Читать книгу Das Schwert des Aldones - Marion Zimmer Bradley - Страница 5
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ОглавлениеDas Sky-Harbor-Hotel war eine Neppbude, und es gefiel mir gar nicht. Aber hier würde ich wahrscheinlich keinem anderen Comyn begegnen, und das war die Hauptsache. Man wies uns zwei der Zellen zu, die die Terraner Zimmer nennen. Ich hatte mich auf Terra und Vainwal an die Enge gewöhnt, und sie störte mich nicht mehr. Doch als ich die Tür schloß, wandte ich mich bestürzt Marius zu.
»Zandrus Höllen, das hatte ich vergessen! Macht es dir etwas aus?«
Ich wußte, welche verheerende Wirkung Türen, Wände und Schlösser auf einen Darkovaner haben können. Dies schreckliche Gefühl, ersticken zu müssen, hatte ich in meinen ersten Jahren auf der Erde gründlich kennengelernt. Mehr als alles andere unterscheidet das den Darkovaner vom Terraner; darkovanische Räume haben durchscheinende Wände und sind mit dünnen Paneelen oder Vorhängen oder Lichtschranken unterteilt.
Marius schien sich jedoch ganz wohl zu fühlen. Er rekelte sich auf einem so modernistischen Möbelstück, daß ich nicht sagen konnte, ob es ein Bett oder ein Sessel war. Ich zuckte die Schultern. Wenn ich es gelernt hatte, mit der Klaustrophobie fertigzuwerden, dann er vermutlich auch.
Ich badete, rasierte mich und knäulte die terranische Kleidung, die ich auf dem Sternenschiff getragen hatte, achtlos zusammen. So bequem die Sachen waren, ich konnte darin nicht im Comyn-Rat erscheinen. Deshalb zog ich eine wildlederne Hose und knöchelhohe Stiefel an. Beim Zuschnüren der roten Weste stellte ich meine Geschicklichkeit mit einer Hand absichtlich zur Schau; ich war in dem Punkt immer noch zu empfindlich. Der kurze Mantel in den Alton-Farben verbarg die Hand, die nicht mehr da war. Ich fühlte mich, als hätte ich die Haut gewechselt.
Marius streifte ruhelos im Zimmer umher. Er kam mir immer noch fremd vor. Seine Stimme und sein Benehmen waren mir vage vertraut, und trotzdem fehlte die Verbundenheit, die zwischen Telepathen in einer Comyn-Familie normal ist. Ich fragte mich, ob auch er es spürte. Vielleicht lag es an der Droge.
Ich legte mich hin, schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Es ging nicht. Nach acht Tagen im Raum, wo das unablässige Dröhnen des Antriebs auch durch den Drogenschleier wahrnehmbar ist, störte mich die Stille. Schließlich setzte ich mich auf und zog ein kleineres Gepäckstück an mich heran.
»Tust du mir einen Gefallen, Marius?«
»Klar.«
»Ich bin immer noch benommen – kann mich nicht konzentrieren. Kannst du ein Matrix-Schloß öffnen?«
»Wenn es ein einfaches ist.«
Das war es. Jeder Nichttelepath hätte sich auf das psycho-kinetische Muster einstimmen können, das der Matrix-Verschluß aussandte. »Es ist einfach, aber auf mich abgestimmt. Berühre meine Gedanken, und ich gebe dir das Muster.«
Die Bitte war in einer Telepathen-Familie nicht ungewöhnlich. Warum starrte der Junge mich wie in Panik an? Ich gab ihm den Blick erstaunt zurück; dann grinste ich. Schließlich kannte Marius mich kaum. Er war bei meiner Abreise ein kleiner Junge gewesen, und nun sah er in mir beinahe einen Fremden. »Oh, schon gut, dann berühre ich deine Gedanken.«
Ich stellte einen leichten telepathischen Kontakt her und sandte das Bild des Matrix-Musters. Sein Geist war so völlig abgeschirmt, daß er ein Fremder, sogar ein Nichttelepath hätte sein können. Es war mir peinlich; ich fühlte mich nackt und aufdringlich. Schließlich wußte ich nicht einmal, ob Marius Telepath war. Die Gabe zeigte sich erst in der Pubertät, und er war ein Kind gewesen, als ich wegging. In allem anderen hatte er die terranischen Merkmale geerbt, warum sollte er dies eine darkovanische Talent besitzen?
