Читать книгу Herrin der Falken - Marion Zimmer Bradley - Страница 7
4.
ОглавлениеRomilly erlebte die Ankunft der ersten Mittsommergäste nicht mit. Der Tag hatte klar und leuchtend begonnen; nur eine Andeutung von Wolken verschleierte den Aufgang der roten Sonne. Drei Tage lang hatte es weder Schnee noch Regen gegeben, und überall im Hof blühten Blumen auf. Romilly setzte sich im Bett hoch und holte aufgeregt Atem. Heute wollte sie Preciosa zum ersten Mal frei fliegen lassen.
Dies war die endgültige, alles entscheidende Probe für Falken und Falkner. Allzuoft schwang sich ein zum ersten Mal aufgelassener Falke in den Himmel, verschwand in den violetten Wolken – und kehrte nie wieder. Romilly wußte das gut. Sie würde es nicht ertragen, Preciosa jetzt noch zu verlieren, und bei einem Wildfang, der schon selbständig Beute gemacht hatte, war es um so wahrscheinlicher.
Aber Preciosa würde zurückkehren, dessen war sich Romilly sicher. Sie streifte das Nachthemd ab und zog sich für die Jagd an. Auf Anordnung ihrer Stiefmutter war ihr neues grünes Samtkleid verlockend bereitgelegt worden. Trotzdem schlüpfte Romilly in ein Hemd, eine alte Jacke und eine von Darren abgelegte Hose. Wenn ihr Vater böse wurde, ließ sich das nicht ändern. Sie dachte nicht daran, Preciosas erste Jagd zu verderben, weil sie sich Sorgen machen mußte, ob ihr neues Samtkleid einen Fleck bekam.
Als sie hinaus in den Korridor schlich, stolperte sie über einen vor die Tür gestellten Korb, das traditionelle Mittsommergeschenk von den Männern der Familie an Mütter, Schwestern, Töchter. Ihr Vater war immer großzügig. Romilly trug den Korb ins Zimmer, suchte sich einen Apfel und ein paar von den Süßigkeiten heraus, die auch immer vorhanden waren, und steckte alles in die Taschen – nur das, was sie für die Jagd brauchte. Sie überlegte und nahm dann noch etwas für Darren und Alderic mit. Es stand noch ein zweiter Korb da – Darrens? Und ein kleiner, ungeschickt aus Papierstreifen zusammengeklebt, den Rael im Schulzimmer vor ihren Augen zu verstecken gesucht hatte. Sie lächelte gerührt, denn er war mit einer Handvoll Nüssen gefüllt, die er, wie sie wußte, von seinem eigenen Nachtisch gespart hatte. Was war er für ein Schatz, ihr kleiner Bruder! Einen Augenblick lang war sie versucht, auch ihn zu diesem besonderen Ausritt einzuladen. Aber nach einer Minute des Nachdenkens seufzte sie und entschied sich, den Zorn ihrer Stiefmutter nicht zu riskieren. Lieber wollte sie Rael später irgendeine besondere Freude machen.
Geräuschlos ging sie den Flur hinunter. Darren und Alderic warteten schon am Eingang. Sie hatten die Hunde hinausgelassen – schließlich war die Sonne längst aufgegangen. Die drei jungen Leute gingen auf den Stall zu.
Darren berichtete: »Ich habe Vater gesagt, wir würden am frühen Morgen auf die Beize gehen. Er hat dir erlaubt, seinen Falken zu nehmen, wenn du möchtest, Alderic.«
»Er ist großzügig«, antwortete Alderic und trat ruhig vor den Block.
»Welchen willst du nehmen, Darren?« fragte Romilly und setzte Preciosa auf ihr Handgelenk. Darren sah sie lächelnd an. »Du weißt ja, Schwester, daß Falken mir kein Vergnügen bereiten. Hätte Vater mich geheißen, einen seiner Vögel abzurichten, würde ich ihm gehorchen. Vielleicht zu Ehren des Feiertags hat er jedoch davon Abstand genommen, mir einen solchen Befehl aufzuerlegen.«
Sein Ton war so bitter, daß Alderic aufblickte und sagte: »Ich glaube, er wollte freundlich sein, bredu.«
»Aye. Zweifellos.« Aber Darren hielt den Kopf gesenkt, als sie zum Stall hinübergingen, wo die Pferde bereitstanden.
Romilly setzte Preciosa auf die Stange und sattelte ihr Pferd selbst. Sie wollte keinem der Knechte befehlen, gegen sein Gewissen ihrem Vater ungehorsam zu sein, aber sie wollte an diesem Feiertag auch nicht im Damensattel reiten. Wenn ihr Vater sie bestrafte, würde sie es hinnehmen.
Es war die reine Ekstase, wieder in richtiger Reitkleidung auf einem Pferd zu sitzen, den kühlen Morgenwind im Gesicht zu spüren und Preciosa, verkappt, aber ganz wach, vor sich auf dem Sattel zu haben. Romilly nahm an dem Vogel ein Gemisch aus Emotionen wahr, die sie nicht identifizieren konnte... es war eigentlich keine Angst, wie sie sie erlebt hatte, auch keine Aufregung. Aber zu ihrer großen Erleichterung war nichts von der furchterregenden Wut dabei, die sie zu Beginn gespürt hatte. Die Wolken lösten sich auf, als sie in die Berge eindrangen, und unter den Hufen ihrer Pferde knisterte es nur ein ganz klein wenig von Rauhreif.
»Wohin sollen wir reiten, Darren? Du kennst diese Berge«, fragte Alderic, und Darren lachte die beiden anderen an.
»Frag Romilly, nicht mich, mein –« er hielt unvermittelt inne. Romilly wandte die Augen von ihrem Vogel ab und fing den scharfen, fast warnenden Blick auf, den Alderic seinem jüngeren Freund zusandte. Darren fuhr schnell fort: »Meine Schwester weiß mehr von den Bergen und den Falken als ich, Lord ’Deric.«
»Hier entlang, schlage ich vor«, sagte Romilly. »Zu der oberen Pferdeweide – da können wir die Falken fliegen lassen, und es wird uns niemand stören. Und im Dickicht sind immer Vögel und kleine Tiere.«
Auf dem Gipfel angekommen, sahen sie auf die Weide nieder, eine breite Strecke Grasland am Hang, hier und da mit Klumpen von wilden Rosen und niedrigem Gehölz bestanden. Ein paar Pferde weideten das büschelige grüne Sommergras ab, und Boden und Zweige waren bedeckt mit blauen und gelben Wildblumen. Insekten summten im Gras. Die Pferde hoben forschend den Kopf. Da sie jedoch nichts sahen, was sie befremdete, fuhren sie fort zu weiden. Ein kleines Stutenfohlen trottete ihnen auf dünnen Beinen entgegen. Romilly lachte, glitt aus dem Sattel und liebkoste das Pferdchen. Es war nicht viel höher als Romillys Schulter.
»Das ist Angel«, erklärte sie den jungen Männern. »Sie wurde im letzten Winter geboren, und ich habe ihr immer Apfelstückchen gegeben – nein, Angel, das ist mein Frühstück.« Mit einem Klaps vertrieb sie die weiche Schnauze von der Tasche, die das Pferd hatte plündern wollen. Dann tat es ihr leid. Sie nahm ihr Messer und schnitt ein kleines Stück Apfel für das Fohlen ab.
»Mehr gibt es jetzt nicht, sonst bekommst du Bauchweh«, sagte sie. Das Pferdchen, das ihr offenbar aufs Wort glaubte, trabte auf seinen langen dünnen Beinen davon.
