Читать книгу Fürstenkrone Staffel 6 – Adelsroman - Marisa Frank - Страница 10

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»Nein! Nein!!!« Roswitha Gräfin von Sternheim bäumte sich auf und krallte die Finger in unbeherrschtem Schmerz in den Arm ihres blaß und erschrocken neben ihr sitzenden Mannes.

»Roswitha…«, flüsterte der Graf und sah sie besorgt und angstvoll an. Als er sich über sie beugte, wandte sie ihm den Kopf zu. Die Wehe klang ab, und je mehr der Schmerz von ihr wich, um so haßerfüllter wurde der Ausdruck ihrer schönen, großen Augen. »Liebling…«, flüsterte Robert Sternheim und strich ihr über das schweißfeuchte Haar.

Das schöne, sogar jetzt noch klassische Gesicht der jungen Gräfin verzerrte sich, sie ließ seinen Arm los und stieß ihn von sich.

»Nie wieder will ich ein Kind! Nie wieder!« zischte sie. »Ihr müßt es ja nicht aushalten! Aber ich bin nun mal keine breithüftige Bäuerin, die ihre Kinder bekommt, wie die Hühner Eier legen!« Sie fühlte, wie die nächste Wehe nahte, auf ihrer blassen Haut zeigten sich rote Flecken, und sie begann zu schreien.

»Kann man denn nichts machen?« Der Graf sah flehend zur Hebamme und dem Arzt hin, die beide stumm neben dem Bett standen. Sie wechselten einen Blick. Dann räusperte sich der Arzt.

»Die Wehen sind noch nicht stark, Graf Sternheim – aber wenn Sie meinen, kann ich ihr etwas spritzen, eine Lumbalanästhesie…«

»Ist das gefährlich?« erkundigte sich Graf Sternheim.

»Mir ist alles egal – wenn nur die Schmerzen aufhören!« schrie Roswitha und bäumte sich wieder auf.

»Frau Gräfin – versuchen Sie, ruhig durchzuatmen!« wollte die Hebamme sie an das erinnern, was sie in der Schwangerschaftsgymnastik gelernt hatte.

»Halten Sie den Mund!« kreischte Roswitha wütend. »Sie spüren es ja nicht!«

»Sie meint es nicht so«, entschuldigte sich Graf Sternheim leise. »Die Schmerzen – sie weiß nicht, was sie sagt.«

Die Hebamme preßte die Lippen aufeinander und gab keine Antwort. So wie die Gräfin sich aufführte, das hatte sie in ihrer langen Praxis noch nie erlebt. Und was man so von ihr hörte, wußte sie recht gut, was sie tat und sagte!

Sie war für ihren Hochmut bekannt, die schöne Gräfin Roswitha Sternheim, die mit zweiundzwanzig Jahren den steinreichen, um vieles älteren Grafen Robert geheiratet hatte. Er hatte sich in ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt verliebt, ihren stolzen Gang, ihr herrliches honigblondes Haar und ihre durchsichtig blauen Augen. Er war so blind verliebt, daß er ihren Hochmut für Stolz und ihre Kälte für Zurückhaltung hielt.

Und er war einsam nach dem Unfalltod seiner ersten Frau, mit der er, obgleich die Ehe kinderlos geblieben war, sehr glücklich gelebt hatte. Es hatte lange gedauert, bis er den Schmerz über den Verlust einigermaßen überwunden hatte, und noch länger, bis er sich überwinden konnte, nochmals zu heiraten.

Aber dann traf er auf einem Adelsball die schöne Baroneß Roswitha und war vom ersten Augenblick an von ihr fasziniert. Er fürchtete, zu alt für sie zu sein mit seinen neununddreißig Jahren, aber sie lachte nur: Sie mache sich nichts aus diesen jungen, unfertigen Burschen! sagte sie. Was sie nicht sagte, war, daß ein entsprechendes Vermögen auch einen noch größeren Altersunterschied ausgleichen würde. Sie drängte auf eine baldige Hochzeit – er sollte es sich nicht überlegen können. Und Robert Sternheim, blind und verzückt, heiratete sie gerade zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung.

Sehr bald stellte er fest, daß sie mit seiner ersten Frau nichts gemeinsam hatte. Er hoffte, daß es daran lag, daß sie sofort schwanger geworden war.

Außer sich darüber hatte sie ihn beschimpft, daß er ihr nicht noch ein paar Jahre gegönnt habe, bis sie sich mit irgendwelchen Fratzen herumärgern müsse.

Er wollte nicht sehen, wie sie war, und schrieb alles ihrem Zustand zu, der bekanntermaßen den Charakter vieler Frauen veränderte. Er ertrug ihre aggressiven Launen und hoffte darauf, daß, wenn das Kind erst da wäre, sie entspannt, sanft und glücklich sein würde.

Er jedenfalls konnte es kaum erwarten, endlich ein Kind zu haben.

»Einen Erben…«, sagte Roswitha. Doch er wollte nicht nur einen Erben, er wollte Kinder.

Der Arzt hatte ihn vorgewarnt. Die junge Gräfin war sehr schmal gebaut, die Geburt würde nicht leicht werden. Trotzdem wollte Roswitha den ›Erben‹ auf Schloß Sternheim zur Welt bringen. Sie legte sich nicht zwischen irgendwelche gewöhnlichen Weiber in den Kreißsaal eines Krankenhauses.

Sternheim gab ihr in allem nach und richtete ein Zimmer im Schloß nach Angaben des Arztes ein. Nichts war ihm zu teuer. Und wenn Roswitha erst einmal sah, wie lieb so kleine Kinder waren, würde sie bestimmt auch ihre Meinung ändern und bereit sein, noch ein oder zwei Babys zu bekommen.

Jetzt nahm ihn der Arzt besorgt zur Seite.

»Es war keine gute Idee der Gräfin, zu Hause entbinden zu wollen. Es sieht nach Komplikationen aus. In der Klinik wäre man besser darauf eingestellt.«

Robert Sternheim sah ihn erschrocken an.

»Das Kind?«

»Nein, nein, keine Lebensgefahr, aber es könnte sein, daß es bei der Gräfin zu inneren Verletzungen kommt, die…«, er räusperte sich, »… unangenehme Folgen haben könnten.«

Roswitha hatte die letzten Worte mitbekommen.

»Was für Folgen?« herrschte sie den Arzt an.

»Daß Sie keine weiteren Kinder mehr haben können«, gab er ihr, verärgert über ihren Ton, der jetzt nicht mehr mit Schmerzen zu entschuldigen war, da die Anästhesie bereits wirkte, zur Antwort.

Sie lachte nur auf.

»Das ist schon in Ordnung. Nochmals mache ich das nicht durch.«

»Roswitha – wenn ich einen Krankenwagen bestelle –«

»Kommt nicht in Frage!« fuhr sie ihren Mann an. »Dann kriege ich das Baby womöglich mit Hilfe von ein paar unfähigen Sanitätern.«

»Da ist keine Gefahr. Durch die Anästhesie verzögert sich die Geburt«, erklärte der Arzt. »Außerdem würden die Hebamme und ich selbstverständlich mitfahren.«

»Nein«, sagte Roswitha. Und als alle betreten schwiegen, richtete sie sich halb auf und schrie wütend: »Nein, habe ich gesagt!« Dann ließ sie sich zurückfallen und begann, hysterisch zu weinen.

»Schon gut, Liebling«, sagte Robert Sternheim unglücklich. »Wir machen alles so, wie du es willst.«

Wieder wechselten der Arzt und die Hebamme einen Blick: Was hatte diesen ruhigen, sympathischen Mann dazu gebracht, diese Frau zu heiraten? Wenn man an die erste Gräfin dachte…

Am Abend kam das Baby. Es war ein Mädchen.

Graf Robert hielt es im Arm. In seinen Augen standen Freudentränen. So ein wunderhübsches, kleines Wesen. Der Arzt nahm ihn zur Seite.

»Ich muß Sie leider darauf aufmerksam machen, Graf: Das linke Bein des Kindes – es ist etwas kürzer. Doch vielleicht verwächst es sich noch.«

»Sie ist bezaubernd, und ich liebe sie«, war die Antwort des glücklichen Vaters. »Und bestimmt gibt es eine Möglichkeit, dies zu beheben. Und wenn nicht – es ist ja wirklich nur sehr geringfügig. Sehen Sie doch nur, Herr Doktor, was für wunderschöne, große Augen und lange Wimpern sie hat!«

Der Arzt war gerührt, und sein Mitleid mit dem Grafen wuchs.

Dieser wandte sich nun seiner Frau zu, die mit steinernem Gesicht dalag.

»Liebes, willst du nicht deine kleine Tochter sehen?«

Sie schloß für einen Moment die Augen, bevor sie mit leiser Stimme zu sprechen begann, immer lauter wurde und schließlich in einem haßerfüllten Kreischen endete, so daß ihre Stimme sich überschlug und der Graf unwillkürlich entsetzt einen Schritt zurücktrat.

»Ich will es nicht sehen! Ein Mädchen! Kein Erbe für den Namen und Besitz! Und dazu – ein Krüppel! Ein häßlicher Krüppel! Weg! Mir ekelt vor ihr! Weg!«

»Tut mir leid, Frau Gräfin«, die Hebamme war empört und dachte nicht daran, nachzugeben, »wir müssen das Kleine anlegen, damit die Milch bei Ihnen einschießt.«

Roswitha lachte höhnisch auf.

»Das können Sie sich sparen. Ich denke nicht daran, diesen Wechselbalg zu stillen. Weg, sage ich!«

Hilfesuchend sah der Graf den Arzt an. Der hob die Schultern. Um den Vater zu trösten, sagte er schließlich:

»Bis auf diesen kleinen, bedauerlichen Fehler ist es ein besonders hübsches Kind. Vielleicht, nachdem die Wöchnerinnendepression sich gelegt hat…«

»Ich habe keine Depressionen – ich will dieses verkrüppelte Kind nur nicht stillen!« schrie Roswitha.

