften. Bogdan wird flankiert von Professor Schulman, den die Mädchen liebten. Der Fachlehrer für Biologie war gutmütig und ausgeglichen und brachte ihnen die Natur nahe. Selma wird ihn auch verehrt haben.

Selma war nicht nur eine der Jüngsten in der Klasse, sondern gehörte auch zu den Kleinen und sitzt deshalb in der ersten Reihe auf dem Boden. Sie hat das zaghafte Lächeln ihrer Mutter und ist eine der wenigen, deren Haar zu strengen Zöpfen geflochten ist. Margit und Renée waren nicht nur ein Jahr älter als Selma, sondern auch größer und stehen auf Klassenfotos immer in der letzten Reihe. Renée und Margit wurden Selmas Freundinnen. Renée ihre liebste und vertrauteste.

Dieses Klassenfoto des Schuljahres 1934/​35 nimmt Strenge und Tristesse von Selmas Schulalltag auf. Ausgerechnet vor der unschönen Fensterfront mit schweren Eisengittern im Hof ihrer Schule wurden die Mädchen aufgenommen. Dabei war das Lyzeum ein imposantes klassizistisches Gebäude mit großzügiger Außentreppe und Grünanlage.

Drei Jahre später bietet das aktuelle Klassenfoto keinen neuen Aspekt. Wieder wenden sich die Mädchen wenig heiter dem Fotografen zu. Immerhin ist die hässliche Wand des Innenhofes diesmal mit einem großen Wandteppich verhängt. Selma sitzt wieder in der ersten Reihe vor ihren Mitschülerinnen auf der Erde. Ihre Haare sind immer noch zu Zöpfen nach hinten geflochten. Die dunkle Schuluniform dämpft jeden Ansatz von Fröhlichkeit: schwarz die Röcke und die Blusen. Schwarz die Strümpfe und die Schuhe. Aufpeppen konnten die Mädchen die Schulkleidung mit den weißen Kragen – runde Ecken, spitz auslaufende, geklöppelte, mit Knöpfen verzierte – oder den Pepita-Schleifen. Mal groß gebunden, mal klein geschlungen. Die Fantasie stieß schnell an kleinkarierte Grenzen. Koketterie war eben verpönt: Selmas Klassenkameradin Margit vergaß ihr Leben lang nicht, wie eine Schulinspektorin sie zum Waschbecken zerrte und ihren Kopf grob unter das Wasser tauchte: »Wollen wir doch einmal sehen, ob Deine schönen Locken auch wirklich natürlich sind.«60


Selmas Klasse 1937/​38. Selma, 1. Reihe, 4. v. rechts; letzte Reihe: Erna Isser, 1. v. rechts; Blanka End, 3. v. rechts; Renée Abramovici, 6. v. rechts

Der Schulalltag war bedrückend und da war es schwer, leicht zu sein. Unangekündigte Prüfungen von externen Kommissionen drangsalierten die überwiegend jüdischen Schülerinnen in besonderem Maße. Bei diesen sogenannten »Extemporalen« erschienen die Lehrer morgens mit einheitlichen Fragebögen und hörten ab. Auf Rumänisch, was für viele Mädchen schon schlimm genug war. Doch dass diese Prüfungen vorzugsweise samstags stattfanden, war eine gezielte Diskriminierung: Orthodox erzogene Jüdinnen schrieben am Sabbat nicht – und ernteten zur Häme noch schlechte Noten.

Nicht alle verweigerten sich der Rumänisierung. Margit und Renée zeigten sich auf Fotos schon mal in der rumänischen Nationaltracht: in feinen »ie«, den aufwändig bestickten Trachten-Blusen, zu denen bunte Röcke getragen wurden. Nur wenige Jahre später wird sich Margit erneut einer fremden Kultur beugen müssen, in die sie wieder ungefragt hineingestoßen worden war. Sich beugen heißt nachgeben, um nicht zu zerbrechen. Deshalb spielt Margit 1954 in »moldauischer« Tracht mit ihrem Akkordeon zum Tanz auf, als sie das sibirische Wassjugan nach der Deportation als Heimatersatz annehmen musste.61

Selma sperrte sich nicht gegen die rumänische Kultur. Sie suchte die Begegnung mit deren Literatur, denn offensichtlich beherrschte sie die rumänische Sprache gut. Und zwar so gut, dass sie im Schulfach »limba romănă« fast durchweg gute bis sehr gute Noten erreichte: 9,4 von 10 möglichen Punkten im Endzeugnis von 1936/​37. Das war beachtlich. Selma las Romane und Gedichte von zeitgenössischen rumänischen Schriftstellern.

