Читать книгу Die zerbrochene Kette - Marion Zimmer Bradley - Страница 6
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ОглавлениеDie Nacht senkte sich zögernd über die Trockenstädte, als widerstrebe es der großen roten Sonne zu dieser Jahreszeit, unterzugehen. Liriel und Kyrrdis, blass im verweilenden Tageslicht, standen niedrig über den Mauern von Shainsa.
Innerhalb der Tore, am Rand des großen, windgefegten Marktplatzes, schlug eine kleine Gruppe von Reisenden ihr Lager auf, nahm den Reittieren die Sättel und den Packtieren die Lasten ab.
Es waren nicht mehr als sieben oder acht Personen, und alle trugen sie die Kapuzenmäntel, die schweren Jacken und Reithosen des Berglandes, der weit entfernten Sieben Domänen. Zu dieser Stunde, wenn die Sonne immer noch einige Kraft hatte, war es heiß im Wüstengebiet von Shainsa, aber die Reisenden zogen ihre Kapuzenmäntel nicht aus. Jeder von ihnen war mit Messer und Dolch bewaffnet, doch nicht einer trug ein Schwert.
Das genügte, eine Reihe müßiger Trockenstädter, die den Fremden beim Lageraufbau zusahen, neugierig auf sie zu machen. Da warf einer, schwitzend unter dem Gewicht der Satteltaschen, die Kapuze zurück und enthüllte einen wohlgeformten kleinen Kopf mit kurz geschnittenem dunklem Haar, wie es kein Mann – und keine Frau – der Domänen oder der Trockenstädte trug. Weitere Gaffer strömten zusammen. Für gewöhnlich passierte so wenig in den Straßen der Trockenstädte, dass die Zuschauer sich benahmen, als sei die Ankunft der Fremden ein für sie veranstaltetes kostenloses Schauspiel, und alle hielten sich für berechtigt, ihre Bemerkungen über die Darbietung zu machen.
»He, komm her, sieh dir das an! Freie Amazonen sind das, aus den Domänen!«
»Schamlose Dirnen, das sind sie, so wie sie herumlaufen und keinem Mann gehören! Ich würde sie aus Shainsa hinausjagen, bevor sie unsere anständigen Frauen und Töchter verderben!«
»Was, Hayat, du kannst deine eigenen Frauen nicht im Zaum halten? Also, meine würden um alles Gold der Domänen nicht weglaufen … Wenn ich sie losschnitte, kämen sie weinend zurück. Sie wissen, wo es ihnen gut geht …«
Die Amazonen hörten diese Reden, aber sie waren gewarnt worden und darauf vorbereitet. So verrichteten sie ruhig ihre Arbeiten, als sähen und hörten sie die Zuschauer nicht. Das machte die Männer der Trockenstadt kühner. Sie rückten näher heran und warfen mit schmutzigen Witzen um sich, von denen jetzt einige direkt an die Frauen gerichtet wurden.
»Nicht wahr, ihr habt alles, Mädchen – Schwerter, Messer, Pferde, alles, bis auf das, worauf es ankommt!«
Eine der Frauen errötete, drehte sich um und öffnete den Mund, als wolle sie antworten. Die Anführerin der Gruppe, eine hoch gewachsene, schlanke Frau mit flinken Bewegungen, sagte mit leiser Stimme in dringendem Tonfall etwas zu ihr. Die Frau senkte den Blick und fuhr fort, Heringe in den groben Sand zu treiben.
Einer der Trockenstädter, der die kleine Szene beobachtet hatte, schob sich an die Anführerin heran und murmelte herausfordernd: »Du hast die Mädchen alle fest im Griff, wie? Warum lässt du sie dann nicht allein und kommst mit mir? Ich könnte dir Sachen beibringen, die du dir nie hast träumen lassen …«
Die so Angesprochene drehte sich um, schob die Kapuze zurück und enthüllte unter ergrauendem, kurz geschnittenem Haar das hagere, sympathische Gesicht einer Frau mittleren Alters. Mit heller, deutlich zu verstehender Stimme erwiderte sie: »Alles, was du mir möglicherweise beibringen könntest, habe ich gelernt, lange bevor du dressiert worden bist, Tier. Und was Träume betrifft, so habe ich Albträume wie jedermann, aber den Göttern sei Dank, bisher bin ich immer noch daraus erwacht.«
Die Umstehenden grölten. »Das hat gesessen, Merach!« Jetzt, da sie sich gegenseitig mit ihren humoristischen Einfällen bedachten, statt die Frauen zu belästigen, widmete sich die kleine Schar Freier Amazonen eifrig ihrer Arbeit: Sie schlugen eine Bude auf, die offensichtlich dem Verkauf von Waren dienen sollte, zwei Schlafzelte und einen Unterstand, dazu bestimmt, ihre in den Bergen aufgewachsenen Pferde vor der heißen, ungewohnten Sonne der Trockenstädte zu schützen.