Er legte das geöffnete Köfferchen auf das Bett. Ich nahm eine kleine, viereckige Schachtel heraus und reichte sie ihm.
»Kein großes Geschenk«, sagte ich, »aber wenigstens habe ich daran gedacht.«
Zögernd öffnete er die Schachtel und betrachtete das Fernglas, das schimmernd und fremdartig darin lag. Merkwürdig, wie verlegen er es in die Hand nahm! Dann legte er es kommentarlos in die Schachtel zurück. Es ärgerte mich ein bißchen. Wenn ich auch nicht mit überschäumender Dankbarkeit gerechnet hatte, bedanken hätte er sich immerhin können. Er hatte auch nicht nach Vater gefragt.
»In Linsen sind die Terraner unschlagbar«, sagte er nach einer Minute.
»Aufs Linsenschleifen verstehen sie sich. Und auf den Bau von Raumschiffen. Soviel ich weiß, ist das alles, was sie fertigbringen.«
»Sie können auch Kriege führen«, stellte er fest. Ich ging nicht darauf ein. »Jetzt zeige ich dir noch die Kamera. Ich erzähle dir gar nicht erst, was ich dafür bezahlt habe – du würdest mich für verrückt halten.« Ich kramte in den Koffern herum, und Marius saß neben mir, sah sich die Dinge an und stellte schüchtern Fragen. Offensichtlich interessierte ihn das alles, aber aus irgendeinem Grund bemühte er sich, es nicht zu zeigen. Warum?
Zuletzt zog ich das lange Schwert heraus. Und als ich es berührte, fühlte ich die vertraute Mischung aus Widerwillen und Lust ...
Die ganze Zeit, die ich Darkover fern war, hat es geschlafen. Die Nähe der starken Matrix, verborgen zwischen Klinge und Griff, ließ mich erschauern. Anderswo als auf Darkover war sie ein lebloser Kristall. Jetzt hatte sie eine seltsame, lebendige Wärme.
Die meisten Matrices sind harmlos. Stückchen aus Metall, Kristall oder Stein, die auf die psychokinetischen Wellenlängen der Gedanken reagieren und sie in Energie umwandeln. Bei dem gewöhnlichen Matrix-Mechaniker – und was die Terraner auch glauben mögen, die Matrix-Mechanik ist eine Wissenschaft, die jeder erlernen kann – wird diese psychokinetische Fähigkeit unabhängig von der Telepathie entwickelt. Aber Telepathen sind besser darin, besonders bei den Matrices höherer Ebenen.
Dagegen war die Sharra-Matrix auf die telepathischen Zentren abgestimmt, auf das ganze Nervensystem, Körper und Gehirn. Der Umgang mit ihr war gefährlich. Die Tradition schrieb vor, daß Matrices dieser Art in irgendeiner Waffe verborgen werden. Sharras Matrix war die furchtbarste je erfundene Waffe. Sinnvollerweise war sie in einem Schwert versteckt. Eine Lithiumbombe wäre besser gewesen. Und am besten eine, die explodiert und die Matrix und alles übrige vernichtet ...und mich mit.
Marius’ Gesicht war von Entsetzen verzerrt. Er zitterte.
»Sharras Matrix!« flüsterte er mit steifen Lippen. »Warum, Lew? Warum?«
Mit heiserer Stimme fuhr ich ihn an: »Woher weißt du –?«
Niemand hatte es ihm gesagt. Und unser Vater wollte nicht, daß er es erfuhr. Ich stand auf, von Argwohn ergriffen. Bevor ich die Frage stellen konnte, summte der Interkom. Marius faßte an mir vorbei nach dem Apparat und lauschte. Dann hielt er mir den Hörer hin und machte seinen Platz für mich frei. »Amtlich«, flüsterte er.