»Machen wir, daß wir weiterkommen, oder der alte Windy hängt sich an uns«, lachte Romilly. »Er ist hier auf der Weide. Er ist ein zu alter Wallach, als daß die Stuten ihn zur Kenntnis nähmen, und seine Zähne sind fast schon zu schlecht, um Gras zu kauen. Vater wollte ihn im Frühling abtun lassen, doch dann meinte er, er solle noch einen letzten Sommer haben, bevor der Winter kommt. Dann soll er Ruhe finden und mit seinen alten Gelenken nicht noch einen kalten Winter ertragen müssen.«
»Ich werde trauern, wenn mir diese Aufgabe zugeteilt werden sollte«, gestand Darren. »Wie alle haben auf ihm reiten gelernt. Man saß auf ihm wie auf einem Schaukelstuhl.« Trübsinnig sah er zu dem alten, halb blinden Pony hin, das in einer Ecke des Feldes weiches Gras abzupfte. »Ich glaube, Vater hat ihn verschont, weil er Ruyvens erstes Pferd war...«
»Er hatte ein schönes Leben und wird ein gnädiges Ende finden«, sagte Alderic. »Im Gegensatz zu den Menschen erlaubt man Pferden nicht, zu leben, bis sie senil und halb verrückt sind... wenn man mit Menschen ebensoviel Erbarmen hätte, würde jetzt nicht ein Usurpator auf dem Thron in Hali sitzen, und der König wäre nicht auf dem Weg ins Exil.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Romilly. Darren runzelte die Stirn, aber Alderic antwortete: »Ihr seid noch nicht alt genug, um Euch an den Tod König Felix’ zu erinnern? Er war über hundertundfünfzig, ein Emmasca, sehr alt und ohne Söhne. Und er hatte Sinn und Verstand lange überlebt. Deshalb versuchte er, den ältesten Sohn seines jüngsten Bruders auf den Thron zu setzen statt seines nächsten Bruders ältesten Sohn, der der rechtmäßige Erbe war. Und so sitzt jetzt auf dem Thron der Hasturs zu Hali Lord Rakhal, der einem alten und senilen König schöntat und schmeichelte und die Regenten alle mit Bestechungen und Lügen in die Hand bekam, ein alter Lüstling, vor dem keine Frau sicher ist, und auch nicht, so heißt es, die jungen Söhne der Höflinge, die seine Gunst erwerben wollen. Und Carolin und seine Söhne wandern über den Kadarin, und jeder Räuber kann sich den Preis verdienen, den unser allergnädigster Lord Rakhal – denn ich werde ihn niemals König nennen – auf ihre Köpfe gesetzt hat.«
»Kennt Ihr den... den verbannten König?«
Darren warf ein: »Der junge Prinz war eine Zeitlang in Nevarsin bei den Mönchen. Aber er floh, als bekannt wurde, daß Lord Rakhal ihn dort suchte.«
»Und Ihr steht auf der Seite des jungen Prinzen und des... des Königs im Exil?« fragte Romilly.
»Aye. Das tue ich. Und wenn irgendein freundlicher Höfling den alten Felix erlöst hätte, bevor das Leben zur Bürde für ihn wurde, regierte jetzt Carolin in Hali als gerechter König, und die heilige Stadt der Hasturs würde nicht in... in eine Jauchegrube von Schmutz und Unanständigkeiten verwandelt, wo kein Mann Gerechtigkeit verlangen kann, ohne eine Bestechung in der Hand zu halten, und emporgekommene Herrchen und Ausländer unser Land unter sich aufteilen!«
Romilly antwortete nicht. Sie wußte nichts über Höfe und Könige und war nicht einmal so weit bis in die Vorgebirgsstadt Neskaya gekommen, ganz zu schweigen vom Tiefland oder dem See von Hali. Sie streckte die Hand nach Preciosas Haube aus. Doch sie hielt inne und erwies Alderic die einem Gast zukommende Höflichkeit.
»Wollt Ihr Euren Falken zuerst auflassen, Sir?«
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, wir sind ebenso gespannt darauf wie Ihr, was Preciosa gelernt hat.«
Mit bebenden Händen nahm Romilly die Haube von Preciosas Kopf. Der Falke schüttelte das Gefieder. Jetzt. Jetzt kam die Probe nicht nur darauf, ob sie den Falken beherrschte, sondern auch, ob der Falke sich von ihr hatte unterweisen lassen und sich an sie gebunden fühlte. Sie meinte, es nicht ertragen zu können, wenn dieser Falke, den sie liebte und um den sie so viele Stunden voller Schmerz und Angst verbracht hatte, fortfliegen und nie zurückkehren würde. Es schoß ihr durch den Kopf: Ist es das, was Vater empfindet, jetzt, wo Ruyven fort ist? Aber sie mußte den Falken im freien Flug testen. Andernfalls war er nicht mehr als ein zahmer Käfigvogel, der stumpfsinnig auf einem Block hockte, und kein wilder Falke. Tränen verschleierten ihre Sicht, als sie die Faust hob. Der Falke balancierte einen Augenblick lang und hob mit einem einzigen langen Flügelschlag ab.
Auf einem hohen, schrägen Bogen stieg er ins Sonnenlicht auf. Romilly sah ihm nach, den Kopf voll ängstlicher Gedanken. Wird Preciosa gut fliegen, hat die lange Zeit der Untätigkeit ihr geschadet? Und irgend etwas in ihr flog mit dem Falken empor, spürte die wortlose Freude über die Morgensonne auf ihren Flügeln. Das Licht blendete ihre Augen, als sie sich nach hinaufschwang, schwebte, kreiste, die Flügel schlug und verschwand.
Romilly stieß den angehaltenen Atem aus. Preciosa war fort, sie würde nicht zurückkehren.
»Ihr habt sie verloren, fürchte ich«, sagte Alderic schließlich. »Es tut mir leid, damisela.«
Trauer und Schmerz und ein Teilhaben an der Ekstase stritten sich in Romilly miteinander. Freier Flug, etwas von ihr flog mit dem Falken... und verblaßte in der Ferne. Sie schüttelte den Kopf. Wenn der Falke entflohen war, hatte sie ihn nie wirklich besessen. Sie dachte: Ich möchte sie lieber verlieren, als sie gegen ihren Willen an mich binden...
Warum kann Vater das nicht einsehen? Romilly erkannte Darrens Gedanken an ihrer Bitterkeit. Also war er nicht kopfblind? Oder trat seine telepathische Fähigkeit nur gelegentlich auf, wie es ihr früher ergangen war, wenn sie tief bewegt war. Ihre Telepathie war erstarkt, als sie begonnen hatte, mit Tieren zu arbeiten, aber Darren besaß nichts von dieser Gabe.
Nun war Preciosa frei, und alles war nur eine Illusion gewesen. Romilly konnte ebensogut still im Zimmer sitzen und sich um ihre Näharbeit kümmern. Denn was kam dabei heraus, wenn sie sich im Falkenhaus aufhielt und versuchte, wie ein Mann mit den Vögeln zu arbeiten?
Und dann meinte sie, das Herz bleibe ihr stehen. Denn durch den unendlichen Schmerz über den Verlust stahl sich eine fadendünne Wahrnehmung, hoher Flug, die Welt unter ihr wie die Karten in ihren Schulbüchern ausgebreitet, nur farbig und seltsam scharf, gesehen durch schärfere Augen als ihre eigenen, und von hier und da kam ein kleines Lebensflackern, kleine Vögel in der Luft, kleine Tiere im Gras...
Preciosa! Der Falke war immer noch in Rapport, der Falke war nicht davongeflogen! Darren sagte etwas; Romilly hörte es nicht. Alderic riet seinem Freund: »Verschwende deine Stimme nicht, bredu, sie kann dich nicht hören. Sie ist mit dem Falken...«
Romillys Körper saß in altgewohnter Haltung im Sattel, aufrecht, stumm, aber ihr wirkliches Selbst flog über die hochgelegene Alm, der Ekstase des Fluges hingegeben. Ihre Sinne waren übernatürlich scharf, sie war sich des Lebens kleiner Vögel bewußt, und sie merkte, daß sie mit den Lippen schmatzte. Es war so absurd, daß sie fast gekichert und den Rapport unterbrochen hätte, dieser plötzliche brennende Hunger und ein in seiner Wildheit fast sexuelles Verlangen... hinunter. Hinunter auf starken Schwingen, der Schnabel schlägt zu, Blut strömt in ihren Mund, ein plötzliches Umschlagen des Lebens in den Tod...
