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Mittags brannte die Sonne erbarmungslos auf den Marktplatz von Shainsa nieder, und die ausgebleichten Häuser wandten dem Licht blinde Gesichter zu.

Trotz der Beleidigungen und Hohnreden, die sich die Freien Amazonen von den Eckenstehern hatten gefallen lassen müssen, hatten sie den ganzen Vormittag an ihrer Bude, einem leichten Korbgeflecht, das auf Pferderücken transportiert werden konnte, glänzende Geschäfte gemacht. Das in den Bergen gegerbte Leder erzielte in den Trockenstädten gute Preise, denn dort ließen sich nur wenige Haustiere halten, und Leder und Tuch waren knapp. Bewegung entstand auf dem Marktplatz, ein beinahe sichtbares Gemurmel klang auf, und Müßiggänger, Passanten und Kinder strömten auf die großen Tore zu. Jalak, dachte Kindra. Es muss Jalak sein, der zurückkommt. Nichts anderes könnte so viel Unruhe erregen.

Sie übergab die Bude der Obhut Devras und der Dicken Rima und ließ sich zusammen mit Rohana innerhalb der Menschenmenge auf die Tore zutreiben. So leise, dass man sie in sechs Zoll Entfernung nicht mehr hören konnte, flüsterte sie: »Jetzt oder nie ist der Augenblick, wo Ihr eine Botschaft an Eure Verwandte durchbekommen müsst. Sagt ihr, sie soll sich bereithalten, jede Sekunde mit uns aufzubrechen. Es mögen uns für den Überfall nur ein paar Minuten zur Verfügung stehen, und wir müssen handeln, wann immer sich uns die Gelegenheit dazu bietet. Vor dem Dunkelwerden geht es nicht; danach kann es jederzeit sein. Findet auch genau heraus, wo sie schläft, ob sie bewacht wird und von wie vielen, auch wo ihre Tochter schläft, ob allein oder mit anderen königlichen Töchtern zusammen.«

Rohana stützte sich auf den Arm der Freien Amazone; die ungeheure Verantwortung machte sie krank und schwach. Nun lag plötzlich alles auf ihren Schultern.

Hörner erklangen in einem seltsamen, heiseren Tusch. Zuerst kam ein Dutzend seiner Leibgardisten in einem so fremdartigen Aufputz, dass Rohana nur den allgemeinen Eindruck von barbarischer Pracht empfing: Schärpen und Wehrgehenke, kunstvoll vergoldete Tuniken, hohe Aufbauten als Kopfschmuck. Dann cralmacs, bepelzte und geschwänzte Humanoide mit großen, goldfarbenen Augen, die nur ihr eigenes Fell und juwelenbesetzte Schärpen trugen. Sie ritten auf den großen, schwankenden oudhraki der fernen Wüsten, und sie schienen eine ganze Legion zu sein. Weitere Gardisten, diesmal weniger prunkvoll und zeremoniell gekleidet, aber mit den langen, geraden Schwertern und Dolchen der Trockenstädter bewaffnet. Rohana dachte: Nur gut, dass Kindras Gruppe nicht versucht hat, ihn des Nachts in seinem Lager zu überfallen. Und dann kam Jalak selbst.

Rohana musste sich abwenden, bevor sie mehr als einen flüchtigen Blick auf sein mageres, falkenkühnes Gesicht, sonnengebleicht unter dichtem hellem Haar, geziert mit einem sich grimmig sträubenden Schnurrbart, erhascht hatte. Sie fürchtete, ein Hass von so ungeheuerlicher Gewalt müsse sich seinem Objekt mitteilen, und er könne gar nicht umhin, ihre Gedanken wahrzunehmen. Für Rohana, seit ihrer Kindheit Telepathin, war die Gedankenübertragung eine Realität. Aber Jalak ritt ungerührt mit starrem Gesicht inmitten seiner Leibgarde und sah weder rechts noch links.

Neben ihm ritten zwei seiner Favoriten, so vermutete Rohana, Sklavinnen oder Konkubinen, ein schlankes Mädchen mit weißem, wattigem Haar. Ihre Kette war mit Juwelen besetzt. Sie beugte sich zu Jalak hinüber und zwitscherte und säuselte ihm etwas zu, als sie vorüberritten. Der dünne, elegante Junge an Jalaks anderer Seite war zu gelockt, zu geschmückt und zu parfümiert, um etwas anderes als ein Lustknabe zu sein.