Die Verse des Dichters Discipol Mihnea erschienen 1940 in Czernowitz. Selma wird sie übersetzen. Ihrem Gedichtband Blütenlese wird sie Worte des rumänischen Schriftstellers und Anwalts Ionel Teodoreanu als Motto voransetzen. Dass Selmas Rumänisch-Zensuren 1940 abrupt absackten, war den politischen Umständen geschuldet.

Französisch war Selmas erste Fremdsprache und wurde mit Rumänisch ab der ersten Klasse im Lyzeum unterrichtet. Doch »limba francezâ« gehörte wohl nicht unbedingt zu Selmas Stärken. Andererseits drohte sie auch nie unter die magische Marke »5« zu rutschen, die eine Sonderprüfung erforderlich machte. Bei Latein war das schon eher der Fall, das ab der dritten Klasse dazukam und in der sechsten Klasse tatsächlich nachgeprüft werden musste. Die »Situația în Iunie« 1940 bedeutete für Selma »corig. Latina, Matematica«.62 Doch im Juni 1940 war sowieso alles in Auflösung begriffen.

Selma wird bedauert haben, dass »Limba germană« erst 1938, im fünften Jahr auf dem Lyzeum als Fach dazukam. Denn Deutsch war ihre Stärke. Endlich konnte sie die Sprache, in der sie sich wirklich zuhause fühlte, auch in der Schule anwenden. In allen schriftlichen Deutsch-Prüfungen hatte Selma die Bestnote erreicht. Dass ausgerechnet in der mündlichen Prüfung eine »9« ihr im Zeugnis die volle Punktzahl 10 verhagelte, wird Selma geärgert haben.

Unbehaglich blieb die ganze Schulzeit. Die Lehrer fühlten sich nicht besser. Selma und ihren Mitschülerinnen entging nicht, dass einige der verbliebenen jüdischen Lehrer übertriebene Anpassung und Strenge an den Tag legten, um der rumänischen Führung ihre Loyalität zu demonstrieren.

Uneingeschränkte Sympathie brachten alle Mädchen Panja Butschakowska entgegen. Sie war der pittoreske Lichtblick im düsteren Schulalltag. Die Schuldienerin hatte ihre dicken Zöpfe mit einem Kopftuch festgezurrt, das doppelt unter ihrem Kinn verknotet war. Drei bis vier farbenprächtige Röcke trug die füllige Polin stets übereinander, die sich vielschichtig über ihren Knien bauschten und den Blick auf derbe Hosen freigaben, wenn Panja breitbeinig am Ende der großen Aufgangstreppe des »Hofmann-Lyzeums« thronte, ja, dort regelrecht Hof hielt. Eine entwurzelte Vertreterin der »Rzeczpospolita«, der polnischen Adelsrepublik, die die Bukowina – vor der Habsburgischen Monarchie – hundertfünfzig Jahre lang geprägt hatte. Panja – die Herrin der Zeit. Mit einer schweren Messingglocke läutete sie die Schulstunden ein und beendete damit auch den Unterricht. Panja – die Herrin für süße Momente. Jeden Morgen schoben sich die Mädchen zwei und zwei durch den engen Toreingang an Panja vorbei und hatten schon das selbstgezimmerte Holzkistchen auf ihrem Schoß im Blick. Denn dort lagen die runden Himbeerbonbons, die sie den Mädchen zusteckte. Jedem nur eines. Ausnahmen machte sie nicht.63

Später, in der großen Pause, baute sich Panja im Foyer des Eingangsbereiches auf. Die Fenstersimse zweckentfremdete sie als Auslage für ihre hausgemachten »Leberknödelchen« und platzierte darauf die scharf gewürzten Fleischbällchen auf kleinen Papieruntersetzern. Für einen Lei war diese Herrlichkeit zu haben.64 Eigentlich nicht überteuert, denn schon eine Kugel Eis kostete einen Lei. Für Margit waren die Fleischknödelchen die Würze im fad gewordenen Schulalltag des »Hofmann-Lyzeums«.