»Abteilung drei«, meldete sich eine spröde, gelangweilte Stimme, nachdem ich mich identifiziert hatte.
»Zandru!« murmelte ich. »Schon? Nein – Entschuldigung – sprechen Sie.«
»Amtliche Mitteilung«, sagte die gelangweilte Stimme. »Gegen Lewis Alton-Kennard-Montray-Alton ist die Absicht einer Tötung in fairem Kampf eingetragen worden. Der erklärte Gegner ist identifiziert als Robert Raymon Kadarin, Anschrift nicht registriert. Sie sind dem Gesetz entsprechend benachrichtigt worden; bitte bestätigen Sie den Empfang oder geben Sie einen vom Gesetz anerkannten Grund für die Empfangsverweigerung an.«
Ich schluckte schwer. »Ich bestätige den Empfang«, sagte ich schließlich und legte den Hörer hin. Ich schwitzte. Der Junge kam und setzte sich neben mich. »Was ist passiert, Lew?«
Mir tat der Kopf weh, und ich rieb ihn mit meiner guten Hand.
»Ich bin gerade über eine Tötungsabsicht informiert worden.«
»Hölle«, sagte Marius, »schon? Von wem?«
»Von niemandem, den du kennst.« Meine Narbe zuckte. Kadarin – Anführer der Sharra-Rebellen, einst mein Freund, jetzt mein geschworener, unerbittlicher Feind. Er hatte keine Zeit verloren, um mich zur Erledigung unseres alten Streits aufzufordern. Ob er überhaupt wußte, daß ich meine Hand eingebüßt hatte? Zu spät fiel mir ein – als sei das etwas, das jemand anders zugestoßen war –, daß es ein vom Gesetz anerkannter Grund für eine Empfangsverweigerung gewesen wäre. Ich versuchte, den mich anstarrenden Jungen zu beruhigen.
»Nimm es nicht so schwer, Marius. In einem fairen Kampf brauche ich keine Angst vor Kadarin zu haben. Er war nie gut mit dem Schwert. Er ...«
»Kadarin!« stammelte er. »Aber, aber Bob hat versprochen ...«
»Bob?« Meine Finger schlossen sich um seinen Arm. »Woher kennst du Kadarin?«
»Ich will es dir erklären, Lew. Ich bin nicht ...«
»Du wirst mir eine Menge zu erklären haben, Bruder«, sagte ich kalt. Und dann fing irgendwer an, entschlossen gegen die Tür zu hämmern.
»Mach nicht auf!« beschwor mich Marius.
Aber ich ging zur Tür und schob den Riegel zurück. Dio Ridenow stürzte ins Zimmer.
Sie hatte sich nach unserem Wiedersehen auf dem Raumhafen umgezogen und trug jetzt Reitkleidung für einen Mann, die ihr ein bißchen zu groß war, und sie sah aus wie ein kriegerisches Kind. Nach einem oder zwei Schritten blieb sie stehen und heftete den Blick auf den Jungen hinter mir.
»Was ...«
»Du kennst meinen Bruder«, sagte ich ungeduldig.
Dio stand wie angewurzelt da. »Deinen Bruder?« keuchte sie endlich. »Hast du den Verstand verloren? Das ist ebensowenig Marius, wie ... wie ich es bin!« Ich trat ungläubig zurück, und Dio stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Seine Augen! Lew, du Idiot, sieh dir seine Augen an!«
Mein angeblicher Bruder sprang vor und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Er warf sein ganzes Gewicht gegen uns. Dio taumelte, und ich fiel auf ein Knie nieder. Augen. Marius – jetzt fiel es mir wieder ein – hatte die Augen unserer terranischen Mutter. Dunkelbraun. Kein Darkovaner hat braune oder schwarze Augen. Und dieser – dieser Betrüger, der nicht Marius war, sah mich mit den goldgefleckten Bernsteinaugen eines Fremden an. Nur zweimal hatte ich solche Augen gesehen. Marjorie. Und ...
»Rafe Scott!«
Marjories Bruder! Kein Wunder, daß er mich erkannt hatte, kein Wunder, daß er mir irgendwie bekannt vorgekommen war. Auch an ihn erinnerte ich mich nur als kleinen Jungen!