»Was soll man tun?« fragte Sternheim verzweifelt.

»Ich kenne eine ausgezeichnete Kinderschwester, die wird sich um die Kleine kümmern. Heute kann man Gott sei Dank Kinder auch ohne Muttermilch aufziehen. In diesem Fall ist es bestimmt besser«, erklärte der Arzt und warf einen Blick voller Abneigung zur Gräfin hin.

Sternheim nickte bekümmert. Vielleicht würde ja noch alles gut werden…

*

Doch es wurde nicht gut.

Wie der Arzt befürchtet hatte, waren durch die Geburt bei Gräfin Roswitha innere Verletzungen aufgetreten, die eine weitere Schwangerschaft unmöglich machten. Der Graf versuchte sie zu beruhigen, doch sie war voller Vorwürfe gegen ihn und das kleine Mädchen. Sie beide wären schuld daran! Niemand konnte sie vom Gegenteil überzeugen. Ihrem Mann gegenüber nahm sie sich noch zusammen, schließlich hatte er das Geld. Um sie freundlicher zu stimmen, überschüttete er sie mit Geschenken und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Doch ihre Dankbarkeit und Freude über seine Großzügigkeit hielt nie lange an.

Das kleine Mädchen jedoch durfte ihr nicht einmal unter die Augen kommen. Sie haßte es und fand es widerlich und abstoßend. Oft sah sie es wochenlang überhaupt nicht. Die kleine Angelina, wie ihr Vater sie voller Zärtlichkeit genannt hatte, wuchs bei Kinderfrauen auf.

Sosehr Robert sein einziges Kind auch liebte, er wagte kaum, es zu zeigen. Nur, wenn er mit ihr allein war, küßte und streichelte er das kleine Mädchen und erzählte ihm Geschichten. Angelina betete ihren schwachen Vater an – und fürchtete ihre Mutter, wie die schönen Prinzessinnen im Märchen ihre Stiefmütter fürchteten. Im Innersten war sie fest davon überzeugt, daß Roswitha nicht ihre leibliche Mutter war!

Als sie sechs wurde, erklärte die Gräfin, nicht länger den Anblick des behinderten Kindes ertragen zu können.

»Wenn ich schon ihren unregelmäßigen Schritt höre, möchte ich wahnsinnig werden«, behauptete sie und bestand darauf, daß Angelina in eine Klosterschule kam.

Graf Robert gab nach, wie er um des lieben Friedens willen immer nachgab. Er selbst brachte Angelina zu den Schwestern. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sie hier unter Kindern aufwuchs, tröstete er sich und sie. Die Schwestern waren unvoreingenommen, während zu Hause das Personal, um sich mit der Herrin gut zu stellen, auf der armen Angelina herumhackte und ihr immer wieder zu verstehen gab, daß sie nicht nur ein Krüppel, sondern auch bloß ein Mädchen sei – kein Erbe für den armen Grafen und die arme Gräfin.

Kein Wunder, daß der Kleinen von Anfang an Minderwertigkeitskomplexe eingeimpft wurden.

Dabei war Angelina, bis auf ihr kleines Gebrechen, ein wunderschönes Kind. Sie sah aus wie Schneewittchen mit einer zarten weißen Haut, schwarzen üppigen Locken und großen veilchenblauen Augen, umrahmt von dichten, langen dunklen Wimpern. Ihr feines Gesichtchen war etwas schmal für ein Kind ihres Alters. Und sie war ernst und schüchtern.

»Das gibt sich bald«, tröstete die Mutter Oberin, die das Internat leitete. Der Graf hatte ihr vorsichtig angedeutet, daß die Mutter das Kind ablehnte. »Bei uns hast du viele Spielgefährten, und wir alle haben dich lieb.«

Angelina sah sie ungläubig an, doch als die Nonne sie in den Arm nahm und an sich drückte, stahl sich ein schüchternes, kleines Lächeln auf ihre Lippen und ihre Wangen färbten sich rosig.

Trotzdem wurde der Abschied von ihrem Vater sehr schwer. Sie vergoß bittere Tränen. Er versprach, sie einmal in der Woche anzurufen. »Und in den Ferien kommst du natürlich heim.«

*

Die ersten Wochen weinte sich Angelina jeden Abend in den Schlaf. Doch allmählich merkte sie, daß es hier wirklich fröhlich zuging. Die Schwestern waren liebevoll, und die anderen kleinen Mädchen, von den Lehrern ermahnt, lachten sie nicht wegen ihres Hinkens aus, sondern bewunderten ihre Haare und die schönen Kleider. Angelina war so dankbar dafür, daß sie alles herschenkte – bis die Schwestern Einhalt geboten.

Wirklich wurden ihre Wangen bald rund und rosig, und auch wenn nach jedem Gespräch mit ihrem Vater Tränen flossen – sie war im Grunde gerne in dem Internat. Die Ferien verbrachte sie zu Hause – zumeist verreiste Roswitha in dieser Zeit, um ihre Nerven zu schonen, wie sie dem Grafen gegenüber erklärte. Und wenn sie selbst nicht wegfahren konnte, dann sorgte sie dafür, daß sie Angelina so wenig wie nur möglich zu sehen bekam.

Der Umstand, daß diese ein auffallend schönes Kind war, bestärkte sie nur in ihrem Haß.

Angelina war eine sehr gute und unkomplizierte Schülerin. Kein Wunder, daß sie allseits beliebt war – außer auf Schloß Sternheim, das doch ihr Zuhause war.

Als sie vierzehn Jahre alt war, rief die Mutter Oberin sie zu sich. Sie sah sie liebevoll besorgt durch ihre dicke Brille an. Das Mädchen fühlte, daß sie eine schlechte Nachricht für sie hatte.

»Setz dich, Angelina«, forderte die Nonne sie in sanftem Ton auf. Sie gehorchte zögernd. »Ich muß dir etwas sehr Trauriges sagen.«

Angelinas Augen wurden groß und angsterfüllt.

»Du mußt jetzt sehr tapfer sein, Liebes. Und ich möchte dir vorher versichern, daß du hier bei uns immer eine Heimat haben wirst. Vielleicht willst du ja einmal ganz bei uns bleiben.« Sie lächelte sie an. Angelina schluckte. Sie konnte vor Angst nicht sprechen.

»Dein Vater – hatte einen Herzinfarkt – er – ist tot.«

Angelina saß wie erstarrt, dann sank sie mit einem leisen Seufzer in sich zusammen.

Angelina lag mehrere Wochen schwerkrank auf der Krankenstation des Internats. Sie weinte und jammerte in ihrem Fieberwahn, und die Schwestern erfuhren in dieser Zeit mehr über das Unglück des armen Mädchens, als sie in den Jahren zuvor erraten konnten. Sie waren erschüttert und sehr besorgt um Angelinas Zukunft.

*

Auf Schloß Sternheim ging Gräfin Roswitha ganz in der Rolle der schönen, reichen, jungen Witwe auf. Natürlich würde sie die vorgeschriebene Trauerzeit einhalten, aber dann würde sie endlich anfangen, ihr Leben zu genießen, ohne einen langweiligen, zu alten Mann an ihrer Seite.

Die Testamentseröffnung brachte allerdings eine Überraschung mit sich, mit der Roswitha nicht gerechnet hatte. Zu sicher hatte sie sich der Liebe des verstorbenen Grafen gewähnt. Dieser hatte ihr zwar eine hohe Apanage ausgesetzt und bis zur Verheiratung Angelinas das Wohnrecht im Schloß, dann stand ihr bis zu ihrem Tode das Stadtpalais zur Verfügung – aber Haupterbin würde eines Tages Angelina sein. Nach Abschluß einer für die Führung des Betriebes entsprechenden Berufsausbildung, mit frühestens fünfundzwanzig Jahren.

Roswitha war außer sich vor Wut. Dieses Kind hatte ihr nur Unglück gebracht. Was sollte sie nur tun, um sie um ihre Rechte zu betrügen? Natürlich fand sie nicht, daß es ein Betrug war, was sie vorhatte – im Gegenteil. Sie war der Ansicht, daß Robert und Angelina sie betrogen hätten. Da hatte er immer so liebevoll und freundlich getan, um sie hinter ihrem Rücken aller ihrer Rechte zu berauben…

Immer mehr steigerte sich Roswitha in diesen Haß und das ihr angetane Unrecht hinein. Und schließlich beschloß sie, einen Anwalt aufzusuchen, um sich über ihre Möglichkeiten beraten und informieren zu lassen.

*

Baron Rüdiger Herrenberg gehörte einer bekannten Juristen-Sozietät an und hatte sich, wie sein Name es empfahl, auf Familienrecht spezialisiert. Es gibt zwar viele arme Adelige, aber mindestens ebenso viele, bei denen sich eine Beratung lohnte, und die anderen kamen ohnehin nicht zu ihm, da das Honorar der Mitglieder dieser Sozietät ihre Möglichkeiten überschritt.

Erbschaftsstreite waren ihm von allem das liebste. Sehr oft waren die zerstrittenen Parteien am Ende so einer Auseinandersetzung so spinnefeind, daß sie nicht merkten, wie der Großteil ihres Streitobjektes in den Händen der Anwälte blieb. Und da gab es auch in den feinsten und reichsten Familien keine Familienbande, die eng genug gewesen wären, so einen Streit zu vermeiden.

Da stritten sich Geschwister und Eltern mit ihren Kindern, und sehr oft waren es die Mütter, die ihren Söhnen alles zuschieben wollten und darauf vergaßen, oder es nicht wissen wollten, daß ihre Töchter es eigentlich nötiger hätten, wenigstens ihren Pflichtanteil ganz ausgezahlt zu bekommen.

Baron Herrenberg hörte sich das alles an und stellte am Ende seine horrende Rechnung. Er verdiente glänzend, aber leider war er ein jüngerer Sohn, und auf dem Familiensitz residierte sein Bruder. Auch seine Schwester hatte einen Erbsohn geheiratet, nur er hatte sich, dumm und jung, wie er damals gewesen war – das war zumindest seine Ansicht – von einer zweitgeborenen Standestochter einfangen lassen, indem sie ihm ein Kind unterschob.