Einer der Zuschauer trat vor. Die Frauen machten sich auf neue Beleidigungen gefasst, aber er fragte nur ganz höflich: »Darf man sich erkundigen, welche Geschäfte ihr hier machen wollt, vahi domnis?« Er sprach mit starkem Akzent, und die angesprochene Frau blickte verständnislos drein. Doch die Anführerin antwortete für sie: »Wir haben Lederwaren aus den Domänen mitgebracht, Sättel, Geschirre und Kleidung. Morgen früh bei Tagesanbruch öffnen wir unsern Stand.«
Ein Mann aus der Menge rief: »Es gibt nur eins, was ich von Frauen kaufen würde!«
»Nimm es dir, zum Donnerwetter! Lass sie dafür bezahlen!«
»He, Lady, wollt Ihr die Hosen verkaufen, die Ihr anhabt, damit Ihr Euch wie eine Frau kleiden könnt?«
Die Freie Amazone ignorierte die höhnischen Rufe. Der Mann, der sich erkundigt hatte, fragte: »Können wir euch heute Abend zu irgendeiner Unterhaltung in der Stadt führen? Oder …« Er zögerte, sah sie forschend an und setzte hinzu: « … können wir selbst euch unterhalten?«
Sie erwiderte mit schwachem Lächeln: »Nein, vielen Dank«, und wandte sich ab. Eine der jüngeren Frauen bemerkte mit leiser, entrüsteter Stimme: »Ich hatte keine Ahnung, dass es so werden würde! Und du hast ihm gedankt, Kindra! Ich hätte ihm seine dreckigen Zähne in den Hals gerammt!«
Kindra lächelte und klopfte der anderen beschwichtigend den Arm. »Harte Worte brechen keine Knochen, Devra. Er machte ein Angebot mit so viel Höflichkeit, wie ihm zu Gebote steht, und ich antwortete ihm ebenso.«
»Kindra, werden wir wirklich mit diesen gre’zuin Handel treiben?«
Ein leichtes Stirnrunzeln Kindras rügte die Obszönität. »Natürlich! Wir müssen irgendeinen Grund haben, uns hier aufzuhalten, und Jalak kommt vielleicht noch tagelang nicht zurück. Wenn wir keinen offensichtlichen Geschäften nachgehen, fordern wir den Verdacht geradezu heraus.«
Sie ging weiter zu einer Frau, die innerhalb des Unterstands Satteltaschen aufstapelte, und fragte mit gedämpfter Stimme: »Noch kein Zeichen von Nira?«
»Bisher nicht.« Die Frau warf nervöse Blicke umher, als furchte sie, belauscht zu werden. Sie sprach reines casta,die Sprache der Aristokraten aus Thendara und den Ebenen von Valeron. »Sicher stößt sie nach Dunkelwerden zu uns. Sie wird wenig Lust haben, zwischen diesem Volk Spießruten zu laufen, und wenn jemand, der als Mann gekleidet ist, unser Lager betritt, ohne auch nur angerufen zu werden …«
»Genau.« Kindra sah zu den Neugierigen hinüber. »Und sie kennt die Trockenstädte. Trotzdem bin ich ein bisschen ängstlich. Es geht mir gegen den Strich, eine meiner Frauen in Männerkleidung auszuschicken, aber hier war das ihre einzige Chance.«
»In Männerkleidung …« Die Frau wiederholte die Worte, als meine sie, Kindra missverstanden zu haben. »Tragt ihr denn nicht alle Männerkleidung, Kindra?«
»Hier verratet Ihr nur Eure Unkenntnis unserer Sitten, Lady Rohana«, erklärte Kindra. »Ich bitte Euch sehr, leise zu sprechen, wenn man uns hören könnte. Glaubt Ihr wirklich, ich trüge Männerkleidung?« Sie schien gekränkt zu sein, und Lady Rohana sagte schnell: »Ich wollte Euch nicht beleidigen, glaubt mir, Kindra. Aber Euer Anzug ist gewiss nicht der einer Frau – wenigstens nicht der einer Frau aus den Domänen.«
Ehrerbietung und Verärgerung mischten sich in der Stimme der Freien Amazone. »Ich habe jetzt keine Zeit, Euch alle Sitten und Vorschriften unserer Gilde zu erklären, Lady Rohana. Im Augenblick genügt es …« Sie brach ab, weil die Zuschauer von neuem in wieherndes Gelächter ausbrachen; Devra und eine zweite Freie Amazone führten ihre Sattelpferde zu dem öffentlichen Brunnen inmitten des Marktplatzes. Eine von ihnen bezahlte das Wassergeld mit den Kupferringen, die überall östlich von Carthon als Währung galten, während die andere die Tiere zum Trog brachte. Als sie zurückkehrte, um Devra beim Tränken zu helfen, fasste sie einer der Tagediebe um die Taille und zog sie grob an sich.