Der in den meisten Fällen aber eine Qual blieb. Selma war nicht die einzige, die sich in den höheren Klassen dem Unterricht entzog, indem sie sich in ihre eigene Welt flüchtete. Jüdischen Schülerinnen erging es an anderen Schulen ähnlich. Auch Liane Schindler, die sich später Ilana Shmueli nannte, verdämmerte ihre Schulzeit mit einem »phantasiereichen Halbschlaf«65. Und erzählte man nicht auch von Cousin Paul, dass er einfach geistig abtauchte, um sich der missliebigen Realität zu entziehen? Selma machte es ihm gleich: Sie rutschte während des Unterrichts einfach unter die Schulbank. Nicht, weil sie schüchtern war, sondern weil sie dort ihre Ruhe hatte und lesen konnte, was ihr behagte. Sehr früh schon begann sie mit »Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Paul Verlaine und den damals populären indischen Weisheiten des Rabindranath Tagore«66. Renée erinnerte sich noch viele Jahre später, dass sie dabei Schützenhilfe leistete und die Lehrer so gut sie konnte von Selmas Versteck ablenkte.

Renée und Selma hatten die gemeinsamen Schuljahre zusammengeschweißt, sie zu besten Freundinnen gemacht. Die beiden Mädchen hatten den gleichen Schulweg. Im Unterricht saßen sie in derselben Bank. Ob auch der Verlust eines Elternteils die beiden Mädchen von Anfang an so schnell zueinanderfinden ließ? Renée hatte eine Stiefmutter, nachdem ihre leibliche Mutter an Blutvergiftung gestorben war.67

Die rumänischen Pädagogen nahmen wenig Anteil am Schicksal ihrer Zöglinge. Auch ihrem Lernverhalten standen sie eher gleichgültig gegenüber. Nur Fehlzeiten vermerkten sie penibel in den Klassenlisten. Doch sie scherten sich wenig darum, dass sich die Mädchen stunden- und tagelang dem Unterricht entzogen. Fast schien es dem Lehrpersonal entgegenzukommen, dass jüdische Schülerinnen durch Leistung nicht hervorstachen. Deshalb wurde keine neue Klasse eingerichtet, sondern der Klassenteiler angehoben, als ab 1937 immer mehr jüdische Mädchen aus rumänischen Gymnasien ins »Hofmann-Lyzeum« drängten. Im antisemitischer werdenden Klima schien es Eltern noch ein geschützter Hort zu sein. Im Schuljahr 1937/​38 – im für Juden so dramatischen Goga-Cuza-Jahr – saßen in Selmas Klasse schließlich achtundfünfzig Schülerinnen. Doch das Lerntempo wurde der erschwerten Unterrichtssituation weder angepasst noch wurde den ungenügenden rumänischen Sprachkenntnissen vieler Mädchen Rechnung getragen: Die rumänischen Lehrer erklärten grundsätzlich nur ein einziges Mal. Wer nicht verstanden hatte, musste zu Hause eben nacharbeiten. Vierteljährliche Zeugnisse kontrollierten den Lernerfolg.68 Reichte die Notenskala auch von 1 bis 10, so waren viele jüdische Schüler, die die rumänischen Gymnasien besuchten, überzeugt: »10 kriegt nur der liebe Gott.«69 Juden erreichten dort selten mehr als 7, auch wenn sie sich noch so sehr bemühten. Einzig der Rabbi, der die Mädchen in jüdischer Religion unterrichtete, unterlief das System: Alle Mädchen mosaischen Glaubens bedachte er die Schuljahre hindurch mit der Bestnote 10. Andere Fachlehrer schmälerten gute Leistungen, indem sie den Schnitt ungeniert drückten. Kurz und gut: »Das jüdische Schulkind zog durch die Schule wie durch die Hölle.«70