Er verdankte zwar diesem Umstand, daß ihm auch aus den höchsten Kreisen Klienten zuströmten, aber es hatte ihn die ganze Ehe hindurch doch gewurmt, und irgendwie hatte er es seiner Frau nie verziehen, obgleich er ja nicht weniger schuldig war als sie. Nach einer für sie alles andere als glücklichen Ehe von fast zwanzig Jahren war die Baronin gestorben. Das war vor fünf Jahren gewesen, und Herrenberg hatte sofort seine beiden ihm leider sehr ähnlich sehenden Kinder in ein Internat abgeschoben.

Leider, denn er war nicht gerade das, was man attraktiv nennt. Obgleich erst siebenundvierzig Jahre alt, war er stark übergewichtig. Er hatte krauses, gelbrübenfarbenes Haar und die oft damit einhergehende rotfleckige Haut. Seine kleinen wasserblauen Augen verbargen sich hinter einer starken Brille. Er hatte eine Knollennase und einen fleischigen Mund mit großen gelben Zähnen.

Aber – und das war das Erstaunliche! – er hatte, wenn er wollte, eine Menge Charme, und es gelang ihm immer wieder, weibliche Wesen damit einzuwickeln.

Im großen und ganzen war er mit seinem Leben zufrieden, auch wenn die Vorstellung, daß sein Sohn demnächst das Abitur machte und dann bei ihm wohnen würde, ihm wenig behagte. Na, vielleicht konnte er ihn noch zum Bund abschieben oder wenigstens an die Universität einer anderen Stadt. Britta, seine Tochter, machte erst in einem Jahr das Abitur – sie hatte im Gegensatz zu Hartmut keine ›Ehrenrunde‹ gedreht. Und er hatte bereits für sie einen Platz auf einer feudalen Töchterschule in der Schweiz gefunden, wo sie alles lernen würde, was man als Schloßherrin braucht. Denn obgleich sie nicht besonders ansehnlich war, hoffte er doch, daß sie irgendeinen armen Baron finden würde, der mit ihrem Geld sein Schloß renovieren und seinen Besitz erhalten wollte.

Für sich aber hatte Rüdiger Herrenberg noch einen ganz besonderen Traum: Er wartete auf eine schöne, reiche Witwe, möglichst kinderlos, die er mit seiner Liebe und seinen juristischen Fähigkeiten glücklich machen konnte. Die zwei, drei Damen, mit denen er in den vergangenen Jahren zu tun hatte, waren ihm entweder zu alt, nicht reich genug oder nicht schön genug – und eine war sogar schon vergeben gewesen.

Als sich nun Gräfin Roswitha Sternheim einen Termin bei ihm geben ließ, war er fest entschlossen, daß sie die zukünftige Baronin Herrenberg sein sollte. Da war zwar eine Tochter – aber was man so hörte, könnte da etwas zu machen sein.

Für den heutigen Termin hatte er sich so elegant wie nur möglich gemacht und wartete nun ungeduldig auf das Erscheinen der in ihren Kreisen für ihre Schönheit – und ihr Geld! – berühmten Gräfin.

Er sprang auf, als sich die Tür öffnete und seine Sekretärin ihm Roswitha anmeldete.

»Verehrte Gräfin!« Er ging ihr mit raschen Schritten entgegen und küßte ihr die Hand, nicht ohne dabei die brillantfunkelnden Ringe zu taxieren.

»Lieber Baron«, erwiderte Roswitha mit schmelzender Stimme, »ich wäre Ihnen viel lieber auf einem Fest begegnet. Ich habe lange mit mir gekämpft, aber ich sehe keinen anderen Ausweg.«

»Was immer ich für Sie tun kann«, versicherte er und ließ seine Brillengläser feurig funkeln. Er rückte ihr den Sessel gegenüber seinem antiken englischen Schreibtisch zurecht und setzte sich selbst hinter den Schreibtisch, auf dem dekorativ die verschiedensten Akten und Bücher lagen.

Roswitha sah mit einem Blick, wie elegant und exklusiv das Büro eingerichtet war. Ihr Armani-Hosenanzug war also genau das richtige für diesen Termin.

»Was ich Ihnen anvertraue, lieber Baron«, begann sie.

»Sie können sich auf meine absolute Verschwiegenheit verlassen, Gräfin«, unterbrach er in beschwichtigendem Ton.

Sie lächelte dankbar, mit niedergeschlagenen Augen. Dann begann sie leise ihren ›sogenannten‹ Kummer vor ihm auszubreiten.

»Mein verstorbener Mann und ich…«, sie seufzte mitleidheischend, »hatten, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, nur ein Kind. Ein Mädchen. Es…« – eindrucksvolle Pause – »war eine sehr schwere Geburt, bei der ich innere Verletzungen erlitt…«, sie schlug die Augen auf und schenkte ihm einen verzweifelten Blick, »aber das Kind – das arme Mädchen –, es kam zu Behinderungen.«

Herrenberg spitzte seine Ohren und nickte mitfühlend.

»Körperlich – und – ich kann es kaum aussprechen! – geistig.«

»Wie furchtbar«, murmelte der Baron und machte sich ein paar Notizen. Irgend etwas stimmte da nicht – er wollte die Angelegenheit überprüfen…

»Mein armer Mann – er wurde damit nicht fertig. Ich auch nicht!« Roswitha lächelte tapfer. »Aber – er weigerte sich, zuzugeben, daß Angelina – auch geistig – Sie verstehen –«

»Er wollte es nicht wahrhaben«, nickte Herrenberg. »Ich kann ihn zwar gut verstehen, aber er hat dem Kind damit keinen Gefallen getan.«

»Nicht wahr! So sehe ich das auch!« rief Roswitha, erleichtert, daß er diesbezüglich einer Meinung mit ihr war. »Und jetzt – hat er sie zu seiner Universalerbin eingesetzt.«

»Ach, um Himmels willen, Gräfin!« Herrenberg schüttelte entsetzt den Kopf.

Da war etwas ganz unglaublich faul.

»Nach einem Studium, das sie befähigt, die Betriebe meines lieben, verstorbenen Robert weiterzuführen, soll sie alles übernehmen: Schloß, Gut, Wälder, Industriebeteiligungen. Für mich bleibt eine Apanage, ein begrenztes Wohnrecht, vorläufig noch auf Sternheim, später in unserem Stadtpalais. Ich meine, sobald Angelina übernimmt.«

»Tz-tz-tz!« machte Herrenberg und schüttelte wieder erschüttert den Kopf.

»Selbstverständlich möchte ich, daß es Angelina an nichts fehlt, aber wie kann sie diesen Besitz verwalten? Führen? Und aus mir unverständlichen Gründen haßt sie mich. Was, um Gottes willen, lieber Baron Herrenberg, raten Sie mir?«

Tja, einfach war das nicht. Herrenberg dachte nach und klopfte mit seinem goldenen Füller nachdenklich auf die Lederplatte seines eleganten Schreibtisches.

»Hm, haben Sie eine entsprechende Ausbildung, Gräfin?«

»Du liebe Zeit, nein! Ich war ja noch ein halbes Kind, als ich heiratete – viel zu früh«, setzte sie kaum hörbar hinzu.

Er nickte wieder mitfühlend. Man glaubte es ihr gerne – solange man nicht den eiskalten, harten Ausdruck ihrer Augen sah. Aber ihm gefielen solche Frauen. Keine Hausmütterchen, sondern solche, die ihre Rechte zu wahren wußten, im Leben ihren Mann standen.

»Ich werde darüber nachdenken, wie wir das am besten anfassen«, sagte er und betrachtete sie prüfend. »Wir brauchen für die – hm – geistige Schwäche Ihrer Tochter mindestens ein ärztliches Attest. Und Sie müssen beweisen, daß Ihnen Helfer zur Seite stehen, die imstande sind, ein Vermögen dieser Größe zugunsten Ihrer Tochter und selbstverständlich auch zu Ihren Gunsten zu verwalten.«

»Ich verstehe«, hauchte Roswitha und sah ihm in seine Brillengläser, die, spiegelnd, den Ausdruck seiner Augen verbargen. »Dürfte ich auf Ihren Rat hoffen?«

»Nichts lieber, als einer so bezaubernden Frau zur Seite zu stehen!« versicherte Herrenberg schwungvoll. »Haben Sie Ihre Unterlagen dabei? Das Testament, ärztliche Bescheinigungen…«

»Dummerweise gibt es keine ärztlichen Atteste, da, wie gesagt, mein armer Robert sich dagegen sträubte, das Unglück zu akzeptieren.«

»Aha«, murmelte Herrenberg und überlegte fieberhaft, wie er es am geschicktesten anstellen könnte, um das Ziel der schönen, habgierigen Gräfin zu seinem eigenen zu machen.

»Wo ist Ihre Tochter jetzt?«

Ein tiefer Seufzer.

»Mein Mann gab sie in ein Internat.« Sie nannte den Namen der bekannten Schule. »Dort ist sie immer noch.«

»Und wie kommt sie dort zurecht?«

Gräfin Roswitha zuckte die Achseln.

»Solange sie sechs, sieben war, ging es einigermaßen. Seit sie in die Pubertät kam – vor zwei Jahren – es fiel mit dem Tod meines Mannes zusammen…« Wieder hob sie die Schultern.

»Ich verstehe«, murmelte der Baron. »Würden die Schwestern…?«

»Niemals!« unterbrach Roswitha ihn scharf. »Die hoffen darauf, daß sie dem Orden beitritt, um bei der Gelegenheit das gesamte Vermögen einzustreichen.«

»Jaja, die Mutter Kirche hat einen großen Magen!« zitierte Herrenberg.

Die Gräfin lachte ungeduldig.

»Selbstverständlich bin ich eine gläubige Christin, aber ich gestehe freimütig, daß ich trotzdem etwas vom Leben haben will. Mehr wie Princess Diana – weniger wie Mutter Theresa«, schloß sie mit leicht spöttischem Unterton.