»He, Hübsche, willst du diese Schlampen nicht im Stich lassen und mit mir kommen? Ich kann dir vieles zeigen, und ich wette – aua!« Seine Bemerkung ging in einem Wut- und Schmerzgeheul unter. Die Frau hatte einen Dolch aus der Scheide gerissen und von unten nach oben seine schmutzige, zerlumpte Kleidung aufgeschlitzt. Auf seinem ungesunden Fleisch kroch eine rote Linie vom Unterbauch bis zum Schlüsselbein.
Der Mann, der mehr vor Schreck als vor Schmerz stöhnte, wurde von seinen Freunden weggezerrt. Kindra trat auf die Frau zu, die ihr Messer abwischte.
»Verdammt, Gwennis! Jetzt hast du uns alle verdächtig gemacht! Dein Stolz auf deine Fertigkeit im Messerkampf kann unsere Mission vereiteln! Als ich nach Freiwilligen für diese Reise fragte, dachte ich an Frauen, nicht an verzogene Kinder!«
Gwennis’ Augen füllten sich mit Tränen. Sie war noch ein Mädchen, fünfzehn oder sechzehn. Mit zitternder Stimme antwortete sie: »Es tut mir Leid, Kindra. Was konnte ich machen?«
»Glaubst du wirklich, du seist in Gefahr gewesen, am hellen Tag und vor so vielen Augen? Du hättest dich ohne Blutvergießen befreien und ihn lächerlich machen können, ohne das Messer auch nur zu ziehen.« Kindra nahm das Messer vom Boden auf und wischte das restliche Blut von der Klinge. »Wenn ich es dir wieder gebe, kannst du es dann da lassen, wo es hingehört, bis es gebraucht wird?«
Gwennis senkte den Kopf und murmelte: »Ich schwöre es.«
Kindra gab ihr das Messer und meinte freundlich: »Es wird bald genug gebraucht werden, breda.«
Sie überließ es den Frauen, die Pferde fertig zu tränken, und stellte mit grimmigem Lächeln fest, dass die Menge aus Müßiggängern sich wie durch Zauberei verflüchtigt hatte.
Die Sonne versank hinter den niedrigen Hügeln, und die kleinen Monde erstiegen das Himmelsgewölbe. Der Marktplatz lag eine Weile verlassen da. Dann tauchten einige der Trockenstädterinnen auf, eingehüllt in ihre unbequemen Röcke und Schleier, um an dem öffentlichen Brunnen Wasser zu kaufen. Jede von ihnen bewegte sich unter leisem Kettengeklirr. Nach der Sitte der Trockenstädte trugen sie um die Handgelenke metallene Reifen. Sie waren mit einer langen Kette verbunden, die durch einen Ring im Gürtel lief. Wenn nun eine Frau eine Hand ausstreckte, wurde die andere eng gegen den Ring an ihrer Taille gezogen.