Hinunter. Schwankend hinunter. Romilly hatte sich gerade noch genug eigenes Bewußtsein bewahrt, daß sie ihre Faust unter dem Ruck des mit seiner Beute landenden Falken ganz ruhig hielt. Tränen strömten ihr übers Gesicht, aber es war keine Zeit, sich Gefühlen hinzugeben. Ihr Messer war in ihrer freien Hand. Sie schnitt den Kopf ab, stopfte ihren Anteil, das kopflose Kaninchen, in die Jagdtasche. Aber ihre Gedanken nahmen daran teil, wie der gierige Falke seinen Anteil verschlang. Alderic hatte seinen Falken aufgelassen. Romilly merkte nichts davon. Sie weinte vor Liebe und Erleichterung. Dann streifte sie Preciosa die Haube wieder über den Kopf.
Preciosa war zurückgekommen, aus freiem Willen, aus der Freiheit zu Banden und Haube. Romilly würgte das Schluchzen hinunter und streichelte den Falken mit der Spinnfeder. Knie und Hände zitterten ihr.
Was habe ich getan, um das zu verdienen? Wie kann ich dessen jemals würdig werden? Ein wildes Tier hat seine Freiheit für mich aufgegeben. Was kann ich nur tun, um mich dieses Geschenkes würdig zu erweisen?
Später aßen sie die Äpfel und Süßigkeiten, die Romilly mitgenommen hatte. Dann ritten sie durch den heller werdenden Tag nach Falkenhof zurück. Im Hof angekommen, sahen die jungen Leute, daß fremde Pferde abgesattelt wurden, eins mit dem Banner Aldarans von Scathfell. Also war der Höchstgeborene der Gäste da.
Alderic erkundigte sich besorgt: »Ist der alte Lord Gareth noch Herr von Scathfell?«
»Nein, mein Lord. Gareth von Scathfell ist nicht älter als neunundvierzig«, antwortete Romilly. Alderic wirkte erleichtert, und Romilly bemerkte den fragenden Blick zwischen Darren und Alderic. Alderic sagte kurz: »Er könnte mich durchaus vom Ansehen her kennen.«
»Hast du kein Vertrauen in die Gesetze der –« begann Darren, sah stirnrunzelnd in Romillys Richtung und brach ab. Romilly, den Kopf über ihren Falken geneigt, dachte: Für wie dumm halten die mich eigentlich? Ich müßte taub, blind, stumm und noch dazu kopfblind sein, wenn ich nicht merkte, daß er in Verbindung mit Carolin im Exil steht. Vielleicht ist er der junge Prinz selbst. Und ich weiß ebensogut wie er, daß mein Vater davon nichts erfahren darf.
»Das mag schon sein. Der alte Gareth ist vor drei Wintern gestorben«, berichtete Darren, »und er war halb blind. Werden alle Leute von Scathfell hier sein, Romilly?«
Froh, daß der Augenblick des Unbehagens vorüber war, zählte Romilly die erwachsenen Söhne und Töchter des im mittleren Alter stehenden Herrn von Scathfell auf. Sein Erbe, ein weiterer Gareth, Dom Garris ist nicht verheiratet. Er hat drei Frauen beerdigt. Ich glaube, er steht erst im dreißigsten Jahr, sieht jedoch älter aus, und er hinkt wegen einer zehrenden Krankheit in einem Bein.«
»Und Ihr verabscheut ihn«, stellte Alderic fest. Romilly zeigte ihr koboldhaftes Grinsen. »Wie habt Ihr das nur erraten, Lord Alderic? Aber es stimmt. Ständig grapscht er in den Ecken nach den Mädchen. Er hat sich voriges Jahr nicht einmal entblödet, Mallina zu befummeln, die noch zu jung war, um ihr Haar aufzustecken...«
»Geiler alter Bock!« erklärte Darren. »Hat Vater es erfahren?« »Keiner von uns wollte Streit mit Nachbarn. Luciella hat Mallina und mir nur gesagt, wir sollten uns von ihm fernhalten, wenn wir es tun könnten, ohne unhöflich zu sein. Dann ist da Dom Edric, der blind ist, und seine Frau Ruanna, die die Rechnungsbücher so gut wie ein Mann führt. Und die jungen Zwillinge, Cathal und Cinhil, aber gar so jung sind sie nicht mehr – sie sind in Ruyvens Alter, zweiundzwanzig. Und Cathals Frau, die eine meiner Kindheitsfreundinnen war – Darissa Storn. Cinhil ist nicht verheiratet, und Vater sprach einmal davon, uns miteinander zu verloben. Doch es wurde nichts daraus, was mich sehr freute. Ich möchte nicht in Scathfell leben, das ist wie eine Räuberburg! Wiederum wäre es mir nur recht, mit Darissa zusammen zu sein, und Cinhil ist ein netter Junge.«
»Mir scheint, Ihr seid noch zu jung, um verheiratet zu werden«, meinte Alderic, und Darren lachte. »Die Mädchen in diesen Bergen heiraten früh, und Romilly ist fünfzehn. Und ich zweifele nicht daran, sie kann es kaum abwarten, über ein eigenes Heim zu herrschen und Luciellas Aufsicht zu entkommen. Wie lautet doch das alte Sprichwort? Wo zwei Frauen ein Herdfeuer regieren, kann das Strohdach von den fliegenden Funken in Brand geraten. Trotzdem finde ich, Vater könnte für Romilly etwas Besseres finden als einen jüngeren Sohn, noch dazu einen vierten Sohn. Lieber Herrin in einer Hütte als Dienerin in einem Schloß. Und wenn Dom Garris wieder heiratet – oder der alte Scathfell eine Frau nehmen sollte –, wäre Cinhils Frau die geringste von allen, nicht viel besser als die Aufwartung für die übrigen. Darissa war hübsch und lebhaft, als sie verheiratet wurde, und jetzt sieht sie zehn Jahre älter als Cathal aus und ist durch die Geburten ganz aus der Form geraten.«
»Ich habe es gar nicht eilig, zu heiraten«, betonte Romilly. »Und es gibt Männer genug in diesen Bergen. Manfred Storn ist Erbe von Storn-Höhe, und er ist etwa in Darrens Alter. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß Vater mit dem alten Lord Storn sprechen wird, wenn ich alt genug zum Heiraten bin. Die Leute von Hohenklippen werden auch kommen, und sie haben mehrere unverheiratete Söhne und Töchter. Vielleicht wird Rael in diese Sippe einheiraten, oder ich.« Sie zuckte die Schultern. »Was kommt es schließlich darauf an? Die Männer sind alle gleich.«
Alderic lachte. »Daraus erkenne ich, wie jung Ihr seid, Mistress Romilly! Ich hoffe, Euer Vater gibt Euch nicht in die Ehe, bevor ihr alt genug seid, um zwischen dem einen und dem anderen Mann zu unterscheiden. Sonst wacht Ihr eines Tages auf und entdeckt, daß Ihr den allerletzten Mann auf Erden geheiratet habt, den Ihr Euch als Gatten ausgesucht hättet. Sollen wir ins Haus gehen? Die Sonne steht schon hoch, und Eure Stiefmutter sagte etwas von einem Festtagsfrühstück. Und als wir an der Küche vorbeigingen, habe ich gerochen, daß Gewürzbrot gebacken wird!«
Romilly hoffte jetzt nur, unbeobachtet in ihr Zimmer zu gelangen, wo sie vor dem Festmahl baden und sich umziehen mußte. Aber als sie im Flur um eine Ecke bog, rannte sie beinahe mit einem großen, dicklichen, hellhaarigen Mann zusammen. Er mußte aus dem großen Baderaum mit den heißen Becken kommen, die von vulkanischen Quellen gespeist wurden. Er hatte sich in einen losen Mantel gehüllt, und sein Haar war feucht und unordentlich. Offensichtlich hatte er seine Reitmüdigkeit abgespült. Romilly knickste höflich, wie man es sie gelehrt hatte. Dann fiel ihr ein, daß sie Hosen trug – verflucht! Wäre sie einfach weitergegangen, hätte er sie für einen Stalljungen gehalten, der mit irgendeiner Botschaft ins Haus geschickt worden war. Jetzt verzog sich sein blasses, schwammiges Gesicht zu einem von Grübchen begleiteten Lächeln.