»Es wäre auch schade, wenn eine schöne Frau wie Sie sich restlos aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen würde«, fand der Baron. Roswitha schenkte ihm ein geschmeicheltes Lächeln. Herrenberg sah auf seine Cartier-Armbanduhr. »Ich muß meine Mittagspause etwas vorverlegen, da ich später einen wichtigen Termin habe. Würden Sie mir das Vergnügen bereiten, mit mir zusammen zu essen? Wir können uns dann noch weiter unterhalten. Das Wichtigste habe ich mir bereits notiert. Aber vielleicht noch einige Details, die es mir leichter machen, über den Gesundheitszustand Ihrer Tochter Erkundigungen einzuziehen.«

»Gerne.« Roswitha schenkte ihm einen betörenden Blick, und er ergriff wieder ihre Hand und küßte sie.

»Danke.«

Beiden war klar, daß es kein rein geschäftliches Gespräch werden würde.

*

Die Mutter Oberin empfing Gräfin Roswitha Sternheim und ihren Begleiter, Rechtsanwalt Rüdiger Baron Herrenberg, mit kühler Freundlichkeit. Es war ihr nicht entgangen, genau wie auch sonst niemandem, daß seit dem Tode von Angelinas Vater sie während der Ferien kein einziges Mal nach Hause gedurft hatte. Das waren jetzt fast zwei Jahre. Die Oberin hatte das Mädchen daraufhin in befreundete Klöster im Ausland geschickt – nach Italien, Frankreich und Irland –, um Angelina die Möglichkeit zu geben, ihre sprachliche Begabung zu fördern. Jetzt war sie keineswegs erstaunt, als die Gräfin erklärte, Angelina aus der Schule nehmen zu wollen. Trotzdem versuchte sie alles, um diese unbegreifliche Mutter umzustimmen.

»Angelina ist eine unserer begabtesten Schülerinnen. Besonders in Sprachen ist sie ganz hervorragend. Auch ihre Aufsätze gehen weit über das hinaus, was man sonst von einem sechzehnjährigen Mädchen erwarten kann.«

»Als Krüppel hat sie ja auch wohl wenig Ablenkung«, bemerkte Roswitha kalt.

»Krüppel?« Die Oberin war empört. »Dieses geringfügige Hinken? Sie kann sogar an verschiedenen sportlichen Übungen teilnehmen. Reiten, Schwimmen…«

»Behinderten-Reiten«, sagte Roswitha erklärend zu ihrem Begleiter.

»Keineswegs!« rief die Nonne, nunmehr schon zornig.

»Verehrte Frau Oberin«, mischte sich nun Herrenberg in das Gespräch, »die Gräfin ist Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich so für Angelina einsetzen, aber sie glaubt doch, daß ein so schwer belastetes Mädchen am besten bei seiner Mutter aufgehoben ist.«

»Ich bitte Sie! So kurz vor dem Abitur? Gerade weil sie diese kleine Behinderung hat, sollte man sie doch fördern, wo es nur geht. Zum Beispiel ihr ausgezeichnetes Klavierspiel.«

»Man könnte wirklich denken, Sie wollen das Mädchen für Ihren Orden gewinnen«, sagte Herrenberg mit einem bösen Lächeln.

Die Oberin stutzte. Worauf wollten die beiden hinaus?

»Das Mädchen, das behinderte Mädchen«, betonte die Gräfin. »Oder das beachtliche Vermögen, das sie einmal zu erwarten hat.«

Die Oberin wurde blaß vor Zorn. Sie stand auf.

»Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen. Ich werde Sorge tragen, daß Angelina am Ende des Schuljahres heimgeschickt wird.«

»Es sind doch nur mehr ein paar Wochen«, sagte Herrenberg mit falscher Freundlichkeit. »Könnten wir das arme Ding nicht gleich heute mitnehmen?«

»Sie muß erst packen.« Die Oberin wollte Zeit gewinnen.

»Wir warten gern. Sie haben ja einen wunderschönen Garten, in dem wir inzwischen ein wenig spazierengehen können.« Der Baron war ganz Liebenswürdigkeit.

Er verabschiedete sich, und Roswitha streckte der Oberin gnädig die Hand hin, die diese zu übersehen vorgab, indem sie sich mit ihren auf dem Schreibtisch liegenden Papieren beschäftigte.

Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, ließ sie Angelina zu sich rufen.

Als das Mädchen in der Tür stand, mußte die Oberin unwillkürlich an Schneewittchen und ihre böse Stiefmutter denken.

Aber die Gräfin war ja die leibliche Mutter des unglücklichen Geschöpfes.

»Komm herein«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. Angelina sah sie ängstlich an. Sie hatte von jemandem gehört, daß ihre Mutter in Begleitung eines Herren gekommen sei. Die Oberin nahm ihre Hand und streichelte sie.

»Mein liebes Kind, so leid es mir tut – wir müssen uns trennen.«

»Bitte nein!« rief Angelina erschrocken.

»Deine Mutter war eben bei mir und hat erklärt, daß sie dich noch heute mitnehmen will.«

»Aber mitten im Schuljahr! Was soll ich da auf einer anderen Schule? Und dazu so kurz vor dem Abitur. Ach, Mutter Oberin, mein Vater wäre damit bestimmt nicht einverstanden.«

»Ich weiß, aber ich kann nichts machen. Du bist erst sechzehn. Wenn du achtzehn wärest, aber so… Du kannst natürlich zum Vormundschaftsgericht gehen…«

Angelinas dunkelblaue Augen wurden schwarz vor Schrecken.

»Nein, Mutter Oberin, das kann ich nicht. Der Name meines Vaters – was würden die Leute sagen?« Sie sah sie bittend an. »Können Sie mir denn nicht helfen?«

»Ich habe es versucht«, erwiderte die Nonne traurig. »Aber deine Mutter meinte, ich wolle nur dein Vermögen für den Orden gewinnen.«

»Oh, mein Gott«, flüsterte Angelina. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht, um ihre aufsteigenden Tränen zu verbergen. »Ich habe solche Angst. Jetzt, wo Papa nicht mehr da ist.«

Die Oberin nahm sie in die Arme und streichelte ihr glänzend schwarzes Haar. Sie hatte selbst Mühe, die Tränen zu unterdrücken. »Es wird nicht so schlimm«, behauptete sie wider besseres Wissen, um Angelina den Abschied nicht noch schwerer zu machen. »Und vergiß nicht: Wenn du achtzehn bist, kannst du selbst über dein Leben bestimmen. Für dich ist jederzeit hier an der Schule ein Platz frei. Du machst das Abitur dann einfach zwei Jahre später. Andere bleiben zweimal sitzen – das kommt dann auf dasselbe heraus«, versuchte sie zu scherzen.

»Ja«, sagte Angelina leise und begann erneut zu weinen. »Darf ich Ihnen schreiben?«

»Ich bitte dich darum«, erwiderte die Oberin. Dann nahm sie das Mädchen nochmals fest in die Arme. »Dein Zeugnis bekommst du nachgeschickt«, versprach sie und nickte aufmunternd. »Du bist wieder Klassenbeste. Ich schicke dir auch den Preis, den du für deine guten Leistungen erhältst.«

»Danke«, flüsterte Angelina unter Schluchzen, knickste und küßte der Oberin die Hand, und diese machte ihr ein Kreuzzeichen auf die Stirn.

»Gott sei mit dir«, sagte sie und meinte es so ernst wie kaum einmal.

*

Josef Buchner beugte sich über die schlanke gelborangefarbene Rosenknospe und sog ihren betörenden Duft ein.

»Guten Morgen«, sagte er leise. »Wie schön du bist. Und was für einen herrlichen Duft du verströmst.« Dann ging er weiter, ein beinahe zärtliches Lächeln auf seinem von Wind und Wetter zerfurchten hageren Gesicht. Seit über vierzig Jahren arbeitete er als Gärtner auf Schloß Sternheim. Anfangs als Lehrjunge, inzwischen hatte er die Aufsicht über vier ständige Gärtnergesellen. Er war ein kleiner, hagerer Mann, der älter aussah, als er war. Seine Hände waren von der Gartenarbeit grob und rissig geworden, und leider viel zu oft plagte ihn das Rheuma. Aber er war glücklich und zufrieden und deshalb von gleichbleibender Freundlichkeit, außer, man kam seinen Blumen zu nahe.

Josef Buchner war unverheiratet und liebte alle Blumen, als wären sie seine Kinder, wie seine Untergebenen halb spöttisch, halb anerkennend bemerkten. Er sprach auch mit ihnen, weil er der festen Überzeugung war, sie würden schöner blühen, wenn man sie bat oder lobte oder ihre Schönheit bewunderte. Und wenn man die blühende Pracht im Schloßpark betrachtete, so glaubte man gerne daran, daß dies zutraf.

Aber wenn die Blumen, die Tulpen und Narzissen, die Maiglöckchen und Margeriten, die Dahlien und Astern, Rittersporn und Eisenhut, Ranunkeln und Glyzinien, Kapuzinerkresse und Stiefmütterchen und wie sie alle heißen mochten, die von Frühling bis Herbst in den Rabatten des Parks blühten und dufteten, seine Kinder waren – die Rosen liebte er über alles, sie waren seine Geliebten! Die Strauchrosen und Polyantha und vor allem die herrlichen, duftenden Edelrosen.

Die Menschen teilte Buchner in zwei Kategorien: Solche, die Blumen liebten und solche, die kein aufrichtiges Verhältnis zu ihnen hatten. Letztere mochte er nicht.

Zu letzteren gehörte Gräfin Roswitha Sternheim, seit einigen Wochen Baronin Herrenberg. Sie legte zwar immer größten Wert darauf, daß in sämtlichen Zimmern prächtige, dekorative Sträuße standen, aber keineswegs, weil sie Blumen liebte, sondern nur, weil es eben sich so gehörte. Am liebsten hätte Buchner ihr lauter künstliche Blumen verpaßt. Aber sogar im Winter gab es in den Glashäusern der gräflichen Gärtnerei die schönsten exotischen Blüten.