Das Lager der Freien Amazonen füllte sich mit den Düften des Essens, das an ihren kleinen Feuern kochte. Einige der Trockenstädterinnen kamen näher und betrachteten die fremden Frauen mit Neugier und Verachtung: ihr kurz geschnittenes Haar, ihre schmucklose männliche Tracht, ihre ungebundenen Hände, die Hosen und die flachen Sandalen! Die Amazonen starrten, sich dieser Blicke bewusst, mit ebensolcher Neugier, die nicht ohne Mitleid war, zurück. Schließlich ertrug es die Rohana genannte Frau nicht länger. Sie stellte ihren fast unberührten Teller hin, stand auf und ging in das Zelt, das sie mit Kindra teilte. Kurz darauf folgte die Anführerin der Amazonen ihr und sagte erstaunt: »Ihr habt ja gar nichts gegessen, meine Dame. Darf ich Euch etwas bringen?«
»Ich habe keinen Hunger«, stieß Rohana hervor. Sie warf ihre Kapuze zurück. In dem dämmerigen Licht zeigte sich Haar von der feuerroten Farbe, die sie als Mitglied der telepathischen Kaste der Comyn auswies, der Kaste, die die Sieben Domänen seit undenklichen Zeiten regierte. Zwar war es geschnitten worden, aber nichts konnte seine Farbe verbergen. Kindra runzelte die Stirn, als die Comyn-Frau fortfuhr:
»Der Anblick dieser Trockenstädterinnen hat mir den Appetit verdorben. Wie ertragt Ihr es, das anzusehen, Kindra, die Ihr so für die Freiheit der Frauen eintretet?«
Kindra zuckte leicht die Schultern. »Ich empfinde keine große Sympathie für sie. Jede Einzelne von ihnen könnte sich befreien, wenn sie nur wollte. Wenn sie lieber Ketten tragen, als das Interesse ihrer Männer zu verlieren oder sich von ihren Müttern und Schwestern zu unterscheiden, werde ich mein Mitleid nicht an sie verschwenden und mir erst recht nicht Schlaf oder Appetit vergehen lassen. Sie nehmen ihre Gefangenschaft hin wie ihr von den Domänen die eure, und um die Wahrheit zu sagen, ich sehe da keinen großen Unterschied. Vielleicht sind die Trockenstädterinnen sogar ehrlicher, denn sie bekennen sich zu ihren Ketten und tun nicht, als seien sie frei. Eure Ketten dagegen sind unsichtbar – und lasten doch mit dem gleichen Gewicht auf euch.«
Rohanas blasses Gesicht wurde rot vor Zorn. »Dann frage ich mich, warum Ihr dieser Mission überhaupt zugestimmt habt! Geht es Euch nur darum. Eure Bezahlung zu verdienen?«
»Darum natürlich auch«, erwiderte Kindra ungerührt. »Aber es geht mir hier noch um mehr«, setzte sie in sanfterem Ton hinzu. »Lady Melora, Eure Verwandte, wurde gegen ihren Willen gefangen genommen und hat ihre Form der Dienstbarkeit nicht selbst gewählt. Wie Ihr mir berichtet habt, überfiel Jalak von Shainsa – möge seine Mannheit verdorren! – ihre Eskorte, erschlug ihre Leibgarde und entführte sie mit Gewalt, weil er aus Rache oder aus purer Lust an der Grausamkeit eine Leronis der Comyn als seine Frau – oder seine Konkubine, da bin ich mir nicht sicher – versklaven wollte.«
»In den Trockenstädten scheint es so gut wie dasselbe zu sein«, bemerkte Lady Rohana bitter, und Kindra nickte.
»Einen sehr großen Unterschied erkenne ich nirgends, vai domna, aber ich erwarte nicht, dass Ihr mir beipflichtet. Wie dem auch sei, Lady Melora wurde in eine Sklaverei geführt, die sie nicht gewählt hatte, und ihre überlebenden Verwandten konnten oder wollten sie nicht rächen.«
»Einige haben es versucht.« Rohanas Stimme bebte. »Sie verschwanden spurlos, der Erste, der Zweite und der Dritte. Dieser war meines Vaters jüngster Sohn, mein Halbbruder, und er war Meloras Pflegebruder und als ihr Spielgefährte aufgewachsen.«
»Die Geschichte habe ich gehört. Jalak schickte den Ring zurück, der noch am Finger saß, und brüstete sich, ebenso oder schlimmer mit jedem anderen zu verfahren, der käme, sie zu rächen. Aber das ist zehn Jahre her, Lady, und wenn ich in Lady Meloras Schuhen stände, würde ich nicht am Leben bleiben, um weitere Verwandte in Gefahr zu bringen. Inzwischen hat sie zwölf Jahre lang in Jalaks Haushalt gelebt, und da kann ihre Sehnsucht nach Rettung heute nicht mehr groß sein. Man könnte sich vorstellen, dass sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat.«
