Читать книгу Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben - Marion Tauschwitz - Страница 6
VORWORT
ОглавлениеSeit ich zu Beginn der Achtzigerjahre Selma Merbaums Gedichten begegnet bin, steht sie mit ihrer schreibenden Stimme, mit ihrem Schicksal dicht an meiner Schulter. Selten habe ich eine solche Wortklarheit und Menschenzärtlichkeit wahrnehmen können, mit der ein junges Mädchen seine erwachenden Gefühle umkreist, seine Sehnsucht nach einer Liebe, die zu leben ihr nicht vergönnt war.
Um den ungespielten Ton wirst du nun ewig bangen, bangen um das Glück, das dich nur leicht gestreift in den leisen Nächten.
Selma hatte die Auslese ihrer schönsten Verse ihrem Freund Leiser Fichmann »zum Andenken und zum Dank für viel unvergeßlich Schönes, in Liebe gewidmet« und zu einem kostbaren Poesie-Album gebunden. Die beiden jungen Menschen waren ein kleines Stück ihres kurzen Lebensweges in der politisch linken, zionistischen Jugendgruppe Hashomer Hazair gemeinsam gegangen. Den politischen Turbulenzen setzten beide ihre Träume entgegen: von einem besseren Leben in Frieden, Freiheit und Gleichheit.
Doch »mit kältester Kälte« hatte der »Meister aus Deutschland«, den Paul Celan, Czernowitz’ großer Sohn und Selmas Cousin, in seinem erschütternden Poem »Todesfuge« anklagt, alle diese Hoffnungen zunichte gemacht. Selma und mit ihr abertausende Czernowitzer Juden fielen dem Furor des deutschen Naziregimes zum Opfer.
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und haßen
und möchte den Himmel mit Händen faßen,
und möchte frei sein und atmen und schrei’n.
Ich will nicht sterben. Nein:
Nein.
Um solche Lebenshoffnungen scherte sich antisemitischer Terror nicht. Rumänen, Sowjets und Deutsche hatten Selmas kurzes Leben am Ende zur Qual werden lassen und es ihr schließlich genommen. Gerade mal achtzehn Jahre alt war Selma, als sie am 16. Dezember 1942 entkräftet und ausgezehrt, vom Flecktyphus dahingerafft, ihr Leben im deutschen Zwangsarbeitslager Michailowka östlich des Bug lassen musste – die SS vollendete mit deutscher Gründlichkeit, was die rumänischen Verbündeten in die Wege geleitet hatten.
In ihren achtundfünfzig erhaltenen Gedichten entwickelte schon die junge Selma eine unaufdringliche Meisterschaft im Wort und lässt in ihren poetischen Bildern die Grundmelodien ihres Lebens ertönen: Wachheit und Besinnlichkeit, Lebensfreude und heitere Melancholie, Traurigkeit, aber auch Angst. In ihren Versen erfahren Rainer Maria Rilkes Worte »das Schöne sei des Schrecklichen Anfang« ihre tiefe fürchterliche Bestätigung. Wie ein »Wundpunkt« spiegeln sich in Selmas Gedichten die Höllenstürze ihres jungen Lebens. Hinter anfangs noch verspielter Zärtlichkeit ihrer Worte manifestiert sich bald auch die Destruktivität der immer grauenvoller werdenden täglichen Ereignisse. Als wolle Selma nicht länger »zahme« Gedichte schreiben, setzt sie ihre Kunst bewusst dazu ein, die allgegenwärtige Unmenschlichkeit jener Zeit abzubilden und Grausamkeiten aufzuzeigen.
Sieh doch, das Grauen dort in dem Wald –
vielleicht stirbt dein Vater jetzt!
Vielleicht bist du eine Waise bald
und sein Körper ist bald zerfetzt …
Zerfetzt seine Lippen, zerfetzt sein Haar,
zerfetzt seine Hände auch –
und das alles schon nach einem Jahr
und Glück ist verwandelt in Rauch …
Wir lesen heute eine junge Dichterin, deren Worte nicht mehr hauptsächlich als Ausdruck einer unerfüllten Liebe zu einem Freund zu werten sind. Sie sind vor allem kunstvoll verwobene Metaphern für eine Realität, die Trauer, Angst und Schrecken hervorrief.
Dank dieser Biografie, die Selmas Leben, ihr Werk und den komplexen historischen Kontext eng miteinander verknüpft, erfahren ihre Gedichte eine existenzielle Bereicherung und lassen sich umfassender verstehen.
Viel stärker als es bisher gesehen wurde, tritt uns Selma Merbaum als selbstbewusstes, couragiertes Mädchen entgegen. Diese politisch wache junge Frau nahm schon früh und selbstbestimmt ihr Leben in eigene Hände und ließ sich bis zum Ende von Hoffnung auf eine liebevollere Zukunft tragen.
Die Biografie gibt Selma ihre Identität zurück, die die Nazi-Schergen ihr zu nehmen versucht hatten. Selmas Fühlen und Denken, Leben und Sterben werden uns nicht nur durch ihr Werk, sondern nun auch durch den Blick auf ihr Leben für immer in Erinnerung bleiben.
Iris Berben