Tja, diese Hochzeit! Buchner schüttelte den Kopf, wenn er nur daran dachte. Man konnte nur hoffen, daß der verstorbene Herr Graf auch drüben in der anderen Welt nichts davon mitbekommen hatte. Obgleich man dort wohl nichts mehr so tragisch nahm, was alles hier auf der Welt passierte.

Die arme Komteß! Und wie eklig alle zu ihr waren – dabei war sie das liebenswürdigste Geschöpf, das ihm je begegnet war und dazu so schön wie – wie eine Rose. Eine Edelrose! Er nickte und lächelte. Dann furchte sich seine Stirn. Ob das der Grund war? Oder einer der Gründe? Schön war die Frau Gräfin, die jetzige Baronin, auch, aber von einer harten, kalten Schönheit. Nein, wenn jemand so kalt aussah, konnte man ihn – so war zumindest Buchners Ansicht – keinesfalls als wirklich schön bezeichnen.

Alles, was Rang und Namen hatte, war zu der Hochzeit erschienen, es war das gewesen, was man so einen ›großen Auftrieb‹ nennt.

Nur die Tochter des Hauses, Komteß Angelina, hatte man nicht dabei haben wollen. Ihre Mutter hatte ihr erlaubt, an diesem Tag einen Besuch in ihrer ehemaligen Schule zu machen. Das erste und einzige Mal war das gewesen. So eine Hexe!

Und seit der Hochzeit redeten alle davon, daß die Komteß nicht nur ein zu kurzes Bein habe, daß auch ihr Verstand zu kurz gekommen sei. So ein Unsinn! Jeder, der sie nur flüchtig kannte, mußte sehen, daß sie sogar besonders klug war. Wenn er nur daran dachte, wie sie sich für seine Blumen interessierte, besonders für seine Lieblinge – die Rosen! Wie geschickt sie war und mit wieviel Geschmack sie es verstand, die Sträuße und Tischdekorationen zu binden und zu stecken. Beinahe besser noch als er. Natürlich durfte ihre Mutter nichts davon erfahren, daß er sie in Blumenbinden und Floristik im Allgemeinen unterwies. Ihr lag offensichtlich daran, sie als geistig behindert hinzustellen – genau wie diesem widerlichen Kerl, der sich nicht geschämt hat, seine eigenen, mißratenen Kinder zur Hochzeit einzuladen und Angelina wegzuschicken. Bestimmt ging es um Geld.

Wahrscheinlich war etwas im Testament des verstorbenen Grafen, das ihnen nicht behagte. Arme Komteß! So, wie man sie vor aller Welt absonderte und ausrichtete, würde ihr niemand zur Seite stehen.

Damit hatte Buchner recht. Sogar jene, die an Roswitha, jetzige Baronin Herrenberg, eine Menge auszusetzen hatten, kamen nicht auf den Gedanken, daß sie ihr eigen Fleisch und Blut als geistig behindert hinstellen könnte, wenn es nicht wirklich zutraf.

»Ein Glück, daß der arme Robert das nicht mehr miterlebt hat, daß sein einziges Kind – hm – krank ist«, pflegten sie zu sagen und hatten vollstes Verständnis dafür, daß Roswitha den Betrieb aus Sorge um sein Weiterbestehen mit Hilfe des schlauen Rüdiger Herrenberg selbst verwalten wollte.

Es war noch etwas vorgefallen, was die sich so einigen Neuvermählten darin bestärkte, daß man Angelina auf keinen Fall in die Gesellschaft einführen sollte. Etwas, wovon Buchner nichts ahnte.

Zurück aus dem Internat hatte sie ihrer Mutter, in der Hoffnung, ihr damit eine Freude zu machen und vielleicht zu erreichen, daß sie es sich doch noch anders überlegte, ihr hervorragendes Zeugnis vorgelegt und das Buch gezeigt, das sie als Preis erhalten hatte.

Ihre Mutter hatte mit angewidertem Gesicht ihr beides aus der Hand genommen und an den neben ihr am Frühstückstisch sitzenden Baron weitergereicht – Angelina aß allein auf ihrem Zimmer –. Der Baron war etwas beherrschter und vielleicht auch klüger.

»Sehr schön«, sagte er, »wirklich sehr schön, dieses Zeugnis.«

»Danke«, sagte Angelina leise, und da nichts weiter kam, keine Aufforderung, sich zu ihnen zu setzen, nahm sie Zeugnis und Buch und verließ das Zimmer.

Eine Weile schwiegen die beiden, dann meinte Herrenberg:

»Du mußt dich ein wenig zusammennehmen, meine Schöne.« Roswitha verzog verärgert das Gesicht. »Doch, doch! Ich fürchte nämlich, daß wir in einem Gerichtsverfahren Angelina keineswegs als geistig behindert hinstellen können.« Und als sie auffahren wollte: »Nein, nein, meine Liebe, wir müssen es anders machen. Sozusagen mit ihr im Guten auseinandergehen.«

»Und wie soll das geschehen?« Roswitha konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß jemand freiwillig auf solche Reichtümer verzichtete.

»Inwieweit ist denn Angelina überhaupt eingeweiht, was die Höhe des Vermögens betrifft? Weiß sie überhaupt, daß außer dem Schloß und dem Gutsbetrieb noch anderer Besitz vorhanden ist?«

Roswithas Augen leuchteten auf.

»Ich glaube nicht. Aber das wäre herauszubringen. Oh, das ist eine großartige Sache. Dann erzählen wir ihr, wie schlecht die Landwirtschaft dasteht – davon hat sie sicher schon gehört –, und daß wir den Betrieb samt dem Schloß verkaufen müssen, wenn nicht alles in erfahrene Hände kommt. Worüber ihr Vater sehr unglücklich wäre.« Sie lachte, erleichtert, endlich d i e Lösung gefunden zu haben.

»Und wir können uns leisten, den Besitz zu erhalten, weil ich, wenn meine Kinder als Erben eingesetzt werden, großzügig mein Vermögen hineinstecke«, setzte Herrenberg noch drauf. Als er das mißtrauische Gesicht und Schweigen seiner Frau bemerkte, lachte er: »Keine Sorge, meine Schöne, du bleibst Eigentümerin. Nur als Nacherben.«

»Ich verstehe.« Roswitha atmete auf, war aber doch entschlossen, sich noch anderweitig beraten zu lassen, bevor sie irgend etwas unterschrieb.

Da Angelina, um verzichten zu können, erst volljährig sein mußte, bereitete Herrenberg zwar alles vor, sprach mit seiner Stieftochter allerdings nicht darüber. Er und Roswitha sorgten nur dafür, daß sie so gut wie mit niemandem zusammenkam. Nachdem man überall verbreitet hatte, daß die arme Tochter des armen Robert nicht normal sei, wurde sie auch nicht mehr zu den Festen eingeladen, die der Adel für seine Kinder zu geben pflegte.

Angelina vermutete, daß dies wegen ihres Gebrechens wäre, weil sie eben ein häßlicher Krüppel war. Und sie zog sich freiwillig noch mehr zurück und wurde immer schüchterner und unsicherer. Der einzige Mensch, bei dem sie ihre Hemmungen vergaß, war der alte Gärtner.

Buchner freute sich über ihre Besuche und forderte sie auf, so oft zu kommen, wie sie nur Zeit habe. Angelina hatte sehr viel Zeit, da ihre Mutter sie auf keine Schule schickte und einfach sich selbst überließ. Sie arbeitete zwar weiter an ihren Sprachkenntnissen, indem sie fremdsprachige Bücher las, aber welcher junge Mensch mochte schon immer lesen?

Das Reiten war ihr von ihrer Mutter untersagt worden, als zu gefährlich. So blieb ihr an körperlicher Ertüchtigung nur das Schwimmen im Pool, der sich im rückwärtigen Teil des Parks befand – vorausgesetzt, das Wetter war schön und niemand sonst hatte Interesse.

Manchmal glaubte Angelina, sie träume, denn es konnte doch einfach nicht wahr sein, daß es niemanden auf der ganzen Welt gab, der sie liebhatte oder wenigstens akzeptierte – Herrn Buchner ausgenommen.

Aber so gern sie den alten Mann mochte, er war kein Ersatz für Vater und Mutter. Sie hatte auch immer irgendwie das Empfinden, ihm nicht alles anvertrauen zu können. Nicht, weil er darüber reden würde, sondern weil sie nicht wollte, daß auf ihren geliebten toten Vater auch nur der leiseste Schatten fiel. Und vielleicht auch, weil sie Angst hatte, er könnte ihr etwas sagen, was sie lieber gar nicht wußte.

So sprach sie mit ihm nur über seine Blumen und lernte begierig alles, was man für ihre Pflege wissen mußte. Besonders interessierte sie sich natürlich für die Rosen, die Buchner so sehr liebte.

*

Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag riefen Roswitha und Rüdiger Herrenberg Angelina zu sich in das ehemalige Arbeitszimmer ihres Vaters, in welchem nun der Baron thronte. Es tat Angelina weh zu sehen, wie er in dem Sessel ihres Vaters saß, und sie senkte den Blick, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen.

»Mein liebes Kind«, begann ihre Mutter, und Angelina sah erschrocken auf. So hatte sie sie noch nie genannt. Die Baronin lächelte verkrampft. »Du bist nun bald volljährig, und deshalb wollen wir dich in alles Geschäftliche einweihen.«

»Ich verstehe nichts davon«, murmelte Angelina.

»Nun, was du nicht verstehst, werden wir dir gerne erklären«, sagte Herrenberg mit falscher Freundlichkeit. »Ich habe hier alle Unterlagen vorbereitet.«

Angelina nickte nur.