Rohana errötete. »Das haben wir tatsächlich geglaubt. Cassilda erbarme sich meiner, auch ich machte ihr in Gedanken Vorwürfe und wünschte ihr eher den Tod als ein Leben zu unser aller Schande in Jalaks Haus.«
»Und doch seid Ihr jetzt hier«, stellte Kindra fest, und obwohl es keine Frage war, antwortete Lady Rohana. »Ihr wisst, was ich bin: eine Leronis, eine im Turm ausgebildete Telepathin. Melora und ich waren als junge Mädchen zusammen im Dalereuth-Turm. Keine von uns wollte fürs ganze Leben dort bleiben, aber bevor ich den Turm verließ, um zu heiraten, lernten wir, gegenseitig unsere Gedanken zu lesen. Dann kam ihre Tragödie. In den darauf folgenden Jahren hatte ich die Sache so gut wie vergessen; für mich war Melora tot oder doch wenigstens völlig außerhalb der Reichweite meiner Gedanken. Dann – es ist nicht länger als vierzig Tage her – kam Melora über die große Entfernung zu mir, kam zu mir im Geist, wie wir es zu tun lernten, als wir junge Mädchen im Turm von Dalereuth waren …«
Ihre Stimme klang wie von weit weg; Kindra merkte, dass die rothaarige Frau nicht mehr zu ihr, sondern zu einer Erinnerung sprach. »Ich hätte sie fast nicht wieder erkannt«, berichtete Rohana, »sie hatte sich so sehr verändert. Nein, sie hatte sich nicht damit abgefunden, Jalaks Frau und Gefangene zu sein. Es war einfach so, dass sie …« – Rohanas Stimme schwankte – »… nicht die Ursache von noch mehr Tod und Qual sein wollte. Nun erfuhr ich, dass mein Bruder, ihr Pflegebruder, vor ihren Augen zu Tode gefoltert worden war, als Warnung für sie, damit sie keinen Retter mehr herbeirufe …«
Kindra verzog das Gesicht vor Entsetzen und Abscheu. Rohana brachte ihre Stimme mit großer Anstrengung wieder unter Kontrolle und fuhr fort: »Melora sagte mir, dass sie endlich, nach so vielen Jahren, mit Jalaks Sohn schwanger sei und dass sie lieber sterben als ihm einen Erben aus Comyn-Blut schenken wolle. Sie bat nicht für sich selbst um Befreiung. Ich glaube – ich glaube, sie möchte sterben. Doch sie will ihr anderes Kind nicht in Jalaks Händen lassen.«
»Ein anderes Kind?«
»Eine Tochter«, erklärte Rohana leise, »die sie gleich nach ihrer Gefangennahme empfangen hat. Zwölf Jahre alt. Alt genug …« – sie schluckte – « … alt genug, um Ketten angelegt zu bekommen.« Sie schluchzte und wandte das Gesicht ab. »Für sich selbst bat sie um nichts. Sie flehte mich nur an, ihre Tochter wegzuholen, von Jalak weg. Nur dann … nur dann könne sie in Frieden sterben.«
Kindras Gesicht war grimmig. Bevor ich eine Tochter gebären würde, damit sie als Gefangene, in Ketten in den Trockenstädten lebt, dachte sie, würde ich Hand an mich selbst und an das Leben in mir legen oder das Kind erwürgen, wenn es meinen Leib verließ! Die Frauen aus den Domänen sind weich, Feiglinge sind sie alle! Nichts davon klang in ihrer Stimme mit, als sie die Hand auf Rohanas Schulter legte und ruhig sagte: »Ich danke Euch, dass Ihr mir das erzählt habt, Lady. Ich hatte es nicht verstanden. Also geht es bei unserer Mission weniger darum, Eure Verwandte zu retten …«
»Als ihre Tochter zu befreien; das ist es, um was sie bat. Obwohl – wenn Melora befreit werden kann …«
»Nun, meine Gruppe und ich haben gelobt, alles zu tun, was wir können«, sagte Kindra. »Ihr werdet bald Eure ganze Kraft brauchen, Lady, und es ist weder Mut noch Klugheit in einem leeren Bauch. Es schickt sich nicht, dass ich einer Comynara Befehle erteile, aber wollt Ihr Euch jetzt nicht meinen Frauen anschließen und Eure Mahlzeit beenden?«
Rohana verließ das Zelt, und Kindra, die im Eingang stehen blieb, beobachtete, wie sie sich ans Feuer setzte und einen Teller mit dem Eintopf aus Fleisch und Bohnen entgegennahm.
Kindra folgte ihr nicht gleich; sie dachte darüber nach, was vor ihnen lag. Wenn es an Jalaks Ohren gelangte, dass Leute aus den Domänen in seiner Stadt waren, mochte er bereits auf der Hut sein. Oder verachtete er die Freien Amazonen so, dass es ihm nicht der Mühe wert schien, sich gegen ihren Angriff zu rüsten? Sie hätte darauf bestehen sollen, dass sich Lady Rohana das Haar färbte. Sollte einem Spion Jalaks eine rothaarige Comyn-Frau auffallen … Ich hätte nie gedacht, dass sie bereit wäre, es abzuschneiden.
