Читать книгу Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben - Marion Tauschwitz - Страница 7

EINLEITUNG

Оглавление

»Gedichte, zum Weinen schön«

Die Lyrikerin Hilde Domin war tief berührt von den Versen, die ihr die junge Germanistik-Professorin und Celan-Spezialistin Bianca Rosenthal von der California Polytech State University 1976 bei ihrem Besuch in Heidelberg vorstellte. Gedichte –»so rein, so schön, so hell, so bedroht«, Verse – von »frühlingshafter Grazie«. Ein völlig unbekanntes Mädchen hatte sie verfasst: »Selma Meerbaum-Eisinger«. Die junge Dichterin sei mit achtzehn Jahren in einem deutschen Zwangsarbeitslager in Transnistrien umgekommen.

Bianca Rosenthal war eine Cousine zweiten Grades von Selma und auch von Paul Celan. Alle stammten sie aus Czernowitz, »diesem sagenhaften Czernowitz«.

Hilde Domin war fasziniert und machte sich stark für die Verbreitung von Selmas Versen, die sie an den jungen Hofmannsthal erinnerten. Oder an Gertrud Kolmar. Den Brief, den sie im Januar 1979 an den damaligen Redakteur des Süddeutschen Rundfunks, Helmut Heißenbüttel, geschrieben hatte, las ich bei meiner Arbeit zur Biografie Hilde Domins. Sie hatte ihrem Schreiben drei Gedichte von Selma beigelegt: »Sie sehen sofort, ob Sie dies übernehmen wollen.«– Heißenbüttel wollte nicht.

Domin ließ nicht locker. Sie nahm Kontakt mit dem STERN-Journalisten Jürgen Serke auf und drückte ihm im Februar 1980 den Privatdruck mit Selmas Gedichten in die Hand: »Lies mal. Gedichte zum Weinen schön. Mach was draus.« Schon im Mai desselben Jahres machte sich Serke im Auftrag des STERN auf den Weg nach Israel und brachte die »Geschichte einer Entdeckung« nach Deutschland.

Das Schicksal der jungen Dichterin berührte mich tief.

Der Siegeszug von Selmas Gedichten begann, doch die Vernichtungstaktik der Nazi-Schergen schien Erfolg gehabt zu haben: Dünn gesät waren die Erinnerungen der wenigen Überlebenden an das junge Mädchen. So begnügte sich die Literaturwelt mit der Annahme, dass Selmas traurige Lebensgeschichte »zu kurz und zu dürftig schien, um daraus eine spannende narrative Geschichte zu entwickeln«.

Doch es gab noch Klassenkameradinnen und vor allem eine Freundin aus Selmas zionistischer Gruppe Hashomer Hazair, mit denen ich Kontakt aufnehmen konnte. Ich habe mit Bekannten und Verwandten in den USA und in Israel gesprochen und Selmas Verwandte in Deutschland getroffen. Im ukrainischen Regionalarchiv in Czernowitz sah ich Schulunterlagen ein.

Aus den Erinnerungssplittern und dank jüdischer Geburts-, Hochzeits- und Sterberegister sowie der vorhandenen Archivunterlagen konnte ich Selmas Lebensgeschichte zusammensetzen – und Selma ihren richtigen Namen zurückgeben: Sie hieß nie anders als Selma Merbaum.

Selmas Persönlichkeit zeigt sich von einer neuen Seite. Sie war eine politisch engagierte, selbstbestimmte junge Frau. Selmas Gedichte lesen sich neu. Sie sind mehr als »sehnsüchtige Liebesgedichte« einer unerwiderten Liebe zu einem jungen Mann. Sie sind eine Liebeserklärung an die Natur der Bukowina und zeugen von der sensiblen Empfindsamkeit eines erwachenden jungen Lebens. Die Verse erzählen von Glück und Sorge, von Freude und Wehmut, von Aufbegehren und Angst, von Sehnsucht und Trauer. Sie reflektieren aber auch souverän die Turbulenzen der verschlungenen Geschichte einer Landschaft, die – davon war Paul Celan überzeugt –»den meisten von Ihnen unbekannt sein« dürfte. In ihr lebten »Menschen und Bücher«. Menschen, mit denen das Schicksal wenig sanft umgegangen ist und die dem Vergessen entrissen werden müssen.

Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben

Подняться наверх