»Dein armer Vater hat in seinem Testament festgelegt, daß, wenn du eine landwirtschaftliche Ausbildung abgeschlossen hast, du hier alles übernehmen sollst. Er wollte nicht wahrhaben, daß du leider – verhindert bist, ein körperlich so anstrengendes Studium zu absolvieren.« Angelina wollte etwas sagen, doch Herrenberg bat sie, ihm zuzuhören, dann könne sie sich gerne dazu äußern. »Leider hat dein Vater auch nicht übersehen, wie schlecht die Landwirtschaft dasteht. Wahrscheinlich wollte er es einfach nicht wahrhaben.« Herrenberg seufzte, um sein Verständnis für die Lage des verstorbenen Grafen auszudrücken. Er schob Angelina einige Unterlagen zu. »Bitte, schau es dir selbst an. Die Einkünfte aus der Landwirtschaft decken bei weitem nicht die Unkosten des Betriebes: Löhne, Anschaffung neuer Maschinen und die Erhaltung des Schlosses deiner Vorfahren.«

»Mein Gott, ich ahnte nichts davon«, stieß Angelina entsetzt hervor. »Was kann man denn nur tun?«

Ihre Mutter und ihr Stiefvater wechselten einen zufriedenen Blick.

Ausgezeichnet! Sie wußte offensichtlich nichts von dem großen Waldbesitz und den lukrativen Industriebeteiligungen, die das aufwendige Leben trotz der negativen Lage der Land- und Forstwirtschaft leicht ermöglichten.

»Tja, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder, du entschließt dich zu verkaufen…«

»O nein! Nein! Das könnte ich nie! Papa würde das nicht wollen!« rief Angelina erschrocken.

»Das denke ich auch«, pflichtete ihre Mutter ihr lächelnd bei.

»Oder«, fuhr Herrenberg fort, »du verzichtest darauf, alles selbst zu leiten, und gibst es in die Hände eines erfahrenen Mannes, der zudem gewillt ist, eine Menge Geld zu investieren, um alles zu erhalten.«

»Ja, natürlich, das ist eine gute Idee. Nur wer wäre dazu bereit?«

»Zum Beispiel ich!« erwiderte Herrenberg mit falschem Lächeln.

Angelina sah ihre Mutter an. Die nickte ihr aufmunternd zu, so freundlich wie noch nie.

»Und was muß ich tun?«

»Oh, das ist ganz einfach. Wir werden dich großzügig abfinden, und du verzichtest auf dein Erbe zugunsten deiner Mutter, meiner Frau. Dann werde ich mein Vermögen und meinen nicht unerheblichen Verdienst dahingehend verwenden, daß alles hier erhalten wird und so bleibt, wie du es jetzt siehst.«

»Das wäre schön«, meinte Angelina ahnungslos, »aber was soll ich mit der Abfindung machen?«

Wieder wechselten die beiden Herrenbergs einen zufriedenen Blick.

»Wir haben dein Interesse für Blumen entdeckt«, sagte ihre Mutter nun wieder sehr freundlich. »Wir kaufen für dich ein nettes, kleines Geschäft in der Stadt. Vielleicht findet sich etwas mit einer kleinen Wohnung darüber. Würde dir das nicht Spaß machen?«

»O ja, doch, sehr«, sagte Angelina schnell. »Und ich kann ja doch immer wieder herauskommen und euch besuchen.«

Roswithas Gesicht verzog sich, doch bevor sie ungeduldig reagieren konnte, warf der Baron ein: »Das ist doch selbstverständlich. Du bekommst auch die Möbel mit, die die erste Frau deines Vaters mit in die Ehe gebracht hat.«

»O danke«, sagte Angelina wieder, beeindruckt von der vermeintlichen Großzügigkeit. Sie hatte keine Ahnung, daß ihr die gesamte Mitgift der ersten Gräfin Sternheim bereits zu Lebzeiten ihres Vaters überschrieben worden war – lange, bevor er den Kopf über der schönen Roswitha verlor.

»Dann sind wir uns ja alle einig«, stellte Herrenberg fest. »Ich werde dann mit dem Notar einen Termin ausmachen, in dem alles ordnungsgemäß festgelegt wird, und jetzt fahren wir zusammen in die Stadt, und wir zeigen dir das Geschäft, das wir uns für dich dachten. Wenn es dir gefällt, wird es sofort gekauft.«

»Ich danke euch so sehr«, sagte Angelina wieder, reichte Herrenberg die Hand und küßte die ihrer Mutter.

»Zieh dir etwas Hübsches an«, sagte die nur, mühsam ihr Lachen verkneifend.

Angelina nickte strahlend. Sobald sie den Raum verlassen hatte, lachte Roswitha schallend los.

»Ich glaube, sie ist wirklich nicht normal.«

Herrenberg stimmte in ihr Gelächter mit ein. »Stimmt! Ihre Gutgläubigkeit ist eigentlich nur mit Dummheit zu bezeichnen.«

*

Anfangs hatte Angelina geglaubt, die Gefühle ihrer Mutter ihr gegenüber hätten sich verändert, nun, da sie einverstanden war zu verzichten, um Schloß und Gutsbetrieb zu retten. Doch kaum hatte sie die notariell beglaubigte Unterschrift geleistet, war ihre Mutter wieder kalt und abweisend wie eh und je. Selbst einem gutgläubigen Menschen wie Angelina wurde es klar, daß man sie nur loswerden wollte. Wie weit die betrügerischen Machenschaften allerdings gingen, war einem aufrichtigen Menschen wie ihr einfach nicht vorstellbar – was keineswegs mit Dummheit zu tun hatte, wie die Herrenbergs meinten.

Angelina erzählte Josef Buchner, daß sie demnächst in die Stadt ziehen würde.

»Man hat mich abgefunden«, sagte sie. »Um den Betrieb zu erhalten, habe ich eingewilligt. Sicher ist es besser, wenn ich weggehe, wo mich ohnehin niemand liebt.«

»Aber Komteß«, protestierte er, »was ist mit mir und meinen Blumen?«

»Ich werde Sie vermissen. Und vielleicht komme ich auch manchmal heraus, um mir Ihren Rat zu holen, denn…«, und jetzt strahlten ihre wunderschönen Augen wie zwei Sterne, »ich bin Eigentümerin eines Blumengeschäftes.«

Buchner schlug erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen.

»Komteß, um Himmels willen! Wie wollen Sie das führen? Sie haben in geschäftlichen Dingen doch keinerlei Erfahrung.«

Angelina sah den alten Mann mit einem unsicheren Lächeln an.

»Glauben Sie, daß es so schwer ist? Sie sagten doch immer, daß niemand so geschickt Sträuße bindet wie ich und…«

»Liebes Kind«, Buchner verwünschte im stillen die Baronin, der offenbar nur daran gelegen war, ihre Tochter loszuwerden und das Vermögen in ihre Hände zu bekommen.

»Sie haben doch keine Ahnung von Preisen, Einkauf und Verkauf, Verhandlungen mit den Blumenlieferanten, Buchführung und was es sonst noch alles gibt.«

»Aber das kann man doch lernen«, meinte Angelina.

»Wieviel Zeit bleibt Ihnen denn, Komteß?«

»Nächsten Monat ziehe ich in die kleine Wohnung über dem Geschäft«, erwiderte sie etwas unglücklich, weil der einzige Mensch, der immer freundlich zu ihr gewesen war, ihre Idee offensichtlich nicht so gut fand, wie ihr Stiefvater und auch ihre Mutter ihr eingeredet hatten.

Josef Buchner dachte einen Moment nach. Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, lachte und erklärte:

»Wissen Sie was, Komteß? Ich komme mit Ihnen mit.«

»Aber ob ich mir gleich einen Angestellten leisten kann? Sie verdienen doch hier gut, oder?«

»Ich gehe in Rente und Sie brauchen mir gar nichts zu zahlen. Wenn das Geschäft sich einmal trägt, können wir noch mal darüber reden. Was mein Rheuma angeht, wollte der Doktor mich ohnehin schon lange krankschreiben. Nun, jetzt darf er.« Er lachte wieder.

»Bitte, Komteß, ich wäre Ihnen wirklich dankbar. Da könnte ich nämlich weiterhin mit Blumen arbeiten, ohne daß ich meine alten Knochen zu sehr belasten müßte.«

»Es ist Ihr Ernst, Herr Buchner?« fragte sie ungläubig, und als er nickte, fiel sie ihm mit einem Jubelschrei um den Hals. »Ach, was bin ich froh. Eigentlich hatte ich nämlich große Angst, so allein in fremder Umgebung.«

»Na«, schmunzelte er gerührt, »dann ist ja uns beiden geholfen. Aber, Komteß, sprechen Sie mit niemandem darüber. Es ist besser.«

Sie nickte, wieder ein bißchen traurig. Mit wem sollte sie schon über ihre persönlichen Dinge reden?

*

Nachdem sich Angelina in ihrer hübschen, kleinen Wohnung eingerichtet hatte, überlegte sie, wie und wann sie ihr Geschäft eröffnen sollte. Und sie mußte ehrlich zugeben, daß sie auch nicht die leiseste Idee hatte.

Josef Buchner hatte nicht gleichzeitig mit ihr sein Gärtnerhäuschen im Schloßpark von Sternheim verlassen. Man war nicht eben begeistert von der Kündigung und versuchte sogar, ihn mit einer Gehaltserhöhung zu halten. Aber er hatte keine Lust, weiter dort zu bleiben, und ließ sich von seinem Arzt krankschreiben.

»Endlich werden Sie vernünftig«, meinte der zufrieden. »Wenn Sie früher auf mich gehört hätten.«

Buchner ließ den Doktor reden. Er hatte seine Gründe gehabt, weswegen er nicht früher in Rente ging. Ein Leben ohne Blumen war ihm einfach nicht vorstellbar und schon gar nicht lebenswert erschienen. Nun bot sich ihm die Gelegenheit, noch weiter mit Blumen zu arbeiten und zu leben und außerdem dem einzigen menschlichen Wesen, das ihm am Herzen lag, zur Seite zu stehen. Er war sicher, daß diese Aufgabe die beste Kur für seine Leiden war.