Hinter Jalak und seinen Favoriten kam eine Reihe von Frauen, und unter ihnen, auffallend durch ihr feuerrotes Haar (jetzt leicht von Grau durchzogen), war Melora. Rohana schwindelte. Sie war darauf vorbereitet gewesen; Melora war in Gedanken zu ihr gekommen. Aber sie jetzt im Fleisch zu sehen, zur Unkenntlichkeit verändert … (Und doch, Cassilda erbarme sich unser, ich hätte sie überall wieder erkannt … ) Rohana wurde so von Schmerz und Mitleid überwältigt, dass sie im nächsten Augenblick ohnmächtig werden musste.

Kindras Hand schloss sich schmerzhaft um ihren Arm, die Nägel gruben sich ins Fleisch, und Rohana riss sich zusammen. Dies war ihr Beitrag zu der Rettung, dies konnte nur sie allein vollbringen. Entschlossen griff sie hinaus und stellte den Kontakt mit dem Geist ihrer Verwandten her.

– Melora!

Sie spürte den Schrecken, das Zusammenzucken und Herzklopfen. Wenn Melora sie nur nicht sah und durch irgendein Zeichen verriet, dass sie sich kannten!

– Lass dir nichts anmerken; halte nicht nach mir Ausschau, Liebling. Ich bin dir nahe, zwischen den Freien Amazonen.

– Rohana! Rohana, bist du es?

Rohana sah von ihrem Platz in der Menge – und sie war plötzlich sehr stolz auf ihre Verwandte –, dass Melora weiterritt, als sei nichts geschehen. Ihre Augen blickten ins Leere. Sie saß ein bisschen zusammengesunken im Sattel. Das angespannte, dünne, vergrämte Gesicht unter dem ergrauenden roten Haar zeigte nichts als Müdigkeit und Schmerz. Von Furcht und Gewissensbissen gepackt, dachte Rohana: Sie ist so dick, so nahe ihrer Zeit, das Kind beschwert sie so sehr. Wie können wir sie nur in Sicherheit bringen? Sie sandte Melora die konzentrierte Frage.

– Kannst du reiten, Melora, kannst du bei so weit fortgeschrittener Schwangerschaft reisen?

Die Antwort klang apathisch … Man merkt gleich, dass du die Trockenstädte nicht kennst. Von mir würde verlangt, dass ich reite, auch wenn ich meiner Zeit noch näher wäre.Dann wurden Meloras Gedanken grimmig vor Hass. – Ich kann, was ich muss! Um frei zu werden, würde ich durch die Hölle reiten!

Mühsam, Stückchen um Stückchen, gab Rohana die Botschaft Kindras weiter, erhielt Meloras Antwort, während die Karawane weiterzog und den Marktplatz überquerte. Kindra und Rohana beobachteten das peinliche Schauspiel nicht länger, sondern gingen zu ihrer Bude zurück. Sobald sie sicher drinnen waren, berichtete Rohana über die erhaltenen Informationen.

»Jalak schläft in einem Zimmer an der Nordseite des Gebäudes, zusammen mit seinen Favoriten und Melora. Nicht etwa, dass er zurzeit Interesse daran hätte, ihr Bett zu teilen, so sagte sie mir, aber sie ist augenblicklich sein kostbarster Besitz, da sie seinen Sohn trägt, und er lässt sie nie aus den Augen. Innerhalb des Raums sind keine Wachen, jedoch zwei Wachen und zwei cralmacs,mit Messern bewaffnet, im Vorzimmer. Bis zu dieser letzten Schwangerschaft schlief Jaelle – das ist ihre Tochter – im Zimmer ihrer Mutter, dann wurde sie zu den anderen königlichen Töchtern umquartiert. Sie beklagte sich, bei dem Lärm, den die Jüngeren machen, könne sie nicht schlafen. Jalak ist nachsichtig mit kleinen Mädchen, wenn sie hübsch sind, und wies ihr ein eigenes Zimmer zu. Es befindet sich eine Kinderfrau bei ihr. Das Zimmer liegt am hinteren Ende der Suite für die königlichen Kinder und sieht auf einen Innenhof voller Schwarzfruchtbäume hinaus.«

Kindras nächste Frage vorwegnehmend, erklärte Rohana: »Ich habe den Plan des Gebäudes so genau im Kopf, dass ich ihn aus dem Gedächtnis zeichnen könnte.«

Kindra lachte. »Lady, Ihr würdet keine schlechte Amazone abgeben! Vielleicht ist es unser Schade, dass Ihr Euch nicht für unsern Weg entschieden habt.« Sie trat zu der Frau, die sich noch in der Bude befand, und sagte mit leiser Stimme: »Verkaufe, was du kannst; was bis Dunkelwerden nicht verkauft ist, müssen wir liegen lassen. Baut die Bude nicht ab. Wenn sie stehen bleibt, glauben die Leute, dass wir morgen früh noch hier sein werden. Sorgt dafür, dass die Pferde, die wir als Packtiere benutzt haben, jederzeit für Melora und ihre Tochter gesattelt werden können …«