Dagegen konnten sich rumänische Mädchen im Himmel wähnen: Bei ihnen drückten die Lehrer beide Augen zu. Die aufreizende Graziella Barbuzza in Selmas Klasse war ein Paradebeispiel dafür. Die Tochter eines rumänischen Offiziers war 1937/​38 neu in die Klasse gekommen, nachdem die Goga-Cuza-Regierung verstärkt regimetreue Landsleute in die Bukowina versetzt hatte, deren Kinder die Czernowitzer Schulen bevölkerten. Graziella hatte schon Klassen wiederholt und war zwei Jahre älter als Selma. Dass sie römisch-katholisch war, demonstrierte ein großes silbernes Kreuz an ihrer Halskette, das wenig unschuldig in den tiefen Ausschnitt ihres körperbetonten Kleides rutschte. Denn Graziella blieb die Schuluniform erspart: Sie kam in Seidenstrümpfen und auf extravaganten Pumps zur Schule gestöckelt. Ihr Kleid hatte einen durchgehenden Reißverschluss – und mit einem Ruck konnte Zuki, so ihr Kosename, zur Verblüffung ihrer Klassenkameradinnen entblößt vor ihnen dastehen. Mit diesem Auftritt hatte Zuki auch manch jungem Offiziersanwärter den Kopf verdreht. Gegen entsprechendes Entgelt bot Graziella ihren Mitschülerinnen an, ihre Tête-à-Têtes mit jungen Offizieren zu belauschen.71 Mit Wissen punktete die kokette Rumänin eher weniger, aber mit ihren legendären Liebesabenteuern blieb sie ihren Mitschülerinnen trotz des kurzen Gastspiels im Gedächtnis. Denn mit dem Ende der Goga-Cuza-Regierung wurde Vater Barbuzza aus Czernowitz abgezogen und Graziella hatte die Schule verlassen.

Zur Schuluniform gehörte ein Barett als Kopfbedeckung. »LPF«–»Liceul Particular de Fete« prangte auf der Stirnseite in goldenen Lettern. Golden schimmerten auch die Nummern auf den Ärmelaufschlägen der Uniformen. Fadenscheiniger Glanz. Die Ziffern dienten in erster Linie dazu, Bespitzelung zu erleichtern, die die Inspektoren auch außerhalb des Schulbereiches fortsetzten. Selbst vor dem Privatleben der Mädchen machten sie nicht halt. Wer ohne Uniform auf der Straße ertappt wurde, musste Strafe befürchten. Wer in der Öffentlichkeit Deutsch sprach, musste Strafe befürchten. Zu den Kardinalsünden zählte, sich ohne Uniform in Gesellschaft eines Jungen erwischen zu lassen. Eine Möglichkeit, die Strafe abzuwenden, fand sich dennoch immer: »Bakschisch« hieß das Zauberwort, das nachsichtig stimmte. Diese lukrative Möglichkeit der Nebeneinkünfte machte Schulkontrolleure und selbst Polizisten blind gegenüber Verfehlungen.

Leistung und Bildung – für die Freizeit blieb den meisten Mädchen nicht viel Luft. Vor allem nicht, wenn sie aus besseren Kreisen stammten: Französischunterricht bei Fräulein Harnik. Sportunterricht im Makkabi-Turnverein. Musikunterricht, Kunststunden. Die Nachmittage waren ausgefüllt. Bereits ab dem fünften Lebensjahr fingen Kinder des wohlhabenden Bildungsbürgertums mit dem Privatunterricht in Französisch an.

Selma zählte nicht zu den besseren Kreisen. Von teuer bezahltem Privatunterricht ist nichts bekannt. Selma ist auch nie auf den Fotos der feinen Kindergeburtstage ihrer Klassenkameradinnen zu sehen.