»Mistress Romilly!« Sein Blick wanderte an ihren langen Beinen hinauf und hinunter. »Ein unerwartetes Vergnügen. Was du für Beine hast, Mädchen! Und du bist – gewachsen«, setzte er hinzu, die porzellanblauen Augen starr auf die Verschnürung der alten Jacke gerichtet, die über ihren jungen Brüsten klaffte. »Es wird ein Vergnügen sein, heute abend mit dir zu tanzen, nun da ich mit Entzücken habe sehen können, was so viele Frauen sorgfältig vor ihren Bewunderern verbergen.«
Romilly errötete, spürte die sengende Hitze sich bis zu ihren Ohren ausbreiten, zog den Kopf ein und entfloh. Kläglich dachte sie: Nun weiß ich, was Luciella damit meinte, ich sei zu groß, um in Hosen herumzulaufen. Ich hätte ebensogut nackt sein können, so, wie er mich ansah. Ihr ganzes Leben lang hatte sie die Sachen ihres Bruders getragen, so frei von Verlegenheit oder Scham, als sei sie auch ein Junge. Jetzt, unter den wollüstigen Augen des Mannes, kam es ihr vor, als habe er tatsächlich ihren Körper berührt. Ihre Brüste prickelten, und weiter unten in ihrem Bauch war ein merkwürdiges ziehendes Gefühl.
Mit hämmerndem Herzen suchte sie Zuflucht in ihrem Zimmer, ging schnell zum Waschständer und bespritzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser, um es abzukühlen.
»Luciella hatte recht. Oh, warum hat sie mir das nicht gesagt?« jammerte Romilly. Dann wurde ihr klar, daß es keine Möglichkeit gab, darüber zu sprechen. Denn wenn man es ihr gesagt hätte, bevor sie diese Erfahrung machte, hätte sie nur darüber gelacht. Ihre Hände zitterten immer noch, als sie die Schnüre der Jungenjacke löste und die Hose fallen ließ. Sie sah in den Spiegel, und zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ihren Körper als den einer Frau. Sie war immer noch schlank, ihre Brüste kaum gerundet, die Hüften kaum stärker geschwungen als die eines Knaben, und die langen Beine waren wirklich knabenhaft. Aber, dachte sie, wenn ich jemals wieder Jungenkleidung tragen sollte, werde ich dafür sorgen, daß sie locker genug sitzt, um mich nicht zu verraten.
Durch die gläserne Verbindungstür zu Mallinas Zimmer sah sie ihre Schwester ihre Mittsommerkörbe erkunden. Wie Romilly hatte sie drei bekommen. Das lenkte Romillys Gedanken wieder auf den reichhaltigen Korb ihres Vaters, der mehr Obst und Süßigkeiten enthielt als Blumen. Der MacAran sah den Appetit kleiner Mädchen, die ebenso gefräßig sind wie kleine Jungen, durchaus realistisch. Bei dem kleineren Korb hatte Romilly gemeint, er sei von Darren. Als sie ihn sich jedoch genauer ansah, merkte sie, daß er mit künstlerisch geordneten Garten- und Treibhausblumen gefüllt war. Zwei oder drei exotische Früchte waren dabei, die er in Nevarsin gekauft haben mußte, da sie in der Gegend von Falkenhof nicht wuchsen. Dann sah sie die Karte und las überrascht:
Ich habe weder Schwester noch Mutter, denen ich
Mittsommergeschenke machen könnte. Nehmt diese
mit meiner Huldigung entgegen. Alderic, Student.
Mallina platzte ins Zimmer.
»Romy, bist du noch nicht angezogen? Wir dürfen zum Festtagsfrühstück nicht zu spät kommen! Wirst du dein Feiertagskleid anziehen? Calinda ist bei der Mutter, willst du mir mein Kleid im Rücken zuknöpfen? Was für schöne Blumen, Romy!
Meine sind alle Gartenblumen, aber es ist eine schöne Traube Eisbeeren dabei, süß wie Honig – du weißt doch, in Nevarsin lassen sie sie wie Rotfrüchte an den Bäumen, bis es friert, und dann verlieren sie ihre Säure und werden süß. Romy, was meinst du, wer er ist? Er sieht so romantisch aus – glaubst du, Dom Alderic wird um eine von uns werben? Ich wäre glücklich, wenn ich mit ihm verlobt würde, er ist so schön und ritterlich, ganz wie ein Held aus einem Märchen.«
»Was bist du für eine törichte Plaudertasche, Mally«, sagte Romilly, doch sie lächelte. »Ich glaube, daß er ein aufmerksamer Gast ist, mehr nicht. Bestimmt hat er Mutter einen ebenso schönen Korb geschickt.«
»Domna Luciella wird keine Freude daran haben«, erklärte Mallina. »Sie hält das Mittsommerfest für eine heidnische Angelegenheit, die eines guten Cristofero nicht würdig ist. Sie hat mit Calinda geschimpft, weil sie Rael Festkörbe hat basteln lassen. Vater sagte jedoch, jeder verdiene einen Feiertag, und ein Vorwand sei so gut wie ein anderer, um den Gutsarbeitern einen Tag der Muße und ein paar wohlverdiente Geschenke zu bescheren, und sie solle Rael die Freude am Fest gönnen, solange er noch ein Kind sei. Aus ihm werde schon noch ein guter Cristofero, er sei ein braver Junge und ehre das Buch der Bürden.«
Romilly lächelte. »Das hat Vater jedes Jahr gesagt, seit ich mich erinnern kann. Und ich bin sicher, er mag Gewürzbrot und süßen Safrankuchen und Obst genausogern wie jeder andere. Er zitiert dann aus dem Buch der Bürden, dem Tier solle sein Korn und dem Arbeiter sein Lohn und sein freier Tag nicht mißgönnt werden. Vater mag ein harter Mann sein, aber er ist immer gerecht zu seinen Arbeitern.« Romilly schloß den letzten Knopf und drehte ihre Schwester zu sich herum. »Wie fein du bist, Mally! Aber es ist ein Glück, daß du dieses Kleid nicht an einem Werktag trägst – es erfordert eine Zofe, die es dir zumacht! Darum habe ich mein Feiertagskleid mit Verschnürung haben wollen, damit ich es ohne Hilfe anziehen kann.« Sie schloß die bestickten Manschetten ihrer Bluse und stülpte sich das lange, lose Gewand über den Kopf, das rostrot und mit Schmetterlingen bestickt war. Dann wandte sie Mallina den Rücken, damit diese ihr den Zopf im Nacken mit der Schmetterlingsspange feststecken konnte, die züchtig den Ausschnitt des Kleides verbarg.
Mallina suchte in den Körben nach einer Blume für ihr Haar. »Steht mir diese Rose? Sie ist rosa wie mein Kleid... oh, Romy, sieh doch!« hauchte sie aufgeregt. »Hast du nicht bemerkt, daß er dir Goldblumen, dorilys, in den Korb gesteckt hat?«
»Na und, Dummchen?« Romilly wollte die blaue Kiresethblüte in ihren Knoten stecken. Mallina hielt ihre Hand fest.
»Nein, wirklich, das darfst du nicht, Romilly – kennst du denn die Blumensprache nicht? Wer eine Goldblume verschenkt, meint – nun, die Blüte ist ein Aphrodisiakum, du weißt ganz genau, was das heißt, wenn ein Mann einem Mädchen dorilys gibt...«
Romilly errötete. Wieder spürte sie die wollüstigen Augen auf ihrem Körper. Sie schluckte schwer. Betrachtete auch Alderic sie mit dieser Art von Gier? Dann gewann der gesunde Menschenverstand die Oberhand. Sie antwortete scharf: »Unsinn, er ist hierzulande ein Fremder, das ist alles. Immerhin, wenn so ein Gerede unter törichten Mädchen üblich ist, werde ich die Blume nicht tragen – schade, denn es ist die schönste von allen. Such du mir eine Blume für mein Haar aus.«
Die Schwestern gingen in ihrem Feststaat zum Essen hinunter. Wie der Brauch es vorschrieb, trugen sie die Früchte aus ihren Geschenkkörben bei sich, um sie mit Vater und Brüdern zu teilen. Die Familie hatte sich in dem großen Speisesaal statt in dem sonst benutzten kleinen Zimmer versammelt. Domna Luciella begrüßte ihre Gäste. Rael, Darren und Alderic hatten ihre besten Sachen an, obwohl Alderics beste Sachen düster waren, wie es einem Studenten von Nevarsin zukam, und keine Spur von Familienfarben oder -abzeichen sehen ließen. Romilly hätte gern gewußt, wer er wirklich war. Sie behielt den Gedanken für sich, er könne durchaus einer der ins Exil gegangenen Männer des Königs sein oder sogar der junge Prinz selbst... nein, sie würde nichts sagen, wenn sie auch wünschte, Darren hätte ihr sein Geheimnis anvertraut.