Langsam, langsam sank die rote Sonne auf die Hügel hinab. Rohana meinte, in ihrem ganzen Leben habe sich noch kein Tag so in die Länge gezogen, jede Stunde wurde zu Menschenaltern. Nicht einmal der Tag, als mein zweiter Sohn geboren wurde, als ich stundenlang auf einem Streckbett des Schmerzes lag und mein Körper zerrissen wurde … da konnte doch wenigstens noch etwas getan werden. Jetzt kann ich nur warten … und warten … und warten …

Kindra ging an ihr vorüber und sagte leise: »Dieser Tag muss Eurer Verwandten noch länger Vorkommen, Lady.« Rohana versuchte zu lächeln. Das stimmte.

»Betet zu Eurer Göttin, dass bei Lady Melora nicht heute die Wehen einsetzen«, fuhr Kindra fort. »Das wäre das Ende unserer Hoffnungen. Wir könnten immer noch ihre Tochter retten, aber wenn das Große Haus hell erleuchtet ist und Hebammen hin und her rennen … dann misslänge uns vielleicht auch das.«

Rohana holte tief Atem. Und sie ist ihrer Zeit so nahe … dachte sie, böser Vorahnungen voll.

Und doch fand auch dieser Tag, wie es allen Dingen dieser Welt bestimmt ist, sein Ende. Die Trockenstädterinnen kamen, verschleiert und kettenklirrend, um Wasser am Brunnen zu kaufen. Wieder blieben sie ein Weilchen, trotz ihrer Verachtung fasziniert, und beobachteten, wie die Amazonen umhergingen, die Pferde fütterten, ihr Essen kochten. Rohana half, so gut sie konnte; es war leichter, wenn ihre Hände eine Beschäftigung hatten. Sie sah die Trockenstädterinnen kommen und gehen und dachte an Melora, die das Gewicht der juwelenbesetzten Kette an ihren Händen und das Gewicht von Jalaks verhasstem Kind in ihrem Leib trug. Sie war als Mädchen so leicht und flink, immer zum Tollen und Lachen aufgelegt …

Die Mahlzeit war zu Ende. Kindra machte Rafaella ein Zeichen, ihre Harfe zu nehmen und ein paar Akkorde zu greifen. Mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Kommt nahe heran und passt auf. Tut, als ob ihr nur der Musik zuhörtet.«

Rohana fragte: »Könnt Ihr ›Die Ballade von Hastur und Cassilda‹ spielen?«

»Ich glaube schon, Lady.«

»Ich will sie singen. Sie ist sehr lang, und meine Stimme«, setzte sie ehrlich hinzu, »ist so schwach, dass kein Vorübergehender es seltsam finden wird, wenn ihr sehr leise seid, damit ihr mich versteht – sie ist jedoch stark genug, dass Kindra noch leiser sprechen und doch verstanden werden kann.«

Kindra nickte. Es freute sie, dass Rohana ihren Plan so schnell begriff. Rafaella spielte eine kurze Einleitung, und Rohana begann:

Der See erglänzt in Sternenpracht, Die Heide lag in dunkler Nacht, Still waren Feld und Baum und Stein …«

Die anderen Frauen scharten sich dicht um sie, als lauschten sie der alten Ballade. Rohana merkte, dass ihre Stimme schwankte, und kämpfte darum, sie ruhig zu halten. Es musste ihr irgendwie gelingen, sich an all die endlosen Strophen zu erinnern und sie vorzutragen, während Kindra jeder Einzelnen der Amazonen eingehende Anweisungen gab. Nimm dich zusammen, befahl sie sich. Das ist etwas, das du kannst, während die anderen die eigentliche Arbeit tun … die gefährliche Arbeit, das Kämpfen …

Und doch sind sie Frauen. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, der Kampf sei für Männer; ich könnte niemals ein Messer ziehen, zustechen, Blut fließen sehen, vielleicht selbst verwundet werden, sterben

Sing, verdammt noch mal, Rohana! Hör auf zu denken und sing!

»Am Strand strahlt auf ein heller Schein. Der Gott wie in Juwelen lag; Cassilda sah es und erschrak.«

Während sie in ihrem Gedächtnis nach den nächsten Zeilen suchte, hörte sie Kindra mit leiser, angespannter Stimme die Informationen wiederholen, die sie ihr gegeben hatte. Dabei zeigte die Anführerin auf den Plan, den sie beim Schein des Feuers in den Sand gekratzt hatte.