Angelina ging gerade zum dritten Mal durch ihre Wohnung und stellte fest, daß sie wirklich gemütlich und hübsch geworden war und daß die Möbel der ersten Frau ihres Vaters sie sogar ein wenig elegant machten, als es an der Tür läutete.

Wer könnte sie besuchen? Bestimmt war es ein Irrtum. Der Hausbesitzer hatte ihr zwar geraten, die Tür nie zu öffnen, ohne vorher die Kette ihres Sicherheitsschlosses vorzuhängen, aber sie war so froh über diese kleine Unterbrechung ihrer Einsamkeit und freute sich so darauf, eine menschliche Stimme zu hören – selbst, wenn man sie nur nach jemand anderem fragte –, daß sie es vergaß.

Um so entzückter war sie, als niemand anderer als Josef Buchner vor der Tür stand. Er hielt ihr einen großen Rosenstrauß entgegen.

»Von zu Hause«, sagte er.

»Ach«, Angelina hatte plötzlich Tränen in den Augen, »zu Hause! Wo ist das?« Und nun weinte sie wirklich und verbarg hastig ihr Gesicht in der duftenden Pracht.

»Nanana«, murmelte Buchner und räusperte sich gerührt und mitleidig. »Da komme ich ja eben zurecht. Darf ich eintreten?«

»Natürlich, Herr Buchner. Ich bin ja so froh, daß jemand kommt, mich zu besuchen. Ich – ach – ich bin eine unmögliche Gastgeberin. Bleiben Sie doch bitte zum Tee. Allein schmeckt mir das Essen gar nicht.«

Josef Buchner bewunderte, wie hübsch und geschmackvoll sie es sich eingerichtet hatte.

»Nur Blumen fehlen bisher noch«, sagte Angelina und lief strahlend in die Küche, wo sie Teewasser aufsetzte und eine passende Vase heraussuchte. »Wie schön sie sind. Und wie sie duften. Vielen, vielen Dank.«

»Wollen Sie mich nicht fragen, Komteß, wann ich bei Ihnen anfangen kann?« erkundigte sich Buchner nun mit einem verschmitzten Zwinkern.

»Ach Gott!« Angelina seufzte. »Das Geschäft ist noch nicht eröffnet – ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Ich kann wirklich nicht sagen, wann Sie kommen können.«

»Genauso habe ich es mir vorgestellt.« Bucher lachte. »Deshalb bin ich heute gekommen, um morgen mit Ihnen zusammen die Vorbereitungen zu treffen.«

»Wirklich? Das würden Sie tun? Oh, wie bin ich erleichtert.« Angelina klatschte vor Freude in die Hände. »Und wie fangen wir an? Was schlagen Sie vor?«

Buchner, der für Angelina in seinem Straßenanzug ganz fremd aussah, nahm einen Schluck Tee, dann begann er, etwas umständlich, weil er schließlich auch wollte, daß die Komteß sah, daß er wirklich für sie von Nutzen war.

»Dank meiner jahrelangen Stellung auf Sternheim kenne ich natürlich viele gute Gärtnereien und habe auch Verbindungen nach Holland, Israel, Thailand und anderen Ländern, aus denen Blumen nach Deutschland geflogen werden. Ich werde mich also morgen ans Telefon hängen und mich erkundigen, wann ich was zu günstigen Anfangspreisen frühestens erwarten kann.«

»So macht man das!« staunte Angelina beeindruckt.

»Mhm!« Buchner nickte stolz. »Sobald ich die Zusicherungen habe, hängen wir ein schönes großes Schild an die Tür. Wir eröffnen in ein – zwei – drei Wochen!«

»So lange wird es noch dauern?« wunderte sich Angelina.

»Lange?« Buchner lachte. »So schnell geht es nur, weil ich bei all diesen Firmen langjähriger Kunde bin.«

»Was ich für ein Glück habe, daß Sie mir helfen.«

»Wir helfen uns gegenseitig«, erwiderte Buchner und strich sich ein Butterbrot. Sehr bescheiden war der Tisch der doch reichen Komteß Sternheim gedeckt. Lag es daran, daß sie keine Lust auf eine größere Mahlzeit hatte, oder daran, daß man ihr verweigert hatte, was ihr zustand? Nun, im Laufe ihrer Zusammenarbeit würde er das schon noch herausfinden. Und dann würde er auch dafür sorgen, daß sie erhielt, was ihr zustand. Jawohl, das würde er. Buchner war richtig zornig, wenn er sich daran erinnerte, wie man die Tochter des verewigten Herrn Grafen behandelt hatte.

Sie unterhielten sich noch bis spät in die Nacht hinein und schmiedeten Pläne, und als Buchner sich schließlich verabschiedete, um in seine nahe gelegene Wohnung zu gehen – er hatte sich ganz in der Nähe eingemietet –, fühlte sich Angelina so glücklich wie nicht mehr seit dem Tag, an dem ihre Mutter ihr von dem Blumengeschäft gesprochen hatte.

Zwei Wochen später war die Eröffnung.

Angelina und Buchner hatten beschlossen, das Geschäft ›Rosengarten‹ zu nennen und sich auf Rosen zu spezialisieren. Selbstverständlich würde man auch viele andere Blumen bei ihnen kaufen können – aber es sollte sich bald herumsprechen, daß sie hier die schönsten Rosen in der Stadt hätten.

Die erste Woche erhielt jeder, der ihr Geschäft betrat, eine wundervolle, halberblühte, duftende Rose. Und beide wiesen darauf hin, daß ihre Rosen nicht nur selten schön waren, sondern daß sie auch dufteten, was ja die meisten, langstielig gezüchteten Gärtnerrosen nicht taten.

Die Rose erhielt jeder, auch wenn er nichts kaufte. Und als ein kleiner Junge mit fünf Euro ankam, um seiner Mutter einen Blumenstrauß zum Geburtstag zu schenken, band Josef für ihn einen Riesenstrauß, fast so groß wie er selbst, und sagte so laut, daß jeder im Geschäft es hören konnte: »Das schickt die Besitzerin vom ›Rosengarten‹ deiner Mutter, und deine fünf Euro kannst du gern behalten.«

»So etwas merken sich die Leute und so etwas spricht sich auch herum«, erklärte er am Abend Angelina, als sie ihre Einnahmen durchsahen und sie bekümmert feststellte, wie haushoch sie in den roten Zahlen waren.

»Das ändert sich, Komteß. Warten Sie nur ein wenig.«

Josef behielt recht.

Er hatte sich auch mit den Hotels in Verbindung gesetzt, die für ihre Häuser eine Unmenge von Blumen brauchten, nicht nur Tischdekorationen bei besonderen Veranstaltungen, sondern auch große Sträuße für die verschiedenen Räume, angefangen vom Speisesaal bis zu den Konferenzzimmern.

Sehr bald sprach sich herum, daß man im ›Rosengarten‹ nicht nur die schönsten und frischesten Blumen geliefert bekam, man stellte auch fest, daß nirgends mit soviel Geschmack Tischdekorationen zusammengestellt oder Sträuße für jede Gelegenheit gebunden wurden. Vor allem bekam man nirgends so herrliche Rosen, deren große Blüten in allen Farben prangten und dufteten.

Nach einem halben Jahr sah Angelina überrascht und zufrieden, daß so etwas wie rote Zahlen in ihrer Buchhaltung überhaupt nicht mehr vorkam.

»Das verdanke ich nur Ihnen«, sagte sie dankbar zu Buchner und meinte, es wäre nun höchste Zeit, daß er Gehaltsansprüche stellen sollte.

Josef zierte sich eine Weile und erklärte ihr dann, daß er nur eine geringe Summe verdienen dürfe, da er ja das offizielle Rentenalter noch nicht erreicht hätte. Und deshalb wäre es ihm am liebsten, wenn alles so bliebe, er weiterhin bei ihr essen könne und sie ihm nur einen kleinen Zuschuß zu seiner Wohnung geben würde.

»Denn«, meinte er, »wir sind nun so gut eingeführt, daß wir uns unsere Aufträge aussuchen können. Wir nehmen nur, was uns Freude macht.«

Angelina strahlte. Doch als Josef dann ein ernstes Wort mit ihr sprach, schüttelte sie den Kopf und wollte nichts davon hören.

»Komteß«, begann er, und Angelina ahnte, daß er wieder auf die immer gleiche Sache zu sprechen kam, und sie versuchte abzuwehren, aber er ließ sich nicht beirren. »Sie müssen mir zuhören. Ich bin ein alter Mann und deshalb wäre es richtiger, wenn Sie das Dekorieren in Hotels, Kirchen und Schlössern übernehmen würden. Es ist auch etwas umständlich, wenn die Gestecke hier fertiggemacht werden und ich sie dann hinbringen muß. Zudem besteht die Gefahr, daß Blumen geknickt werden, oder auch, daß die Proportionen an Ort und Stelle nicht mehr richtig sind.«

Angelina wehrte lächelnd ab.

»Wenn irgend etwas gerichtet werden muß, so können Sie das bestimmt besser als ich. Schließlich habe ich alles von Ihnen gelernt. Nein, Josef, ich arbeite in meinem Hinterstübchen viel ungestörter.«

»Aber das Ladengeschäft leidet darunter. Sie gehen ja nicht einmal an die Tür, wenn jemand läutet.«

»Weil ich meine Arbeit nicht unterbrechen will«, erwiderte Angelina sanft, aber bestimmt.

Buchner seufzte und schwieg. Er wußte, daß es noch immer keinen Sinn hatte, mit ihr zu reden. Nicht über dieses Thema.

Angelina weigerte sich, unter Menschen zu gehen. Sie fühlte sich häßlich und schämte sich ihres Gebrechens. Deshalb überließ sie das Ladengeschäft völlig ihm und arbeitete im rückwärtigen Raum. Die Schaufensterdekoration pflegte sie vor Tagesanbruch fertigzustellen, damit niemand sie beobachten oder sehen konnte.