Calina trug ebenfalls ein neues Kleid, dunkel und streng, wie es ihrer Stellung zukam, aber gut und neu, nicht von der Familie als abgetragen oder ausgewachsen abgelegt. Luciella war eine freundliche Frau, dachte Romilly, selbst gegenüber armen Verwandten.
Man hatte Gareth von Scathfell, einem Mann mittleren Alters, als dem ranghöchsten Anwesenden den Platz gegeben, den für gewöhnlich der MacAran an seinem eigenen Tisch einnahm, während er heute weiter unten saß. Die jungen Paare und unverheirateten Männer und Frauen hatten einen Tisch für sich. Romilly sah Darissa an der Seite Cathals und steuerte auf sie zu. Ihre Stiefmutter winkte sie jedoch zu einem leeren Stuhl neben Dom Garris. Romilly errötete, wollte hier jedoch keinen Streit provozieren. Sie nahm Platz, biß sich auf die Lippe und hoffte, in Gegenwart ihrer Eltern werde er nichts Unschickliches zu ihr sagen.
»Jetzt, wo Ihr gekleidet seid, wie es sich für Eure Schönheit ziemt, seid Ihr sogar noch schöner, damisela«, erklärte er, und das war alles. Die Worte waren nichts als höflich. Trotzdem betrachtete Romilly sein blasses breites Gesicht mit Mißfallen und gab keine Antwort. Aber schließlich hatte er ihr nichts getan. Er hatte liebenswürdig gesprochen, und da war nichts, worüber sie sich hätte beschweren können.
Es gab Delikatessen aller Art, denn dies war Frühstück und Mittagessen in einem und zog sich in die Länge. Noch bevor die Tische abgeräumt wurden, kamen Musiker und begannen zu spielen. Die Vorhänge waren ganz zurückgezogen und die Türen geöffnet, um die Mittsommersonne einzulassen. Aus der unteren Halle hatte man die Möbel weggeräumt und so Platz zum Tanzen geschaffen. Wie der Brauch es verlangte, führte Darren seine Schwester zum ersten Tanz. Unterwegs hörte Romilly, daß an der Hohen Tafel darüber gesprochen wurde, es seien Männer ausgeschickt worden, den vertriebenen Carolin zu suchen.
»Mir ist das gleichgültig«, sagte der MacAran. »Es kümmert mich nicht, wer auf dem Thron sitzt. Andererseits will ich nicht, daß meine Leute als Häscher gedungen werden. Früher einmal war diese Gegend ein von MacArans beherrschtes Königreich. Aber damals hatten wir alle Hände voll damit zu tun, seinen Besitz mit Waffengewalt zu verteidigen, und ich will nicht, daß aus meinem Land ein bewaffnetes Lager gemacht wird. Die Hasturs sollen von mir aus regieren, wie sie wollen, nur verfluche ich ihre Bruderkriege!«
»Ich hörte, Carolin und sein älterer Sohn hätten den Kadarin überquert«, berichtete Lord Scathfell. »Zweifellos wollen sie Zuflucht bei meinen Vettern von Aldaran suchen – es herrscht von altersher Haß zwischen der Hastur-Sippe und den Aldarans.«
Romillys Vater verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Keiner ist so wild darauf, Wölfe zu jagen, wie der Hund mit Wolfsblut. Sind nicht die Aldarans vor langer Zeit dem gleichen Hasturblut entsprossen?«
»So sagt man.« Lord Scathfell nickte grimmig. »Ich glaube nicht an all diese Geschichten über die Kinder der Götter... allerdings gibt es, wie die Götter wissen, Laran in der Aldaran-Linie, unter meinen eigenen Söhnen und Töchtern ebenso wie unter den Euren. Habt Ihr nicht einen Sohn im Turm, Don Mikhail?«
Die Stirn des MacAran bewölkte sich. »Nicht aufgrund meines Befehls oder Wunsches, auch nicht mit meiner Erlaubnis«, zischte er. »Ich nenne ihn nicht Sohn, der unter den Hali’imyn lebt!« Auf seinen Lippen wurde das harmlose Wort zu einer Obszönität. Mit Mühe beherrschte er sich und setzte hinzu: »Doch das ist kein Thema für einen Festtisch. Möchtet Ihr gern tanzen, mein Lord?«
»Das werde ich dem Jungvolk überlassen«, antwortete Lord Scathfell. »Führt Ihr nur Eure Lady zum Tanz, wenn Ihr wollt.« Pflichtbewußt wandte der MacAran sich Lady Luciella zu und führte sie auf die Tanzfläche.
Nach dem ersten zeremoniellen Tanz versammelten sich die jüngeren Leute zu einem Kreistanz, alle jungen Männer im äußeren Kreis, alle Mädchen und Frauen im inneren. Nach einer Weile wurde der Tanz ziemlich wild. Romilly sah, daß Darissa sich aus der Reihe löste und die Hand gegen die Seite drückte. Sie holte ihrer Freundin etwas zu trinken und setzte sich zum Plaudern zu ihr. Darissa trug das lose, ungegürtete Gewand einer schwangeren Frau, und jetzt öffnete sie noch die Verschlüsse ihrer Bluse und fächelte sich Luft zu. Sie war rot im Gesicht und keuchte.
»Bis das hier geboren ist, werde ich nicht mehr tanzen.« Sie legte ihre langen Finger auf ihren angeschwollenen Leib. »Ich glaube, er vollführt seinen eigenen Tanz und wird von jetzt bis zur Erntezeit tanzen, vor allem dann, wenn ich zu schlafen versuche!« Cathal kam und beugte sich besorgt über seine Frau, aber sie winkte ihm, zum Tanz zurückzukehren. »Geh und tanz mit den Männern, mein Gatte, ich werde ein Weilchen hier sitzenbleiben und mit meiner alten Spielgefährtin reden. Was hast du inzwischen mit dir angefangen, Romilly? Bist du noch nicht verlobt? Du bist nun fünfzehn, nicht wahr?«
Romilly nickte. Sie war entsetzt über das Aussehen ihrer Freundin, die noch vor drei Jahren so hübsch und anmutig gewesen war. Jetzt ging sie schwerfällig. Ihre Brüste unter den Spitzen ihres Gewandes waren dick, ihre Taille war unförmig. In drei Jahren hatte Darissa zwei Kinder geboren, und sie trug bereits das dritte! Als habe sie Romillys Gedanken gelesen, sagte Darissa mit einem bitteren Verziehen der Lippen. »Oh, ich weiß wohl, ich bin nicht mehr hübsch, wie ich als Mädchen war. Genieße dein letztes Jahr des Tanzens, Romilly. Wahrscheinlich wirst auch du nächstes Jahr an der Wand sitzen, schwanger mit deinem ersten Kind. Der Vater meines Mannes sprach davon, dich mit Cinhil zu verheiraten – oder vielleicht Mallina. Er hält sie für gefügiger und damenhafter.«
Romilly fragte entsetzt: »Mußt du denn so bald wieder ein Kind haben? Ich würde meinen, zwei in drei Jahren sei genug...«
Darissa zuckte lächelnd die Schultern. »So geht es nun einmal. Das hier werde ich selbst nähren und keiner Amme überlassen, und vielleicht werde ich dann dieses Jahr kein Kind mehr empfangen. Ich liebe meine Kleinen, aber ich finde, drei reichen für eine Weile.«
»Mir würden sie fürs ganze Leben reichen!« stellte Romilly temperamentvoll fest, und Darissa lachte. »So sagen wir alle, wenn wir junge Mädchen sind. Lord Scathfell ist zufrieden mit mir, weil ich ihm bereits zwei Söhne geschenkt habe. Ich hoffe, diesmal wird es eine Tochter; ich hätte so gern ein kleines Mädchen. Später werde ich dir meine Babys zeigen. Es sind hübsche Kinder. Klein Gareth hat rotes Haar, vielleicht hat er Laran, und es wird ein Zauberer für die Türme aus ihm.«
»Würdest du es ihm wünschen?« fragte Romilly leise, und Darissa lachte. »O ja, der Turm von Tramontana nähme ihn sofort. Seit der Zeit vor den Hundert Königreichen gehören die Aldarans zur Hastur-Sippe, und es bestehen alte Verbindungen zu Tramontana.« Sie senkte die Stimme. »Hast du gar nichts von Ruyven gehört? Hat dein Vater ihn wirklich enterbt?«
Romilly nickte, und Darissas Augen wurden groß. Sie und Ruyven hatten als Kinder miteinander gespielt.