»Jalak schläft hier, zusammen mit seinen Favoriten und Melora. Im Zimmer sind keine Wachen, aber gleich vor der Tür …«

»Im Morgenlicht Camilla kam …«

»Nein, verdammt noch mal, ich habe eine Strophe ausgelassen.« Ärgerlich auf sich selbst brach Rohana ab. Dann wurde ihr klar, dass es nicht darauf ankam. Es hörte ihr sowieso niemand zu.

»Im Morgenlicht Camilla kam; Der Gott die ird’sche Speise nahm Aus Kirschen, Wein und weißem Brot, Da schwand der Glanz, der ihn umloht. Cassilda Scheu nicht mehr empfand, Sie kam und legt in seine Hand Die Sternenblume gold und blau. Da ward er sterblich wie die Frau.«

»Sind die Fenster über Leitern erreichbar?«, erkundigte sich Gwennis, und Kindra fuhr sie an: »Gut möglich, wenn wir Leitern hätten! Nächste Frage, aber bitte keine dummen mehr! Wir haben genug Zeit, um zu töten, aber so viel Zeit auch wieder nicht!«

»Von einem bösen Wahn getrieben Hat Alar Zandru sich verschrieben Und schmiedete in Höllennacht Ein Schwert mit dunkler Zaubermacht.«

»Devra und Rima, ihr bleibt hier, und in dem Augenblick, da wir in Sicht kommen, brecht ihr auf. Achtet darauf, dass die Wächter am Tor nicht aufschreien …« Kindra sah Rima bedeutungsvoll an.

Die dicke Frau legte die Hand auf ihr Messer und nickte grinsend. Kindra fuhr fort: »Camilla, du reitest leichter als jede andere von uns; du nimmst das Kind auf deinen Sattel. Lady Rohana – nein, singt weiter! Ihr reitet neben Melora, für den Fall, dass sie irgendetwas braucht. Wir werden genug damit zu tun haben, Verfolgern auszuweichen und uns derer anzunehmen, die uns vielleicht einholen.«

Rohana fühlte sich von Entsetzen gepackt und am ganzen Körper geschüttelt wie ein Rabbithorn im Griff eines Wolfs. Ihr versagte die Stimme. Sie versuchte, es mit einem Husten zu bemänteln, und sang entschlossen weiter:

»Verborgen blieb vor seinem Blick

Der Plan, der menschliches Geschick

Gestaltete an Halis Strand,

Indem er Gott und Weib verband.

Ohneinen Laut Camilla fiel …«

Verdammt, verdammt, schon wieder habe ich zwei ganze Strophen ausgelassen …

»Sie bot ihr Herz dem Schwert als Ziel,

Das Alar hielt in seinen Händen,

Um Hasturs Leben zu beenden.«

»Lori, du befasst dich mit den cralmacs; du kennst ja ihre Art zu kämpfen. Diese langen Klingen … sonst noch etwas? Leeanne?«

»Vergesst nicht, dass die Trockenstädter ihre Schwerter manchmal vergiften. Vernachlässigt nicht einmal einen Kratzer. Ich habe eine Salbe dabei, die ihre stärksten Gifte neutralisieren soll …«

»Vernichtet war durch ihn ein Leben,

Und Hastur hatt’ sein Wort gegeben

Dem Herrn des Lichts, dass dann sogleich

er heimkehr’ in sein eignes Reich.«

»Bereiter als jetzt werden wir nie sein«, sagte Kindra leise. »Beende das verdammte Lied, Rafaella, und hol deinen Dolch.«

Dankbar begann Rohana die letzten Strophen:

»Die Wolkenwellen in dem See

Singen ein Lied von altem Weh,

Und in der feuchten Nebel Weben

Immer noch die Tränen schweben.«

Es war ein scheußliches Gefühl zu wissen, dass sie jetzt alle zuhörten, über jeden Ton ungeduldig waren und nur darauf warteten, dass sie zum Schluss kam. Verdammt, nicht ungeduldiger als ich selbst!

»Für Hasturs Sohn in wildem Land

Die königliche Stadt entstand,

Und für Camillas Tat ein Mal

Errichtete man aus Opal.«

Sie verzichtete auf das kurze Nachspiel, sprang auf und überließ es Rafaella, die Harfe wegzubringen. Schon am Nachmittag hatte sie die wenigen Gegenstände, die sie auf diese Reise mitgenommen hatte, zu einem kleinen Bündel verpackt. Innerhalb des Zeltes verstauten die Amazonen Lebensmittel und notwendige Ausrüstungsgegenstände schnell und zielstrebig beim Licht einer einzigen abgeschirmten Kerze in ihren Satteltaschen. Rohana sah zu und blieb ihnen aus dem Weg. Devra und die Dicke Rima gingen in Richtung der Stadttore davon, und Rohana erschauerte von neuem: Diese beiden Frauen hatten dafür zu sorgen, dass die Tore unbewacht waren, wenn die anderen in eiliger Flucht zurückkehrten …