Man blieb auch bei Ausflügen in die nähere Umgebung unter sich, wenn es zum Schwimmen an den Pruth ging oder wenn Margits Mutter eine Kinderschar mit Picknick-Korb zum Fluss begleitete. Umso wichtiger wurde Selma ihre Freundschaft zu Renée. Mit ihr tauschte sie auf dem gemeinsamen Schulweg Privates aus. Da mussten sie nicht die Kontrolle der rumänischen Schulinspektoren fürchten. Liane Schindler beneidete Klassenkameradinnen um diese Intimität. Sie wurde jeden Morgen mit dem »Sandläufer«, einem eleganten Einspänner, zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt, was sie nicht nur »stets aufs Neue in Verlegenheit brachte«72, sondern eben auch ausgrenzte. Liane sollte erst im sogenannten »Russenjahr« in der Jiddischen Schule mit Selma und anderen gleichaltrigen Mädchen intensiveren Kontakt aufnehmen. Ohne die Wirren der Zeitgeschichte wären sich Selma und Liane wohl nicht begegnet.

Doch Selma genügte Renées Gesellschaft. Weil Selma wohlerzogen und belesen war, hatte die Familie Abramovici sie gerne zu Gast. Selma verkroch sich dann in der üppig ausgestatteten Bibliothek, las, was ihr in die Finger kam, oder saß Renée zu Füßen, wenn die Freundin Klavier spielte. Zusammensitzen ohne zu reden, Nachmittage lang. Vertrautheit ohne Worte. Selma und Renée wussten auch im Schweigen, wie es jeder von ihnen zumute war.73

Margit konnte sich nicht in den Schulweg der beiden einklinken; er lag in der entgegengesetzten Richtung. Gemeinsame Unternehmungen zu dritt blieben Margit dennoch im Gedächtnis. So wie das »Striezelchen-backen«. Das war Thema der morgendlichen »gospodăriă«, der Hauswirtschaftslehre, gewesen. Die drei Mädchen hatten am Nachmittag bei Margit zu Hause in die Praxis umgesetzt, was ihnen vormittags in der Schule als Theorie serviert worden war. Wirkliche Back-Kunst kam an jenem Nachmittag nicht recht zum Einsatz, die fertigen Striezel hatte Margit beim Bäcker gekauft. Die Mädchen höhlten dann nur noch die Teigtaschen aus und füllten sie mit »Zwiebelchen und Kräutern«, um sie anschließend im Ofen zu überbacken.74 Hauswirtschaft und Handarbeit –»gospodăriă« und »lucrul de mănă«– schien Selma gerne gemacht zu haben. Dass sie 1938 laut ärztlichem Attest verletzt und ausgerechnet von diesen beiden Fächern befreit gewesen war, musste sie betrübt haben.

Margit hat etliche Schnappschüsse aus ihrer Kindheit und Jugend von gemeinsamen Ausflügen mit Freundinnen gerettet: Mal ist sie mit fein herausgeputzten Mädchen in rumänischer Nationaltracht zu sehen, mal inmitten einer fröhlichen Mädchenschar in einem der Strandbäder am Pruth. Selma ist nie dabei, Renée hin und wieder. Zu Margits festem Freundeskreis gehörten aber Livia und Ruth Segal. Schon allein weil die Familien eng befreundet waren. Nathan Segal, der Vater der beiden Mädchen, war der Geschäftspartner von Margits Vater Moritz. Die Mütter fuhren mit den Kindern regelmäßig zur Sommerfrische in die nahen Waldkarpaten. Selma hat Ruth gekannt, ein Jahr lang waren die beiden Klassenkameradinnen, davor hatte Ruth Selmas Parallelklasse besucht. Auch Ruths Schwester, die zwei Jahre jüngere Livia, wird Selma zumindest vom Sehen vertraut gewesen sein, denn auch sie war Schülerin des »Hofmann-Lyzeums«. Selbst wenn Ruth, Livia und Selma während der Schulzeit eher getrennte Wege gegangen waren – das Jahr 1942 wird sie unter den unglücklichsten Umständen zusammenführen.

Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben

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