»Ich weiß noch, wie er mir in einem Jahr zu Mittsommer einen Korb schickte«, erzählte sie, »und ich trug den Zweig Goldblumen, der darin war. Doch am Ende des Festes verlobte Vater mich mit Cathal. Wir sind glücklich miteinander geworden, und jetzt haben wir unsere Kinder – aber ich halte viel von Ruyven, und ich wäre mit Freuden deine Schwester geworden, Romilly. Meinst du, der MacAran wird dich Cinhil geben, wenn er anfragt? Dann würden wir doch noch Schwestern.«
»Es ist nicht so, daß ich Cinhil nicht mag«, sagte Romilly, aber innerlich grauste es ihr. Würde sie in drei Jahren wie Darissa sein, fett und kurzatmig, mit fleckiger Haut und vom Gebären verunstalteter Figur? »Das einzig Gute an einer solchen Heirat wäre, daß sie mich in deine unmittelbare Nähe brächte«, erklärte sie der Wahrheit gemäß. »Aber ich habe es nicht eilig mit dem Heiraten, und Luciella sagt, fünfzehn sei zu jung, um einen eigenen Hausstand zu gründen. Sie würde uns am liebsten erst verloben, wenn wir siebzehn oder älter sind. Eine gute Hündin läßt man nicht in ihrer ersten Hitze decken.«
»O Romilly!« Darissa errötete, und sie kicherten zusammen wie Kinder.
»Dann genieße das Tanzen, solange du es noch kannst, denn diese Zeit wird für dich bald vorüber sein«, sagte Darissa. »Sieh mal, da ist Darrens Freund aus dem Kloster – er sieht in seinem dunklen Anzug wie ein Mönch aus. Ist er einer von den Brüdern?«
Romilly schüttelte den Kopf. »Ich weiß von ihm nichts weiter, als daß er ein Freund Darrens ist und dem Castamir-Clan angehört.« Sie behielt ihren Verdacht für sich. Darissa bemerkte: »Castamir ist ein Hastur-Clan! Daß er so ganz offen hergekommen ist – Castamir steht auf der Seite des alten Königs, wie ich gehört habe. Hält dein Vater zu Carolin, oder unterstützt er den neuen König?«
»Ich glaube nicht, daß Vater irgendwelche Unterschiede zwischen dem einen oder dem anderen König macht. Es interessiert ihn nicht.« Romilly konnte nicht weitersprechen, denn Alderic trat zu ihnen.
»Mistress Romilly? Jetzt kommt ein Kontertanz. Wollt Ihr meine Partnerin sein?«
»Macht es dir etwas aus, wenn ich dich allein lasse, Darissa?« »Nein – da ist Cathal; ich werde ihn bitten, mir ein Glas Wein zu holen«, antwortete Darissa, und Romilly ließ sich von Alderic in die sich bildende Formation ziehen. Es waren sechs Paare – allerdings bestand eines aus Real und der elfjährigen Jessamy Storn, die ihren Partner um einen halben Kopf überragte. Sie stellten sich einander gegenüber auf. Darren und Jeralda Storn, die die ersten in der Reihe waren, umkreisten jedes Paar in den komplizierten Figuren des Tanzes. Dann kam Alderic an die Reihe, und Romilly faßte vertrauensvoll seine Hände. Sie waren breit, hart und warm, gar nicht die weichen Hände eines Gelehrten, sondern die schwieligen, starken eines Schwertkämpfers. In der Tat, ein unwahrscheinlicher Mönch, dachte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit den Schwierigkeiten des Tanzes zu. Als die Figur zu Ende war, stand sie Darren gegenüber, beim nächsten Mal ihrem Bruder Rael. Cinhil drückte ihr in der kurzen Zeit ihrer Partnerschaft die Hand und lächelte. Romilly schlug die Augen nieder und gab ihm das Lächeln nicht zurück. Also dachte Lord Scathfell daran, sie dieses Jahr mit Cinhil zu verheiraten, damit sie ein Kind nach dem anderen bekam und dick und unförmig wie Darissa wurde? Er sollte sich irren! Eines Tages würde sie wohl heiraten müssen, aber nicht diesen grünen Jungen, wenn sie es verhindern konnte! Übrigens verging ihr Vater durchaus nicht in Ehrfurcht vor den Aldaran-Lords, und außerdem war es nur Aldaran von Scathfell, nicht Aldaran von Burg Aldaran. Scathfell war der reichste und einflußreichste ihrer Nachbarn, doch der MacAran war, wie man ihr gesagt hatte, unabhängiger Grundbesitzer schon vor dem Bau der Stadt Caer Donn gewesen!
Nun brachte der Tanz sie mit Dom Garris zusammen. Auch er lächelte und drückte ihre Hand. Sie errötete und hielt ihre Hände kalt und steif gegen die seinen, sie nur eben berührend, wie der Tanz es erforderte. Es war eine Erleichterung für sie, als die nächste Runde sie wieder an ihren ursprünglichen Platz und zu Alderic brachte. Die Musik ging in einen Paartanz über. Romilly sah, daß Dom Garris entschlossen auf sie zukam. Sie faßte Alderics Ärmel und flüsterte: »Wollt Ihr mich zum Tanz auffordern, Dom Alderic?«
»Aber sicher«, antwortete er lächelnd und führte sie davon. Garris starrte ihnen nach. Eine Weile später erwiderte Romilly Alderics Lächeln und sagte: »Ihr seid durchaus kein Stampftänzer.«
»Nein?« Er lachte. »Ich habe lange nicht mehr getanzt, außer mit den Mönchen.«
»Ihr tanzt im Kloster?«
»Zuweilen. Um uns aufzuwärmen. Und bei manchen Gottesdiensten findet ein sakraler Tanz statt. Einige der Studenten, die keine Brüder werden wollen, gehen zum Fest auch ins Dorf und tanzen dort, aber ich –« Romilly kam es vor, als zögere er kurz, »– ich hatte wenig Muße dazu.«
»Spannt man Euch bei Euren Studien völlig ein? Domna Luciella meint, Darren sehe dünn und blaß aus – bekommt Ihr genug zu essen und warme Kleidung?«
Alderic nickte. »Ich bin an ein hartes Leben gewöhnt«, sagte er und verstummte, während Romilly die Bewegung und die Musik genoß. Als der Tanz zu Ende war, bemerkte er: »Ihr tragt meine Blumen – ich hoffe, sie haben Euch gefallen?«
»Sehr«, antwortete sie, und dann schwieg sie verschüchtert. Hatte er die dorilys im Sinne des Angebots, das Mallina vermutete, in ihren Korb gesteckt, oder war es nur die Unkenntnis eines Fremden von den hiesigen Bräuchen? Danach hätte sie ihn gern gefragt, nur schämte sie sich zu sehr. Und wieder war es, als habe er ihre Gedanken gelesen. Er sagte plötzlich: »Darren erzählte es mir. Ich hatte nichts Unschickliches im Sinn, glaubt mir, Mistress Romilly. In meiner Heimat – ich bin Tiefländer – ist dorilys, die Sternblume, das Geschenk des Lords Hastur an die Gesegnete Cassilda. Ich wollte Euch zu Ehren des Tages ein höfliches Kompliment machen, mehr nicht.«
Romilly lächelte zu ihm hoch. »Ich glaube nicht, daß Euch irgend jemand unschickliche Andeutungen zutrauen würde, Dom Alderic.«
»Ich bin Eures Bruders Freund; Ihr braucht mich nicht mit Dom anzureden. Schließlich waren wir zusammen auf der Beize.«
»Ebenso wenig braucht Ihr mich mit damisela anzureden«, entgegnete Romilly. »Meine Brüder und meine Schwester nennen mich Romy.«
»Gut; benehmen wir uns wie Verwandte, so wie ich zu Darren stehe. Möchtest du ein Glas Wein, Romy?« Sie waren in die Nähe des Tisches mit den Erfrischungen gekommen. Romilly schüttelte den Kopf und erklärte ehrlich: »Ich darf in Gesellschaft keinen Wein trinken.«
»Dann Shallan?« Alderic goß ihr von dem süßen Fruchtgetränk ein. Romilly trank durstig. Sie merkte, daß sich ihr Haar nach dem wilden Tanz zu lösen drohte. Doch sie hatte keine Lust, sich zu den kichernden Mädchen in die Ecke zurückzuziehen und es neu aufzustecken.