Sei nicht so zimperlich! Die Wachen dort sind Trockenstädter; wahrscheinlich haben sie den Tod dutzendfach verdient …

Aber sie haben mit keiner von uns Streit! Es müssen ein paar gute Männer unter ihnen sein, die nichts verbrochen haben, als dass sie so lebten, wie ihre Vorfahren jahrhundertelang gelebt haben …

Ärgerlich auf sich selbst, unterdrückte Rohana den Gedanken. Ich habe Kindras Schar angeworben, um Melora und ihr Kind hier herauszuholen. Habe ich wirklich geglaubt, das könne ohne Blutvergießen geschehen? Man kann keine Falken aus dem Nest nehmen, ohne Klippen zu erklettern!

Kindra winkte die rothaarige Frau zu sich und flüsterte: »Ich hatte daran gedacht, Euch auch zurückzulassen. Wir werden Euch jedoch brauchen, falls Eure Verwandte Hilfe nötig hat – oder Trost Kommt mit uns, Lady, nur gebt auf Euch Acht, wenn gekämpft wird. Keine von uns wird Zeit oder Gedanken übrig haben, um Euch zu beschützen, und Jalaks Männer könnten Euch für eine von uns halten und Euch angreifen. Habt Ihr irgendeine Waffe?«

»Hier.« Rohana zeigte den kleinen Dolch vor, den sie wie alle Comyn-Frauen zum Schutz ihrer eigenen Person bei sich trug. Rohana zitterte leicht. Die hartknochige Hand der Amazone legte sich auf ihre Schulter, nur leicht und für einen Augenblick, zögernd, als fürchte Kindra, die Edelfrau könne ihr Mitgefühl zornig zurückweisen. »Meine Dame, glaubt Ihr, wir hätten keine Angst? Wir haben nicht gelernt, uns nicht zu fürchten, sondern mit unserer Angst weiterzumachen, was die Frauen auf unserer Welt selten lernen.« Sie wandte sich ab, und ihre Stimme klang brüsk aus der Dunkelheit. »Komm, Nira, du gehst voran. Du kennst den Weg Schritt für Schritt, wir kennen ihn nur aus Lady Rohanas Zeichnungen und Karten.«

Rohana, ans Ende der kleinen Gruppe von Frauen gedrängt, fühlte ihr Herz so laut klopfen, dass sie meinte, man müsse es in den staubigen, verlassenen Straßen hören. Sie bewegten sich wie Geister oder Schatten, hielten sich im Lee der Gebäude, stahlen sich auf lautlosen Füßen vorwärts.

Die Stadt war ein Labyrinth. Und doch dauerte es nicht lange, bis die Frauen vor Rohana stehen blieben und dicht gedrängt über einen offenen, windgefegten Platz zu dem Großen Haus hinübersahen, wo Jalak von Shainsa herrschte. Das Haus war ein großes, viereckiges Gebäude aus hell gebleichtem Stein und schimmerte schwach im Licht eines einzelnen abnehmenden Mondes: eine blinde, fensterlose Front, eine Festung, die beiden Türen von hoch gewachsenen Posten in Jalaks barbarischer Livree bewacht. Die Amazonen schlichen durch die Schatten und an dem Gebäude entlang. Rohana hatte Kindras Plan gehört und hielt ihn für gut. In den Trockenstädten wurde jede Außentür eines Hauses bewacht; zwei Posten konnten sie gegen einen direkten Angriff für unbegrenzte Zeit halten. Aber wenn sie irgendwie durch das kleine Seitentörchen in den Hof gelangten, den Garten – der zu dieser Stunde hoffentlich verlassen war – durchquerten und in das Haus durch die unbewachten Innentüren eindrangen, mochten sie auch in Jalaks Schlafzimmer gelangen.

Während Rohana sang, hatte sie Kindra sagen hören: »Hoffen wir, dass in den Trockenstädten viele Monde lang Frieden geherrscht hat. Vielleicht haben die Posten dann Langeweile und sind nicht so wachsam wie gewöhnlich.«

Rohana konnte den Posten an der Seitentür jetzt sehen. Evanda sei gelobt, nicht mehr als einer. Er lümmelte sich gegen die Wand. Sein Gesicht erkannte sie nicht, aber Rohana war Telepathin, und obwohl sie sich gar keine Mühe gab, empfing sie seine Gedanken deutlich: Langeweile, Überdruss, das Gefühl, ihm sei alles willkommen, sogar ein bewaffneter Angriff, was die Monotonie seiner Wache unterbrechen würde.