Er versuchte, an mir vorbeizugelangen. Ich packte ihn, und wir schwankten kämpfend in einem knochenbrechenden Clinch hin und her. »Wo ist mein Bruder?« schrie ich. Ich hakte meinen Fuß hinter seinen Knöchel, und wir krachten zusammen auf den Fußboden.
Er hat nie behauptet, Marius zu sein, schoß es mir durch den Kopf. Er hat es nur nicht geleugnet, als ich ihn dafür hielt ...
Ich bekam ein Knie auf seine Brust und hielt ihn am Boden fest. »Was hast du dir dabei gedacht, Rafe? Sprich!«
»Laß mich aufstehen, verdammt! Ich kann es erklären!«
Daran zweifelte ich nicht im geringsten. Wie schlau hatte er festgestellt, daß ich unbewaffnet war! Aber ich hätte es mir denken können. Ich hätte meinem Instinkt vertrauen sollen; er vermittelte mir nicht das gleiche Gefühl wie mein Bruder. Er hatte nicht nach Vater gefragt. Es war ihm peinlich gewesen, daß ich ihm ein Geschenk gab.
Dio sagte: »Lew, vielleicht ...« Bevor ich antworten konnte, rollte Rafe sich plötzlich zur Seite und schüttelte mich ab. Er gab Dio einen Stoß, und die Tür knallte hinter ihm zu.
Schwer atmend stand ich auf, und Dio kam zu mir. »Bist du verletzt? Willst du nicht versuchen, ihn zu fangen?«
»Nein – auf beide Fragen.« Bis ich herausgefunden hatte, warum Rafe dies ungeschickte und tollkühne Täuschungsmanöver durchgeführt hatte, war es sinnlos, ihm nachzujagen. Und wo war Marius?
»Die Lage wird von Minute zu Minute verrückter«, sagte ich, nicht unbedingt zu Dio. »Und wie paßt du ins Bild?«
Sie setzte sich auf das Bett und funkelte mich an.
»Was meinst du wohl?«
Jetzt bedauerte ich, daß ich ihre Gedanken nicht lesen konnte. Es gab dafür einen Grund – aber lassen wir das vorerst.
Dio bedeutete Ärger in einem hübschen blonden Päckchen. Ich war hier auf Darkover, und ich mußte mindestens eine Weile bleiben.
Die gesellschaftlichen Regeln auf Vainwal – wo Dio unter dem laxen Schutz ihres Bruders Lerrys die letzten beiden Jahre verbracht hatte – waren sehr viel weniger streng als auf Darkover. Ihr Bruder hatte Verstand genug gehabt, sich nicht einzumischen.
Aber hier auf Darkover war Dio Comynara und besaß Laran-Rechte auf dem großen Besitztum der Ridenows. Und was war ich? Ein Halbblut der verhaßten Terraner! Eine Affäre mit Dio würde mir sämtliche Ridenows auf den Hals bringen, und es gab eine Menge von ihnen.
Ich würde Dio mein ganzes Leben lang dankbar sein. In den Schrecken jener letzten Nacht, als Sharra in den Bergen jenseits des Flusses wütete, war mir mit Marjorie ein Teil meines Ichs entrissen worden, nicht sauber losgetrennt wie meine Hand, sondern innerlich schwärend und eiternd. Es hatte keine anderen Frauen, keine andere Liebe gegeben, nichts als leeres schwarzes Entsetzen, bis Dio kam. Sie hatte sich in mein Leben geworfen, ein bezauberndes, leidenschaftliches, eigenwilliges Mädchen, sie war ohne Zögern in dies Entsetzen hinabgestiegen, und danach war die Wunde irgendwie verheilt.
Liebe? Nicht wie ich das Wort auffaßte. Aber Verständnis und unbeschränktes Vertrauen. Ich hätte ihr alles anvertraut
– meinen Ruf, mein Vermögen, meine geistige Gesundheit – mein Leben.