»Du gehst gern auf die Beize?« erkundigte sie sich.
»Ja; die Frauen unserer Familie richten Kundschaftervögel ab. Hast du je einen aufgelassen, Romy?«
Sie schüttelte den Kopf. Diese großen, wilden Vögel hatte sie zwar schon gesehen, aber sie sagte: »Ich wußte nicht, daß es möglich ist, sie zu zähmen! Sie können ja ein Rabbithorn schlagen! Ich glaube nicht, daß mir die Jagd mit einem Kundschaftervogel Vergnügen bereiten würde.«
»Sie werden nicht des Vergnügens wegen verwendet«, erwiderte Alderic, »sondern für den Krieg oder die Feuerwache ausgebildet. Das geschieht mit Laran. Ein Kundschaftervogel kann im Flug Eindringlinge in ein friedliches Land ausspionieren, oder Räuber, oder einen Waldbrand. Aber die Arbeit mit ihnen ist kein Zeitvertreib. Es stimmt, daß die Vögel wild und nicht leicht zu behandeln sind. Trotzdem glaube ich, du brächtest es fertig, Romilly, wenn dein Laran geschult wäre.«
»Das ist es nicht und wird es wahrscheinlich nie sein, und den Grund wird Darren dir genannt haben. Kundschaftervögel!« Ein kleiner Schauder lief ihr, halb angenehm, bei dem Gedanken an den Umgang mit den großen, wilden Raubvögeln das Rückgrat hinunter. »Es kann nicht viel schwerer sein, ein Banshee zu trainieren!«
Alderic lachte vor sich hin. »Auch davon habe ich hinten in den Bergen schon gehört. Und Banshee-Vögel sind sehr dumm. Der Umgang mit ihnen erfordert wenig Geschick. Man braucht sie nur vom Ei an aufzuziehen und ihnen warmes Futter zu geben. Dann tun sie, was man will. Sie folgen Wildfährten nach der im Boden verbliebenen Wärme, und sie sind großartige Wächter, denn bei jedem fremden Geruch kreischen sie fürchterlich.«
Jetzt erschauerte Romilly wirklich. Diese großen, blinden, flugunfähigen Fleischfresser als Wachposten! Sie fragte: »Wer braucht ein Banshee dazu, wenn ein guter Wachhund ebenso nützlich und viel angenehmer als Hausgenosse ist?«
»Das will ich nicht bestreiten«, antwortete Alderic. »Ich persönlich würde lieber den Hohen Kimbi mit bloßen Füßen besteigen, als versuchen, ein Banshee zu trainieren. Möglich ist es jedoch. Ich kann nicht einmal mit Kundschaftervögeln umgehen; ich besitze die Gabe nicht. Aber einige der Frauen meiner Familie tun es, und ich habe im Turm erlebt, daß man sie für die Feuerwache einsetzt. Ihre Augen sehen weiter als die eines Menschen.« Von neuem erklang leise Musik, und er fragte: »Möchtest du diesen Tanz tanzen?«
Romilly schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht, danke – es ist warm, wenn die Sonne so hereinscheint.«
Alderic verbeugte sich vor jemandem hinter ihr. Romilly drehte sich um und entdeckte ihre Stiefmutter. Luciella mahnte: »Romilly, du hast noch nicht mit Dom Garris getanzt!«
Verächtlich erklärte sie: »Es sieht ihm ähnlich, daß er sich bei meiner Stiefmutter beschwert, statt wie ein Mann zu kommen und mich selbst zu fragen.«
»Romilly! Er ist Erbe von Scathfell!«
»Mir ist es gleichgültig, ob er Erbe der Treppe im Wolkenland oder von Zandrus neunter Hölle ist. Wenn er tanzen möchte –«, begann sie. Da tauchte Dom Garris hinter Luciella auf und fragte mit seinem plumpen Lächeln: »Wollt Ihr mir die Ehre eines Tanzes erweisen, Mistress Romilly?«
Es gab keine Möglichkeit, ihn abzuweisen, ohne geradeaus unhöflich zu werden. Er war Gast ihrer Eltern, obwohl er ihrer Meinung nach mit den Frauen seines Alters hätte tanzen können und nicht nach den jungen Mädchen zu gaffen brauchte. Romilly ließ es zu, daß er ihr die Hand aufs Handgelenk legte und sie auf die Tanzfläche führte. Schließlich konnte er unter den Augen ihres Vaters und ihrer Brüder und sämtlicher Nachbarn nicht gut etwas Unschickliches sagen oder tun. Seine Hand fühlte sich unangenehm feucht an, aber Romilly sagte sich, dafür könne er wahrscheinlich nicht.
»Ihr seid ja leicht wie eine Feder auf Euren Füßen, damisela – ganz die junge Lady! Wer hätte das heute morgen gedacht, als ich Euch in Stiefeln und Hosen erblickte! Ich vermute, sämtliche Burschen der Gegend stellen Euch nach, he?«
Romilly schüttelte stumm den Kopf. Sie verabscheute die Art, wie er redete. Mallina allerdings hätte mit Kichern und Erröten darauf reagiert! Als der Tanz zu Ende war, bat er sie um den nächsten. Romilly lehnte höflich ab und behauptete, Seitenstechen zu haben. Dom Garris erbot sich, ihr ein Glas Wein oder Shallan zu holen, worauf sie entgegnete, sie habe nur den Wunsch, sich zu Darissa zu setzen. Ein Weilchen leistete er ihnen Gesellschaft und bestand darauf, Romilly zu fächeln. Glücklicherweise stimmten die Musiker einen neuen Kreistanz an. Das ganze junge Volk strömte zusammen, lachte und warf bei den wilden Sprüngen die Fersen hoch. Schließlich ging Dom Garris verdrießlich weg, und Romilly atmete auf.
»Du hast noch eine Eroberung gemacht«, neckte Darissa sie.