»Gwennis«, flüsterte Kindra. »Du bist dran.«

Absichtlich stieß Gwennis mit dem Fuß einen Stein gegen die Wand, und Rohana hörte die Anführerin der Amazonen denken: Dies ist der Augenblick des höchsten Risikos

Der Posten richtete sich auf, von dem Geräusch alarmiert.

Er ist wachsam, wir können ihn nicht überraschend angreifen. Deshalb müssen wir ihn von dem Tor weglocken, ihn mitten auf den Platz bringen, dachte Kindra.

Gwennis hatte Messer und Dolch abgelegt und den Verschluss ihrer Jacke ein Stückchen geöffnet. Sie schlenderte auf den mondbeschienenen Platz hinaus. Der Posten stand sprungbereit. Gleich darauf entspannte er sich. Es war ja nur eine Frau.

Wir übertölpeln ihn, ja. Wir ziehen Vorteil aus der jahrhundertelangen Verachtung der Trockenstädter für Frauen als hilflose, harmlose Haustiere. Opfer, dachte Kindra bitter.

Der Posten zögerte nicht länger als eine halbe Minute, bis er seinen Platz an der Tür verließ und entschlossen auf das junge Mädchen zuging. »He, Hübsche – fühlst du dich einsam? Eine von den Amazonen, wie? Hast du sie satt bekommen und siehst dich nun nach besserer Gesellschaft um?«

Gwennis hob den Blick nicht. Er kam schnell näher. »Ha – habe ich dich ohne das Messer erwischt, das ihr immer tragt? Jetzt wirst du erleben, was es bedeutet, in Wirklichkeit eine Frau zu sein. Wer weiß, vielleicht gefällt dir das sogar besser. Komm her, ich will dir was zeigen …« Er fasste nach dem Mädchen, zog es grob an sich und schleuderte es herum. Eine Hand presste er Gwennis auf den Mund, um sie am Schreien zu hindern … Seine Rede brach in einem erstickten Keuchen ab. Loris langes Messer, mit tödlicher Zielsicherheit geworfen, fuhr ihm in die Kehle. Gleich darauf beugte Lori sich über ihn und gab ihm den Todesstreich in die große Vene unterhalb des Ohrs. Kindra und Camilla zerrten ihn in den Schatten der Mauer, außer Sicht von zufällig Vorüberkommenden. Gwennis raffte sich auf und wischte sich angeekelt den Mund, als könne sie die rüde Berührung des Mannes abwischen. Kindra suchte an dem Gürtel des Toten, fand seine Schlüssel und probierte sie einen nach dem anderen an dem schweren Schloss aus. Von außen verschlossen, nicht von innen. Es soll eher seine Frauen an der Flucht hindern, als Eindringlinge abwehren.

Das Schloss ging schwer. Rohana kam es vor, als quietsche es in der stillen Straße laut genug, um die ganze Stadt aufzuwecken. Doch einen Augenblick später gab es nach, und die Tür schwang geräuschlos nach innen. Die Amazonen drängten sich hinein, drückten sich gegen die Hofmauer und schoben das Tor wieder zu.

Sie standen in einem stillen, leeren Garten. Hier im Trockenland wuchs wenig außer Dornbüschen, wenn es nicht eigens angepflanzt wurde. Aber Jalak, Tyrann von Shainsa, hatte keine Kosten gescheut, um für sich und seine verwöhnten Frauen und Favoriten eine Oase zu schaffen. Eine Vielzahl von Springbrunnen sprudelte, hohe Bäume reckten sich zum Himmel, Blumen im Überfluss verströmten einen süßen, feuchten, erdigen Geruch. Von der Skizze geleitet, die Rohana nach dem Rapport mit Melora angefertigt hatte, schlichen sich die Frauen den Ziegelweg entlang und blieben im Schatten einer Gruppe aus Schwarzfruchtbäumen stehen.

»Leeanne«, wisperte Kindra.

Die schlanke, geschlechtslose Gestalt entfernte sich in Richtung des Zimmers, wo Meloras zwölfjährige Tochter mit ihrer Kinderfrau schlief. Rohana ertappte sich bei der Überlegung, wie eine zum Neutrum gemachte Amazone von sich selbst denken mochte. Sicher empfindet sie sich nicht als Frau. Als Mann? Als etwas undefinierbares Drittes? Ungeduldig verscheuchte sie den Gedanken. Welcher Unsinn, mir darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen!

Die Gartentür war nicht bewacht, und dann waren sie innerhalb des Hauses. Rohana, die den Plan aus ihrem Rapport mit Melora genau im Gedächtnis hatte, ging sicher auf den bewachten Raum zu, in dem Jalak schlief.