Ihren Brüdern vertraute ich dagegen ungefähr so weit, wie ich durch die Hülle der Southern Cross sehen konnte. Und ich durfte mich nicht mit ihnen anlegen – noch nicht. Das versuchte ich, Dio klarzumachen, ohne ihre Gefühle zu verletzen. Es war nicht leicht. Mißmutig saß sie da und baumelte mit den Beinen, während ich hin und her lief wie ein Tier im Käfig. Schon daß sie sich hier in meinem Zimmer befand, konnte gefährlich sein, falls ihre Familie Wind davon bekam – und wenn es noch so unschuldig war. Und ich wußte, bei längerem Zusammensein würde es nicht unschuldig bleiben. Dios gemurmeltes »Ich verstehe« machte mich wütend, weil ich merkte, daß sie in Wirklichkeit gar nichts verstand.
Ihr unruhiger Blick fiel auf die Schwert-Attrappe, die auf dem Bett lag. Geistesabwesend nahm sie sie in die Hand.
Kein richtiger Schmerz, nur eine Spannung, ein Zerren an meinen Nerven. Ich schrie wortlos auf. Dio ließ das Schwert fallen, als habe es sie verbrannt, und sah mich mit offenem Mund an.
»Was ist los?«
»Ich – kann es nicht erklären.« Ich stand da und betrachtete das Dine minutenlang. »Als erstes sollte ich etwas tun, um die Gefahr abzuschalten, wenn man es anfaßt – für den, der es anfaßt, und für mich.«
Ich suchte in meinem Gepäck nach der Werkzeugtasche, die ich als Matrix-Techniker brauchte. Von dem speziellen Isolierstoff war nur noch wenig da, aber nun war ich wieder auf Darkover und konnte ihn für mich herstellen lassen. Ich wickelte das Zeug um und über die Verbindung zwischen Griff und Klinge, bis ich die Wärme und das Prickeln nicht mehr spürte. Stirnrunzelnd hielt ich das Schwert ein Stück von mir ab. Ich war nicht einmal sicher, ob gewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen bei dieser Matrix etwas nützten.
Ich reichte Dio das Schwert. Sie biß sich auf die Lippen, aber sie nahm es. Der Schmerz ließ sich aushalten. Ich spürte ein kleines, quälendes Ziehen, mehr nicht.
»Warum in aller Welt hast du die Matrix einer hohen Ebene ohne Isolierung herumliegen lassen?« wollte Dio wissen. »Und warum hast du es zugelassen, daß du auf diese Weise darauf abgestimmt worden bist?«
Das waren sehr gute Fragen, besonders die letzte. Aber die ignorierte ich. »Ich wagte nicht, sie isoliert durch den Zoll zu bringen«, antwortete ich nüchtern. »Die Erdleute wissen heutzutage, wonach sie suchen müssen. Solange das nichts weiter als ein Schwert ist, wird es sich keiner zweimal ansehen.«
»Lew, das alles verstehe ich nicht«, sagte Dio hilflos.
»Versuch es erst gar nicht, Liebling. Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich. Hier ist nicht Vainwal, und ich – ich bin nicht der Mann, den du dort gekannt hast.«
Ihre weichen Lippen zitterten, und in der nächsten Minute hätte ich sie in die Arme genommen. Aber da ballerte schon wieder jemand gegen die Tür.
Und ich hatte geglaubt, hier ungestört zu sein!
Ich trat von Dio zurück. »Das sind vermutlich deine Brüder«, meinte ich bitter, »und ich werde bald über eine weitere Tötungsabsicht informiert werden.«
Als ich zur Tür gehen wollte, hielt sie mich am Arm fest. »Warte! Nimm das«, drängte sie.
Verständnislos sah ich das Ding an, das sie mir hinhielt. Es war eine kleine Projektil-Pistole, eine der terranischen Pulverwaffen, die im Vergleich zu ihrer Größe und Einfachheit unglaublichen Schaden anrichten. Ich zog meine Hand davor zurück, aber Dio steckte sie mir in die Tasche. »Du brauchst sie nicht zu benutzen«, sagte sie. »Trag sie nur bei dir. Bitte, Lew.«
Das Klopfen an der Tür wiederholte sich, und Dio hielt mich flehend fest, bis ich ungeduldig nickte. Ich öffnete die Tür einen Spalt und stellte mich so in die Öffnung, daß man das Mädchen nicht sehen konnte.