Mit einer unbewussten Geste berührte Kindra ihr kurzes, ergrauendes Haar. Sie war nicht in die Gilde der Freien Amazonen hineingeboren worden; sie war ihr beigetreten, und die Erinnerung an das, was sie dazu veranlasst hatte, schmerzte immer noch so sehr, dass ihre Lippen schmal wurden und ihre Augen sich grimmig in weite Fernen richteten. Sie sah zu Rohana hin, die im Kreis der Amazonen am Feuer saß, ihre Suppe löffelte und dem Gespräch der Frauen lauschte. Ich war früher einmal ganz wie sie: gefügig mich einordnend in das einzige Leben, das ich kannte. Ich fasste den Entschluss, mich selbst zu befreien. Rohana hat eine andere Wahl getroffen. Auch mit ihr habe ich kein Mitleid.
Melora hatte jedoch keine Wahl. Ihre Tochter ebenso wenig. Sachlich dachte sie, dass es für Melora wahrscheinlich zu spät sei. Nach zehn Jahren in den Trockenstädten konnte nicht mehr viel von ihr übrig sein. Aber offenbar war noch genug von dem übrig, was sie gewesen war, um sie zu einer ungeheuerlichen Anstrengung zur Rettung ihrer Tochter anzuspornen.
Lady Rohana hat gut daran getan, zu mir zu kommen. Nach so vielen Jahren haben ihre Comyn-Verwandten zweifellos gewünscht, Melora sei tot, und den Gedanken an ihre Versklavung, die für sie ein Vorwurf war, verdrängt. Das ist letzten Endes der Grund, warum es die Freien Amazonen gibt. Jede Frau weiß zumindest, dass es eine Alternative für sie gibt … Wenn sie die den Frauen auf Darkover auferlegten Einschränkungen akzeptieren, tun sie es aus eigener Wahl und nicht, weil sie sich nichts anderes vorzustellen vermögen.
Kindra wollte gerade das Zelt verlassen, ans Feuer zurückkehren und selbst auch essen, als sie einen leisen, seltsamen Laut vernahm: das Pfeifen eines Regenvogels, der sich hier in den Trockenstädten niemals hören ließ. Alarmiert fuhr sie herum und sah die kleine, schmächtige Gestalt, die sich unter der rückwärtigen Zeltklappe durchwand. Es war sehr dunkel, aber sie wusste, wer das war. »Nira?«, flüsterte sie.
»Falls du nicht glaubst, ein Regenvogel sei verrückt geworden und hierher geflogen, um zu sterben.« Nira stellte sich auf die Füße.
Kindra sagte: »Schnell, zieh diese Sachen aus. Eine Frau mehr am Feuer wird niemand bemerken, während du in Männerkleidung eine zweite Menschenmenge anlocken würdest. Davon hatten wir schon genug, als wir abluden.«
»Hab ich gehört«, meinte Nira trocken und schlüpfte aus ihren Stiefeln. Sie faltete ihre Verkleidung zusammen und zog die anderen Sachen an.