War Melora wach, hielt sie sich bereit, wartete sie auf sie? Den ganzen Nachmittag hatte Rohana der Versuchung widerstanden, einen telepathischen Kontakt mit ihrer Cousine herzustellen; jetzt gab sie ihr nach. Die lange brachgelegene Fähigkeit kehrte zurück, so dass es diesmal leichter ging.

Melora, Melora! Und plötzlich überkam sie das halbvergessene Gefühl der Verschmelzung. Sie war Melora, sie …

… Sie lag mit dem Gesicht zur Wand und zwang sich, ihre verkrampften Muskeln zu entspannen, geduldig zu sein, zu warten … Das schwere Kind in ihrem Leib strampelte heftig, und sie dachte müde: Du bist so stark und lebhaft, kleiner Sohn, und, Avarra erbarme sich meiner, ich wünsche dir nichts als den Tod. Es ist nicht deine Schuld, sondern dein Unglück, dass du Jalaks Sohn bist

Ob es wirklich heute Nacht geschieht? Und die Wachpostenwie, wie? Seit nun mehr als zehn Jahren verfolgte sie die Erinnerung an ihren Pflegebruder Valentin, dem man nach unsagbaren Scheußlichkeiten bei lebendigem Leib die Finger abgeschnitten hatte … Sie sah ihn zerbrochen, sich windend, blutbedeckt … Oh, Evanda und Avarra, Aldones, Herr des Lichts, nicht auch noch Rohana

Nein! Daran darf ich jetzt nicht denken! Ich muss stark sein.

Mit aller Willenskraft zwang sie sich zur Ruhe.

Jalak lag im ersten, tiefen Schlaf. Neben ihm erkannte sie im blassen Mondschein, der durch das Fenster zum Hof fiel, die undeutlichen Gestalten seiner beiden Favoriten, die sein Bett teilten: Danette – nackt in ihr langes, aufgelöstes Haar eingehüllt, und Garris. Der Junge lag auf dem Rücken, an Jalaks langen Körper geschmiegt, und schnarchte ein bisschen. Anfangs hatte diese Demütigung sie zu Tränen und heftiger Auflehnung aufgeregt. Nach zehn Jahren war sie nur noch erleichtert, dass sie selbst sein Bett nicht mehr zu teilen brauchte.

ArmeDanette, wie sie mich hasst, wie sie triumphierte, als sie meinen Platz in Jalaks Bett einnahm! Sie ahnt ja nicht, wie gern ich ihn ihr schon vor Jahren abgetreten hätte – und mein Kind hasst sie noch mehr als mich; sie weiß, dass sie unfruchtbar ist. Wenn ich es nur wäre … Garris wünsche ich nichts Böses. Seine Eltern haben ihn an die Bordelle in Ardcarran verkauft, als er noch nicht älter als Jaelle warerliebt Jalak nicht mehr als ich. Wie langsam diese Nacht vergeht …

Sie fuhr zusammen, jeder Nerv in ihrem Körper prickelte.

Was war das für ein Geräusch? Im nächsten Augenblick flog die Tür krachend nach innen, und sofort war der Raum voll vonvon Frauen? Jalak wachte mit Gebrüll auf, fasste nach seinem Schwert, das Tag und Nacht griffbereit neben ihm lag, und rief nach den Wachen … ein Ruf, der ohne Antwort blieb. Schon auf den Füßen, rief er noch einmal. Nackt sprang er die erste Frau an, die auf ihn eindrang. Rohana, die jetzt mit ihren eigenen Augen sah, obwohl sie Meloras Gedanken Wo sind die Wachen? teilte, beobachtete, wie die Amazonen ihn gegen die Wand drängten, wie er hinter einem Wall aus Frauen verschwand, die mit ihren Messern zustachen, wie Kindra ihm weit ausholend die Sehnen in den Kniekehlen zerschnitt. Er fiel heulend, um sich schlagend. Danette kniete mit großen Augen aufrecht im Bett und kreischte.

»Garris! Garris! Nimm sein Schwert! Das sind nur Frauen …«

»Bring diese Hure zum Schweigen«, sagte Kindra, und Camillas raue Hände erstickten Danettes Geschrei mit einem Kissen. Garris hatte sich hochgesetzt und blickte mit böser Freude auf den sich windenden, heulenden Jalak nieder … . Rohana riss einen pelzbesetzten Mantel vom Fußende des Bettes, warf ihn über Meloras dürftiges Nachtgewand. »Komm – schnell!«

Rohana zog Melora eilig in den stillen Garten hinaus. Er war so friedlich, dass es ihr den Atem benahm. Springbrunnen sprudelten, Bäume rauschten ungestört im Wind. Kein Laut, kein Licht verriet, dass irgendwo innerhalb des Großen Hauses acht oder zehn von Jalaks Kämpfern und vielleicht auch Jalak selbst tot dalagen.