Der Junge im Flur war untersetzt und dunkel, und seine braunen Augen funkelten belustigt. Er fragte: »Nun, Lew?«
Und dann spürte ich seine Anwesenheit. Ich kann nicht genau erklären, wie, aber ich wußte es. Mit einem Mal kam es mir unglaublich vor, daß Rafe mich auch nur eine Minute lang hatte täuschen können. Ein Beweis, wenn der noch notwendig war, daß ich gleich nach der Landung mit Minus- Kapazität funktioniert hatte. »Marius«, sagte ich heiser und zog ihn ins Zimmer.
Er sprach nicht viel, doch er drückte mir fest die Hand. »Lew-Vater?«
»Auf Vainwal. Es gibt da ein Gesetz, nach dem es verboten ist, Leichen durch den Raum zu transportieren.«
Er schluckte und senkte den Kopf. »Unter einer Sonne, die ich nie gesehen habe ...« flüsterte er. Ich legte ihm meinen guten Arm um die Schultern, und nach einer Weile sagte er mit schwerer Zunge: »Wenigstens bist du hier. Du bist gekommen. Man hat mir gesagt, du kämst nicht.«
Gerührt und ein bißchen beschämt ließ ich ihn los. Ein Befehl war notwendig gewesen, um mich zurückzubringen, und darauf war ich gar nicht stolz. Ich sah mich um – Dio war gegangen. Offenbar hatte sie das Zimmer durch die andere Tür verlassen. Ich war erleichtert; es ersparte mir Erklärungen.
Gleichzeitig ärgerte ich mich. Schon zu viele Leute waren aufgetaucht und wieder verschwunden. Lauter verkehrte Leute und aus verkehrten Gründen. Dyan Ardais – der im Flugzeug meine Gedanken gelesen hatte. Das Mädchen auf dem Raumhafen, das aussah wie Linnell und es nicht war. Rafe, der sich als mein Bruder ausgab. Dio, die ohne vernünftigen Grund bei mir eindrang und sich wieder davonschlich. Und nun war Marius selbst gekommen! Zufall? Vielleicht, aber es verwirrte mich.
»Können wir gehen?« fragte Marius. »Ich habe alles erledigt. Oder hast du einen Grund, hierzubleiben?«
»Ich muß mein Matrix-Zertifikat in der Legation abholen«, antwortete ich. »Dann gehen wir.« Je eher ich das Hotel verließ, desto besser – sonst platzte noch halb Darkover herein, um mich an der Nase herumzuführen!
»Lew«, erkundigte sich Marius unvermittelt, »hast du eine Schußwaffe?«
Rafes Frage – und sie nervte mich. Ich ordnete meine Gedanken neu, entfernte aus ihnen den falschen Marius – Rafe – und brachte meinen Bruder unter, wo er hingehörte. »Ja«, antwortete ich kurz und ließ es dabei bewenden. »Willst du mit mir zur Legation kommen?«
»Ich möchte gern mit dir durch die Stadt gehen.« Marius sah sich in dem engen Raum um und schüttelte sich. »In diesem Käfig könnte ich nicht bleiben. Du wolltest heute nacht doch nicht etwa hier schlafen?«
Die Handelsstadt war während meiner Abwesenheit gewachsen. Sie war größer, schmutziger und überfüllter geworden. Es kam mir schon natürlicher vor, sie als Handelsstadt als bei ihrem darkovanischen Namen Thendara zu nennen. Marius ging schweigend neben mir her. Endlich fragte er: »Lew, wie ist es auf Terra?«
Die Frage hatte ich erwartet. Die Erde, Heimat der unbekannten Vorfahren, denen er so sehr ähnelte. Ich hatte mich meines terranischen Blutes wegen immer gegrämt. Er sich auch?