»Hast du Probleme gehabt?«, erkundigte Kindra sich flüsternd. »Gibt es Neuigkeiten, Kind?«
»Keine Probleme; man hat in mir nichts anderes gesehen als den Lehrling irgendeines Händlers aus den Bergen, einen noch bartlosen Jungen vor dem Stimmbruch. An Neuigkeiten habe ich nur den Klatsch auf dem Marktplatz und etwas von dem, was die Diener vor Jalaks Tür geredet haben. Die ›Stimme‹ Jalaks, ein Mann, der das Große Haus beaufsichtigt, wenn der Lord verreist ist, hat die Nachricht erhalten, Jalak, seine Frauen und Konkubinen und sein ganzer Haushalt kämen vor morgen Mittag zurück. Eine der Sklavinnen erzählte mir, sie kämen nur deshalb nicht schon heute Abend, weil seine Lady hochschwanger sei. Irgendeine alte Hebamme behauptet, aus der Art, wie Lady Melora ihr Kind trage, tief und breit, erkenne sie, dass es ein Junge ist, und solange Jalak darauf hofft, wird er nichts tun, was sie in Gefahr bringen könnte …«
Kindras Gesicht verzog sich vor Abscheu. »Also lagert Jalak in der Wüste? Wie weit von hier entfernt?«
Nira zuckte die Schultern. »Nicht mehr als ein paar Meilen, wie ich gehört habe. Vielleicht hätten wir einen Angriff auf seine Zelte durchführen sollen …«
Kindra schüttelte den Kopf. »Wahnsinn. Hast du es vergessen? Die Trockenstädter sind paranoid; ihr Leben besteht aus Fehden und Kämpfen. Glaub mir, unterwegs wird Jalak so bewacht sein, dass drei Abteilungen der Garde von Thendara nicht an ihn herankommen könnten. In seinem eigenen Haus mag er ein bisschen sorgloser sein. In keinem Fall dürfen wir einen offenen Angriff wagen. Wir müssen schnell zuschlagen, einen oder zwei Wachposten töten und höllisch schnell davonreiten. Sonst haben wir keine Chance.«
»Das stimmt.« Nira trug wieder ihre eigenen Sachen, und sie wollten schon das Zelt verlassen, als Nira die Hand auf Kindras Arm legte und sie zurückhielt. »Warum müssen wir Lady Rohana mitnehmen? Sie reitet erbärmlich, sie wird uns in einem Kampf überhaupt nichts nützen.«
»Lady Melora muss benachrichtigt werden«, erwiderte Kindra, »dass sie sich bereithält, jeden Augenblick mit uns die Stadt zu verlassen. Die geringste Verzögerung könnte uns alle verderben. Lady Rohana ist im Stande, ihre Gedanken zu erreichen, ohne Jalak zu warnen oder seinen Argwohn zu erwecken, wie es auch die allervorsichtigste Botschaft täte.« In der Dunkelheit des Zelts grinste Kindra schief. »Außerdem, wer unter euch möchte die Aufgabe übernehmen, auf der Rückreise für eine schwangere Frau zu sorgen? Daran fände keine von uns viel Geschmack – und hätte auch kein Geschick, sollte die Dame Pflege brauchen. Oder möchtest du es versuchen?«
Nira lachte verlegen. »Avarra und Evanda mögen es verhüten! Ich nehme alles zurück!« Damit ging sie zu den anderen Frauen ans Feuer.
Kurz darauf folgte Kindra ihr, nahm den Teller, den man ihr aufgehoben hatte. (Das Essen war kalt geworden, aber sie aß es, ohne es zu merken.) Die Frauen unterhielten sich leise, während sie das Geschirr einsammelten und eine Wache aufstellten. Im Geist ging Kindra ihre Liste durch.
Diese Gruppe hatte sie selbst aus Freiwilligen ausgewählt, und mit allen außer dem jungen Mädchen Gwennis hatte sie früher schon gearbeitet. Nira, die sich als Mann ausgeben konnte, wenn es sein musste, und die sogar gelernt hatte – die Gesegnete Cassilda allein wusste, wie –, ein Schwert zu benutzen. Gegen Trockenstädter mögen wir es brauchen. Nach der Charta der Gilde Freier Amazonen war es einer Amazone nicht erlaubt, ein Schwert zu führen. Die Männer der Domänen fühlen sich zu sehr bedroht, wenn Frauen mit ihren kostbaren Spielzeugen umgehen! Aber dies Gesetz wurde nicht immer beachtet. Kindra hatte keine Gewissensbisse, dass sie Nira gestattet hatte, den anderen Unterricht im Schwertkampf zu geben.