»Das glaube ich nicht. Wenn er mit mir tanzt, ist das, als schnappe er sich ein Scheuermädchen; er kann es sich erlauben, ohne damit eine Verpflichtung einzugehen«, höhnte Romilly. »Die Aldarans von Scathfell stehen zu hoch, um in unsern Clan einzuheiraten, ausgenommen ihre jüngeren Söhne. Vater sprach einmal davon, mich mit Manfred Storn zu verloben, aber er ist noch keine fünfzehn, und es eilt ja nicht. Doch obwohl ich nicht hoch genug zum Heiraten stehe, bin ich zu wohlgeboren für ihn, als daß er mich straflos verführen könnte, und ich kann ihn dazu auch nicht gut genug leiden.« Lächelnd setzte sie hinzu: »Das Schlimmste an einer Verbindung mit Cinhil, sollte er um mich anhalten, wäre es, daß ich dies große fette Faultier Bruder nennen müßte. Andererseits wäre er dann gezwungen, verwandtschaftliche Rücksichten zu nehmen und mir die Achtung entgegenzubringen, die der Gattin seines Bruders zusteht.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, raunte Darissa ihr zu. »Als ich im letzten Jahr mit dem kleinen Rafael schwanger war, kam er zu mir und sagte, da ich bereits ein Kind trüge, brauchte ich keine peinlichen Folgen zu fürchten. Ich verbat mir solche Reden, und da meinte er, wie schön sei es doch in alten Zeiten gewesen, als in den Bergen der Brauch herrschte, daß Brüder alle ihre Frauen gemeinsam hatten... Und bestimmt werde Cathal ihm eine brüderliche Gefälligkeit erweisen, sagte er, und nichts dagegen haben, wenn ich hin und wieder sein Bett teilte, da seine Frau schon hochschwanger sei. Ich trat ihm gegen das Schienbein und riet ihm, sich ein Dienstmädchen für sein Bett zu suchen, falls er eine finden könne, die seine Häßlichkeit übersehe. Damit verwundete ich seinen Stolz, und er ist mir seitdem nicht wieder nahegekommen. Um die Wahrheit zu sagen, er sieht gar nicht einmal übel aus, nur winselt er, und seine Hände sind immer schlaff und feucht. Und –«, sie zeigte die Grübchen, die sich als einziges an ihr seit der Zeit, als sie und Romilly zusammen Mädchen waren, nicht verändert hatten, »– ich liebe Cathal zu sehr, um mich in ein anderes Bett zu legen.«
Romilly errötete und wandte den Blick ab. Unter Tieren aufgewachsen, wußte sie ganz genau, wovon Darissa sprach. Aber Luciella war eine strenge Cristofero und hielt es für unpassend, über solche Dinge vor jungen Mädchen zu reden. Darissa mißverstand das Erröten ihrer Freundin und meinte, sich verteidigen zu müssen. »Ich bekomme Kinder ohne große Probleme – ich bin nicht wie Garris’ Frau, die keine lebenden Kinder hinterlassen hat und kurz vor Mittwinter im Kindbett gestorben ist. Dom Garris hat schon drei Frauen verbraucht, die versuchten, ihm einen Erben zu schenken, und ich weiß, daß alle seine Kinder bei der Geburt sterben. Ganz bestimmt möchte ich kein Kind von ihm bekommen. Dann würde ich zweifellos seinen Ehefrauen in den Tod nachfolgen.
Meine ältere Schwester war als Mädchen eine Zeitlang im Tramontana-Turm. Dort hat sie von der Zeit des alten Zuchtprogramms gehört, als die Aldarans ein paar seltsame Laran-Arten besaßen. In ihrer Linie seien sie an tödliche Gene gebunden gewesen – weißt du, was das ist? Ja, natürlich, dein Vater züchtet ja Pferde, nicht wahr? Cathal hat diese Gene nicht, aber ich glaube, Dom Garris wird nie einen Erben zeugen, so daß eines Tages meine Söhne von Cathal Scathfell erben«, plapperte Darissa.
»Und du wirst die ganze Brut als ihre Mutter regieren«, lachte Romilly. Dann kam Rael zu ihnen und holte seine Schwester zum Kontertanz. Es seien nicht genug Frauen da, um eine zweite Formation zu bilden, sagte er, und Romilly ließ den Gedankengang fallen.
Den ganzen Tag über wurde weiter getanzt und geschmaust. Kurz vor Mitternacht zogen sich der MacAran, Lord Scathfell und die anderen älteren Herren mit ihren Damen zurück und überließen das Jungvolk seinem Vergnügen. Rael wurde von seiner Erzieherin hinausgeführt, ebenso die protestierende Mallina, für die der einzige Trost war, daß auch ihre Freundinnen Jessamy und Jeralda zu Bett geschickt wurden. Romilly war müde und beinahe bereit, mit den Kindern zu gehen – sie war schließlich seit vor Sonnenaufgang wach. Aber Alderic und ihr Bruder Darren tanzten noch, und sie wollte nicht zugeben, daß ihr Bruder länger wachbleiben konnte als sie. Fast verlor sie den Mut, als sie Darissa die Halle verlassen sah – schwanger, wie sie war, sagte sie, brauche sie ihren Schlaf.
Ich werde mich dicht bei Darren halten. In meines Bruders Gegenwart kann mir Dom Garris nicht unbehaglich nahe kommen... und dann fragte sie sich, welchen Anlaß sie habe, sich zu sorgen. Schließlich hatte er ihr kein einziges unhöfliches Wort gesagt, und es war albern, wenn sie sich über einen bloßen Blick beschwerte. Trotzdem, die Erinnerung an seine lüsternen Augen machte sie zappelig. Und jetzt, wo sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, daß sie den ganzen Tag, den ganzen Abend am Rand ihres Bewußtseins seine Augen auf sich gespürt hatte.
Ist das Laran?
Ich würde am liebsten überhaupt nicht tanzen, ich möchte hier sitzenbleiben und mit meinem Bruder und seinen Freunden über Falken und Pferde sprechen...
Aber Cinhil holte sie zum Tanz, und danach wäre es unhöflich gewesen, Dom Garris abzuweisen. Das Tanzen wurde etwas wilder, die Musik etwas schneller, jetzt, wo die älteren und gesetzteren Leute die Halle verlassen hatten. Er wirbelte sie umher, bis ihr schwindelig wurde. Seine Hände lagen nicht mehr brav auf ihrem Ärmel, und er drückte sie etwas enger an sich, als ihr lieb war. Als sie verlegen versuchte, sich ihm zu entwinden, zog er sie noch näher an sich heran.
»Nein, nein, du machst mir nicht weis, daß du so schüchtern bist«, lachte er. Sein erhitztes Gesicht und seine etwas undeutliche Aussprache verrieten Romilly, daß er zuviel von dem starken Wein getrunken hatte. »Wenn du herumläufst und diese schönen langen Beine in Hosen und deine Brüste in einer drei Nummern zu kleinen Jacke herzeigst, kannst du mir jetzt nicht die Lady Sittsamkeit vorspielen!« Er riß sie an sich und preßte die Lippen auf ihre Wange. Romilly wehrte ihn entrüstet ab.
»Laßt das!« Und dann sagte sie böse: »Ich mag den Gestank nach zuviel Wein in Eurem Atem nicht. Ihr seid betrunken, Dom Garris. Laßt mich los.«
»Nun, du hättest eben mehr trinken müssen«, gab er ungerührt zurück und führte sie beim Tanzen in eine der langen Galerien, die von der Halle abgingen. »Komm, gib mir einen Kuß, Romy!«
»Ich bin nicht Romy für Euch!« Sie drehte den Kopf von ihm weg. »Und wenn Ihr nicht herumspioniert hättet, wo Ihr kein Recht hattet zu sein, hättet Ihr mich nicht in den Sachen meines Bruders gesehen, die ich nur vor den Augen meiner Brüder trage. Wenn Ihr meint, ich hätte mich Euch präsentieren wollen, irrt Ihr Euch gewaltig.«
»Du präsentierst dich also nur diesem hochmütigen Bengel von den Hali’imyn, der dich auf die Beize begleitet hat?« spottete er. Romilly riß ihm den niedergeglittenen Zopf aus den Händen. »Ich möchte zurück in die Halle. Ich bin nicht aus eigenem Willen mit Euch hergekommen, ich wollte nur keine Szene auf dem Tanzboden machen. Bringt mich in die Halle zurück, oder ich rufe meinen Bruder! Und dann wird mein Vater mit der Pferdepeitsche kommen!«
Lachend hielt er sie fest. »Ah, was tut wohl dein Bruder in einer Nacht wie dieser? Er würde es dir nicht danken, riefest du ihn von der Beschäftigung weg, der sich jeder junge Mann in der Mittsommernacht widmet. Soll ich allein verschmäht werden? Ein solches Kind bist du nicht mehr. Komm, nun gib mir einen Kuß.«
»Nein!« Romilly wich seinen aufdringlichen Händen aus. Sie weinte jetzt, und er ließ sie frei.
»Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich habe dich nur auf die Probe gestellt. Jetzt weiß ich, daß du ein braves Mädchen bist, und alle Götter mögen verhüten, daß ich mich an dir vergreife.« Mit einem Mal respektvoll, beugte er sich nieder und hauchte einen Kuß auf ihr Handgelenk. Romilly schluckte, blinzelte die Tränen weg und floh aus der Galerie, zurück durch die Halle und die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer riß sie sich ihr Feiertagskleid herunter und versteckte sich schluchzend unter ihren warmen Decken.
Wie sie ihn haßte!