»Man braucht ein Menschenalter, um Terra kennenzulernen. Ich war nur drei Jahre dort. Ich habe eine Menge Wissenschaft und etwas Mathematik gelernt. Die technischen Schulen sind gut. Es gab zuviel Maschinerie, zuviel Lärm. Ich habe mich in den Bergen aufgehalten; ein Versuch, auf Meeresniveau zu leben, machte mich krank.«
»Dann hat es dir dort nicht gefallen?«
»Doch, schon. Man hat mir auf Terra sogar eine mechanische Hand verpaßt.« Ich verzog das Gesicht. »Da ist die Legation.«
Marius sagte: »Gib die Pistole lieber mir«, und ich sah ihn nur an. »Was ist los, Lew?«
»Es geht etwas sehr Komisches vor«, antwortete ich, »und ich werde allmählich argewöhnisch gegen Leute, die mich unbewaffnet haben wollen. Sogar gegen dich. Kennst du einen Mann namens Robert Kadarin?«
Dies dunkle Gesicht konnte ein Meisterstück gespielter Verständnislosigkeit sein, es enthüllte so wenig wie ein Pudding. »Ich glaube, ich habe den Namen gehört. Warum?«
»Er hat eine Tötungsabsicht gegen mich eintragen lassen.« Ich zog die Pistole kurz aus meiner Tasche. »Ich werde sie nicht benutzen. Nicht gegen ihn. Aber ich werde sie bei mir tragen.«
»Du solltest besser mich ...« Marius brach ab und zuckte die Schultern. »Ich verstehe. Vergiß, daß ich gefragt habe.«
Ich fuhr im Aufzug das HQ-Gebäude hinauf, vorbei an den Unterkünften der Raumpolizei, dem Volkszählungsbüro, den Stockwerken voll von Maschinen, Aufzeichnungen, Geschäftigkeit, dem ganzen Apparat des Imperiums. In der obersten Etage ging ich einen Flur entlang bis zu einer Tür, auf der zu lesen stand: DAN LAWTON – Legat für darkovanische Angelegenheiten.
Ich hatte Lawton kurz kennengelernt, bevor ich Darkover verließ. Seine Geschichte war ein bißchen wie meine; ein terranischer Vater, eine Mutter vom Comyn. Wir waren entfernt verwandt – ich hatte nie nachgeprüft, wie. Er war ein großer, drahtiger Rotkopf, der wie ein Darkovaner aussah und einen Sitz im Comyn-Rat hätte einnehmen können, wenn er gewollt hätte. Er wollte aber nicht. Er hatte sich für das Imperium entschieden und war einer der ranghöchsten Verbindungsleute zwischen Terranern und Darkovanern. Kein Mann, der nach dem terranischen Kodex lebt, kann ehrlich sein, doch war er ehrlicher als die meisten anderen.
Wir schüttelten uns nach terranischer Sitte die Hand – was ich verabscheue –, und ich setzte mich. Sein Lächeln war freundlich, nicht übertrieben, und er wich meinen Augen nicht aus. Es gibt nicht viele Leute, die einem Telepathen gerade in die Augen sehen können oder wollen.
Lawton schob mir die Plastikmarke über den Tisch zu. »Hier. Ich habe sie nicht gebraucht; ich suchte nur einen Vorwand, um mit Ihnen zu reden, Alton.«
Ich steckte die Marke wortlos ein.
»Sie sind auf Terra gewesen, wie ich hörte. Hat es Ihnen dort gefallen?«
»Der Planet ja. Die Menschen – nichts für ungut – nicht.«
Er lachte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bin auch weggegangen. Nur die Fußkranken bleiben. Jeder mit etwas Unternehmungsgeist oder Intelligenz zieht hinaus ins Imperium. Alton, warum haben Sie nie einen Antrag auf die Staatsbürgerschaft des Imperiums gestellt? Ihre Mutter war Terranerin – Sie hätten dadurch alles zu gewinnen und nichts zu verlieren.«
»Warum haben Sie nie Anspruch auf einen Sitz unter den Hasturs erhoben?« konterte ich.