Dann war da Leeanne, die mit vierzehn zum Neutrum gemacht worden war und wie ein schlanker Junge aussah: ohne Brüste, mit einem harten, schmächtigen Körper. Eine andere, an der diese Operation vorgenommen worden war – sie war illegal, tauchte aber immer wieder als fait accompli auf –, war Camilla, die einer guten Familie in den Kilghardbergen entstammte. Ihren Familiennamen Lindir benutzte sie nicht mehr, denn sie war schon vor langer Zeit enterbt und verstoßen worden. Camilla näherte sich dem mittleren Alter, und wie Kindra hatte sie den größten Teil ihres Lebens als Söldnerin verbracht; sie trug zahlreiche Narben von Messerstichen. Lori war in den Hellers geboren und kämpfte nach der Sitte der Bergvölker mit zwei Messern, und dann war da Rafaella, Kindras eigene Verwandte. Natürlich waren nicht alle Freien Amazonen Kämpferinnen, aber für diese Mission hatte Kindra hauptsächlich Frauen ausgesucht, die sich im Kampf auszeichneten. Devra gehörte nicht dazu, doch Kindra hatte nie jemanden kennen gelernt, der sich in den weg- und steglosen Bergen und Wüsten besser zurechtfand. Deshalb hatte Kindra auch sie mitgenommen und ihr gesagt, sie solle sich aus Nahkämpfen heraushalten. Die Dicke Rima war in ihrer äußeren Erscheinung und ihrem Benehmen ganz und gar weiblich und so schwer, dass nur die größten Pferde sie tragen konnten. Kindra wusste jedoch, dass sie geschickt darin war, es den anderen im Lager gemütlich zu machen, und so war sie auf einer Reise wie dieser eine wertvolle Gefährtin. Selbstverständlich konnte auch Rima sich wie alle Amazonen verteidigen. Und sie hat noch andere Fähigkeiten, die wir vielleicht brauchen werden, bevor wir Thendara erreichen! überlegte Kindra. Zu der Gruppe gehörten außerdem noch das Mädchen Gwennis und Lady Rohana.
Jeder, der die Freien Amazonen kannte, dachte Kindra, würde sofort merken, dass die Lady keine von ihnen war: ihr Gang, ihre Sprache, ihr Reiten. Aber es war niemand hier, die Göttin sei gelobt, der so viel über sie wusste!
Die Frauen waren fertig damit, das Geschirr wegzuräumen. Kindra gab ihnen ihren leeren Teller, den die Dicke Rima mit Sand scheuerte. Rafaella holte ihre kleine rryl, legte sie sich über die Knie und schlug ein paar einleitende Akkorde an. »Kindra, willst du für uns singen?«
»Nicht heute Abend, Rafi.« Sie lächelte, um ihrer Ablehnung die Schärfe zu nehmen. »Ich muss Pläne machen; ich werde euch Übrigen zuhören.«
Devra begann ein Lied, und Kindra saß mit dem Kopf in den Händen da, in Gedanken nicht bei der Musik. Sie wusste, dass sie jeder dieser Frauen ihr Leben anvertrauen konnte. Lady Rohana war eine Unbekannte, aber sie hatte mehr Gründe als die anderen, sich nach Kindras Befehlen zu richten. Die Freiwilligen hatten sich zumindest teilweise aus dem Grund gemeldet, dass sie wie jede Freie Amazone von Dalereuth bis zu den Hellers den Trockenstädtern einen tödlichen Hass entgegenbrachten. Die Domänen selbst hatten mit den Trockenstädtern einen Friedensvertrag geschlossen und hielten ihn. Aber es gab keine Liebe zwischen Domänen und Trockenstädten, nur die bittere Erinnerung an die langen Kriege, die keiner von beiden Seiten einen endgültigen Sieg gebracht hatten. Aus politischer Klugheit mochten die Domänen den augenblicklichen Waffenstillstand akzeptieren und ihre Frauen mit ihnen. Die Domänen leben unter den Gesetzen von Männern. Sie nehmen die Versklavung der Trockenstädterinnen hin, weil ihnen der Gedanke gut tut, wie gütig sie im Vergleich dazu zu ihren eigenen Frauen sind. Sie sagen, alle Menschen müssen ihren eigenen Lebensstil wählen.
Keine Frau, die ihr Haar geschnitten und den Eid der Freien Amazonen abgelegt hatte, würde diesem Kompromiss jemals zustimmen!
Kindra hatte sich frühzeitig von einem Leben losgerissen, das ihr jetzt als Sklaverei vorkam. Die unsichtbaren Fesseln wogen ebenso schwer wie die Armbänder und Ketten, die die Trockenstädterinnen als Besitztum eines Mannes kennzeichneten. Jede Frau konnte sie abschütteln, dachte Kindra, wenn sie bereit war, den Preis dafür zu zahlen.
Ob ich ihnen meine Pläne jetzt mitteile? Sie hob die Hand und lauschte. Lady Rohana, die eine süße, kleine, unausgebildete Stimme hatte, und Gwennis mit ihrem hellen Sopran sangen ein Rätsellied aus den Domänen. Kindra entschloss sich, sie nicht zu stören. Sollen sie diese Nacht noch ruhig schlafen. »Stellt Wachen um das Lager auf«, sagte sie. »Einige dieser Trockenstädter könnten merkwürdige Vorstellungen darüber haben, wie Freie Amazonen gern ihre Nächte verbringen, und ich bezweifle, dass uns ihre Gedanken interessieren würden.«