Kein Mann außer Jalak hatte Gelegenheit gehabt, einen einzigen Streich zu fuhren. Der aber war in Niras Oberschenkel gegangen. Sie hinkte und stützte sich schwer auf Camillas Arm. Lori kam, bückte sich, verstopfte die Wunde provisorisch mit ihrem Taschentuch und band das Bein hastig mit dem Gürtel ihrer Jacke ab. Leeanne tauchte aus der Dunkelheit auf. In ihren Armen trug sie eine kleine Gestalt in einem langen Nachthemd. Sie stellte das Mädchen auf die bloßen Füße, und in dem trüben Licht erhaschte Rohana einen Blick auf ein überraschtes, verschlafenes Gesichtchen.

»Mutter …?«

»Es ist alles gut, mein Liebling, das sind meine Verwandten und unsere Freunde«, erklärte Melora in singendem Tonfall.

»Könnt Ihr gehen, Lady? Wenn nicht, werden wir Euch irgendwie tragen …«

Der Schmerz stach ihr wie mit Messern in Seite und Rücken, das ungeborene Kind zerrte an ihr, aber es kümmerte sie nicht. Frei. Ich bin frei. Jetzt könnte ich glücklich sterben. Aber ich darf nicht sterben und sie aufhalten …

Der verlassen daliegende Marktplatz war eine Wildnis aus leeren Ständen und Buden. Rima und Devra tauchten aus der Dunkelheit auf, nahe der Stelle, wo die Pferde warteten. »Das Tor ist frei«, meldete Rima mit bedeutungsvoller Geste – einen Finger über die Kehle ziehend.

»Dann kommt. Lasst alles liegen bis auf eure eigenen Satteltaschen und die Lebensmittel für die Reise.« Kindra führte Melora zu einem Pferd. »Bevor Ihr aufsteigt, domna, zieht diese Sachen an. Auch wenn sie Euch nicht gut passen werden, eignen sie sich zum Reiten doch besser als dies Nachtgewand.«

Rohana streifte Melora im Schutz der Dunkelheit das Nachthemd über den Kopf, half ihr in eine lange, weite Hose, band sie ihr um die Taille fest, zog ihr eine pelzgefütterte Jacke an. Melora nahm den schwachen Duft in dem Stoff wahr und hätte vor Wiedersehensfreude und Dankbarkeit am liebsten geweint. Das war der Duft nach Gewürzen und Weihrauch, mit dem in jedem Haus der Domänen die Luft parfümiert wurde. Sie unterdrückte ein Schluchzen und ließ sich von Rohana in den Sattel helfen. Nun steckte Rohana ihre Füße noch in – viel zu große – Wildlederschuhe.

Ängstlich sah sich Melora nach Jaelle um und entdeckte, dass eine der Amazonen sie in einen Mantel wickelte und hinter sich in den Sattel hob.

Kindra ergriff die Zügel von Meloras Stute. »Haltet Euch im Sattel, so gut Ihr könnt, Lady, ich werde das Pferd führen.« Melora hielt sich am Sattelknopf fest (wie seltsam, nach so vielen Jahren wieder im Herrensitz zu reiten!) und verbiss den Schmerz, den ihr die Bewegung verursachte. Kindra nahm sie mit sich an die Spitze der kleinen Truppe. Mit leiser, angespannter Stimme sagte sie: »Nun reitet alle wie der Teufel. Vielleicht haben wir ganze fünf Stunden, bevor die Sonne aufgeht und irgendwer Jalak in seinem Blut liegend findet. Aber mehr Zeit bleibt uns nicht, ganz gleich, wie viel Glück wir haben, und von diesem Tag an wird in den nächsten drei Dutzend Jahren die Haut einer Freien Amazone nirgendwo in den Trockenstädten mehr einen sekal wert sein. Los!«

Und fort ging es. Sosehr der Ritt sie anstrengte, merkte Melora doch, dass Kindra für sie ein Pferd mit einem weichen Gang ausgesucht hatte, das Beste, was für eine schwangere Frau zur Verfügung stand. Sie warf einen kurzen Blick auf die schwarzen hohen Mauern von Shainsa zurück.

Es ist vorbei, dachte sie, der Albtraum ist vorbei. Dreizehn Jahre. Jalak ist verkrüppelt fürs Leben, stirbt vielleicht.

Ich hoffe, er stirbt nicht. Für ihn ist es schlimmer, oh, viel schlimmer, am Leben zu bleiben und zu wissen, dass Frauen ihm das angetan haben!

Ich bin gerächt und Valentin auch! Und Jaelle wird in Freiheit aufwachsen!

Sie ritten in die Nacht hinein, ohne verfolgt zu werden.

Die zerbrochene Kette

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