Er nickte. »Ich verstehe.«
»Lawton, ich kämpfe nicht gegen Terra. Es gefällt mir nicht sehr, daß das Imperium hier ist, aber Darkover kämpft einfach nicht im Verband von Städten und Völkern und Planeten. Wäre ein Erdmann mein Feind, würde ich eine Tötungsabsicht eintragen lassen und ihn töten. Würde ein Dutzend Erdleute mein Haus niederbrennen oder meine Zuchtstuten stehlen, riefe ich meine Com’ii zusammen, und wir würden sie töten. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ich ein paar tausend Menschen, die mir weder etwas Gutes noch etwas Böses getan haben, vernichten möchte, nur weil sie hier sind. Das ist nicht unsere Art. Wir hassen pro Person, nicht pro Million.«
»Ich bewundere diese Einstellung, aber sie bringt Sie in Nachteil gegenüber dem Imperium. Nun, ich will Sie nicht aufhalten – es sei denn, ich kann sonst noch etwas für Sie tun.«
»Vielleicht. Kennen Sie einen Mann, der den Namen Kadarin benutzt?«
Lawton fuhr auf. »Erzählen Sie mir nicht, er sei in Thendara!«
»Sie kennen ihn?«
»Ich wünschte, es wäre nicht so! Nein, ich kenne ihn nicht persönlich, ich habe ihn nie vor Augen bekommen. Aber er taucht überall auf. In der Terranischen Zone behauptet er, Bürger von Darkover zu sein, und kann das sogar beweisen, und wie ich hörte, gibt er sich draußen als Terraner aus und beweist auch das.«
»Und?«
»Und wir können ihm seine Dreizehn Tage nicht verweigern.« Ich lachte vor mich hin. Schon mancher Terraner war verdutzt gewesen, wenn er von diesem Brauch erfuhr. Ein Ausgestoßener, ein Gesetzloser, sogar ein Mörder hat seit grauer Vorzeit das unabdingbare Recht, dreizehnmal im Jahr einen Tag in Thendara zu verbringen und legalen Tätigkeiten nachzugehen. Während dieser Zeit genießt er Immunität, vor ausgesetzt, er begeht kein Verbrechen.
»Bliebe er eine Sekunde länger, als er darf, würden wir ihn uns schnappen. Aber er ist vorsichtig. Wir können ihn nicht einmal wegen Spuckens auf den Bürgersteig festnehmen. Der einzige Ort, den er aufsucht, ist das Raumfahrer-Waisenhaus. Danach löst er sich scheinbar in Luft auf.«
»Vielleicht sind Sie ihn bald los«, sagte ich. »Verfolgen Sie mich nicht, wenn ich ihn umbringe. Er hat eine Tötungsabsicht gegen mich eintragen lassen.«
»Wenn ich nur sicher sein könnte, daß es nicht umgekehrt kommt«, lächelte Lawton.
Ich verabschiedete mich, doch als ich die Schwelle überschritt, rief er mich plötzlich zurück. Die Freundlichkeit war verschwunden; zornig kam er auf mich zu.
»Sie tragen Schmuggelware bei sich. Geben Sie sie heraus!«
Ich reichte ihm die Pistole. Natürlich war dort ein Durchleuchtungsschirm gewesen. Lawton öffnete das Magazin. Dann guckte er dumm, runzelte die Stirn und gab mir die Waffe zurück.
»Da. Nehmen Sie sie. Das wußte ich nicht.«
Ungeduldig drängte er mir die Pistole auf. »Nun nehmen Sie sie schon! Aber machen Sie, daß Sie hier wegkommen, bevor Sie jemand anders damit erwischt. Und geben Sie sie zurück. Wenn Sie einen Waffenschein wollen, werde ich versuchen, Ihnen einen zu besorgen. Bloß laufen Sie nicht mit Schmuggelware herum.« Er drückte mir die Pistole in die Hand und schob mich aus dem Büro. Auf dem Weg zum Aufzug drehte ich das Ding verwundert herum. Dann fiel mein Blick auf ein kleines Namensschild: RAFE SCOTT.
Und plötzlich war mir klar, daß ich weder Dio noch Marius um eine Erklärung bitten würde.