Und wenn ein Hotel insistierte oder wegen einer Hochzeit darauf bestanden wurde, daß sie beide zur Vorbereitung der Blumendekoration kamen, dann erklärte sich Angelina nur bereit, wenn sie die Arbeiten vor Tagesanbruch erledigen konnte, ohne auch nur vom Personal dabei gestört zu werden. Jede Hilfe von Dritten lehnte sie energisch ab.

»Sie sind jung und schön«, sagte der alte Gärtner traurig. »Warum kapseln Sie sich so von allen Menschen ab, Komteß?«

»Schön?« Angelina lachte ein wenig bitter. »Würde meine eigene Mutter mich so behandeln, wenn sie sich nicht meiner schämte? Und das tut sie bestimmt nicht, weil ich, wie Sie sagen, schön bin.«

»Aber…«

»Ach, lieber Herr Buchner, warum habe ich nie wieder etwas von meinen Schulfreundinnen gehört? Nicht einmal von der Mutter Oberin. Das muß doch einen Grund haben. Vielleicht wollten sie dort im Internat wirklich nur das Geld, von dem sie annahmen, daß ich es besitze. Nein, nein, ich habe genug von den Menschen. Ich halte mich lieber an die Blumen.«

Josef Buchner nahm sich nach so einem Gespräch immer vor, sich an die Frau Oberin zu wenden, aber er hatte so viel zu tun. Und sein Alter machte sich deutlich spürbar, auch wenn ihn das Rheuma lange nicht mehr so plagte wie zu der Zeit, als er im Freien gearbeitet hatte. Er vergaß darauf, bis sie wieder einmal auf das Thema zu sprechen kamen. Dieses Mal schlug er ihr vor, ob sie sich nicht eine Katze anschaffen wolle, damit ihre Wohnung nicht so leer sei.

Angelina sah ihn einen Moment an, dann glitt ihr Blick an ihm vorbei ins Ferne, und sie machte sich mit einer der großen Vasen zu schaffen.

»Das wäre der Katze gegenüber nicht fair«, sagte sie leise. »Sie ist doch ein freiheitsliebendes Tier. Wie könnte ich sie da in meiner Wohnung einsperren. Nein, das tue ich keinem Tier an. Und mit einem Hund muß man spazierengehen. Wenn Sie das übernehmen, gut. Aber für mich kommt das nicht in Frage.«

»Komteß!« sagte Buchner unglücklich. Doch sie ließ ihn nicht weitersprechen, sondern unterbrach ihn, indem sie ihn nach dem neuen Auftrag fragte, der ihnen über das Parkhotel vermittelt worden war.

»Ach ja, Schloß Hohenried! Das wäre eine großartige Geschichte!« rief Buchner begeistert und vergaß wieder einmal, in Angelinas ehemaligem Internat anzurufen. »Aber der Besitzer besteht darauf, mit Ihnen selbst zu sprechen.«

»Er kann mich anrufen«, erklärte Angelina abweisend.

»Es ist ein hochelegantes Schloßhotel«, berichtete der alte Gärtner. »Sein Besitzer ist ein Dr. von Hohenried, der es selbst führt. Ein wunderbarer Park gehört dazu. Ich habe Bilder gesehen, als der Portier des Parkhotels mir mitteilte, daß Dr. von Hohenried unbedingt uns haben möchte.«

Angelina verzog ihren hübschen Mund.

»Wer hat denn bisher bei ihm dekoriert?«

»Zum Teil sie selbst, zum Teil die Gärtnerei aus dem Dorf Hohenried.«

Ein Adeliger! Noch ein Grund mehr, daß Angelina ihm nicht begegnen wollte.

»Sie können mit ihm verhandeln, Josef. Und wenn ihm das nicht paßt, muß er sich eben nach jemand anderem umsehen.« Angelina wollte nicht weiter darüber sprechen.

»Er war so begeistert von der Tischdekoration und den großen Vasen, die Sie im Festsaal des Parkhotels für die Hochzeit der Prinzessin Xenia mit dem Großindustriellen gezaubert haben«, versuchte Buchner es nochmals.

Unwillkürlich mußte Angelina lächeln, wenn sie daran dachte. Es war wirklich traumhaft schön gewesen.

Die ganze lange Tafel war mit voll erblühten Gloria-Dei-Rosen geschmückt gewesen. Diese herrliche Rose von zartestem Gelb, deren Blütenblätter einen rosigen Rand hatten, verbreitete zudem noch einen lieblichen Duft. Sie bestach außerdem durch das kräftige, gesunde Grün ihres Laubes. Um den Platz des Brautpaares lag ein ganzer Kranz solcher Rosen inmitten des dunklen Grüns ihrer Blätter.

Und auch in den dunklen Bodenvasen, die rechts und links von den Türen zum Speisesaal standen, in den Schalen der Fensternischen, überall prangten diese großblütigen Gartenrosen.

»Ja, es war wirklich eine besonders gelungene Dekoration«, stimmte sie zu. »Warum will er mich unbedingt sprechen? Er sieht doch, daß man sich auf meinen Geschmack verlassen kann.«

»Vielleicht hat er besondere Vorstellungen«, meinte Josef.

»Dann soll er sich seinen Tisch selbst dekorieren«, war die ungeduldige Antwort.

Josef erwiderte nichts, schüttelte nur den Kopf. Er konnte die Komteß nicht verstehen.

Sie betrieb das Blumengeschäft nunmehr fast vier Jahre. Und was ihr Können und Wissen diesbezüglich anging, so hatte sie ein durchaus gesundes Selbstbewußtsein entwickelt. Sehr zu seiner Freude. Aber dieses Selbstbewußtsein beschränkte sich noch immer ausschließlich auf ihren Beruf. Mit Menschen wollte sie noch immer nicht zusammentreffen. Es war schon viel, wenn sie sich bereit erklärte, mit jemandem telefonisch zu verhandeln. Manchmal befürchtete Josef, daß ihre Unsicherheit sich immer mehr verstärkte.

Dabei war sie ein wunderschönes junges Mädchen von Anfang Zwanzig. Ihr prachtvolles nachtdunkles Haar trug sie in einem dicken Zopf, der ihr weit über den Rücken hing. Ihre Haut war sehr blaß, von einem ebenmäßigen Elfenbeinton, da sie ja tagsüber kaum einmal das Haus verließ. Ihre großen dunkelblauen Augen verloren nur selten ihren traurigen Ausdruck. Sie schminkte sich überhaupt nicht, und Josef fand, daß sie das auch nicht nötig hatte. Nur ein bißchen Lippenstift vielleicht… Aber er hütete sich, etwas zu sagen. Ihre Gestalt war zart und sehr schlank und feinknochig. Und ihre Hände trotz der Arbeit mit den Blumen wie die einer Prinzessin so fein. Bis auf ein unmerkliches Hinken bewegte sie sich graziös und elegant. Jedenfalls Josef war der Ansicht, daß es auf der Welt keine Frau gab, vor der sie sich verstecken müßte.

Alle würde sie ausstechen, fand Josef. Aber wenn er etwas dergleichen sagte, wurde sie böse. Oder noch schlimmer, sie begann zu weinen.

Vielleicht lag ihre Unsicherheit vor allem darin, daß ihre Mutter nach wie vor nichts von ihr wissen wollte. Ein einziges Mal in all den Jahren hatte die Baronin Roswitha Herrenberg sie aufgesucht und beinahe enttäuscht festgestellt, daß zutraf, was man sich über das Geschäft ihrer Tochter erzählte. Dann hatte sie Angelina eine häßliche Szene gemacht, in der sie sie beschuldigte, ihren Gärtner abgeworben zu haben.

Angelina beteuerte weinend, daß es Josefs Idee gewesen wäre, und der bestätigte es immer wieder. Aber Roswitha glaubte, was sie glauben wollte.

Nach diesem Auftritt hatte man sie nie wieder gesehen. Sie reagierte auch nicht auf die Blumen, die ihr Angelina jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten schickte.

Als Josef abends im Bett lag, überlegte er fieberhaft, wie er Dr. von Hohenried, den er zu gerne zu ihrer Kundschaft gezählt hätte, trotz Angelinas sturer Ablehnung gewinnen könnte.

Und wieder einmal nahm er sich vor, die Mutter Oberin anzurufen.

*

Dr. Ansgar von Hohenried legte verärgert den Telefonhörer auf. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann von Mitte Dreißig, von aristokratischem Aussehen mit schmalem Gesicht, glatt zurückgekämmtem dunkelblondem Haar, scharfen grauen Augen unter dichten Brauen und Wimpern, einem schönen großzügigen Mund, einem Kinn, das mit seinem Grübchen Temperament und Sinnlichkeit sowie Energie verriet und einer etwas zu groß geratenen, gebogenen Nase, die, besonders wenn er sich ärgerte, an einen Greifvogel erinnerte.

Er kam an den Frühstückstisch und setzte sich ohne ein weiteres Wort hin.

»Guten Morgen, mein lieber Sohn«, begrüßte ihn seine Mutter, Gertrud von Hohenried, betont freundlich. Sie war eine alte Dame von Siebzig und ihr Sohn sah ihr sehr ähnlich, bis auf die Nase, die er von seinem Vater hatte, einem wohlbeleibten Herrn von Mitte Siebzig, der mit seinem runden Kopf und dem struppigen weißen Haarkranz dank seiner großen, gebogenen Nase auch an einen Greifvogel erinnerte. Allerdings mehr an einen Uhu als, wie sein Sohn, an einen eleganten, schlanken Falken. Er lachte jetzt und fragte:

»Was für eine Laus ist dir über die Leber gelaufen?«

»Guten Morgen, entschuldigt.« Ansgar stand nochmals auf und küßte beide Eltern. Sie hatten alle drei ein hervorragendes Verhältnis, was nicht zuletzt daran lag, daß sein Vater zu den wenigen Vätern begabter Söhne gehörte, die bereit waren zu übergeben, sobald der Sohn seine Ausbildung abgeschlossen hatte und erfahren genug war, um den väterlichen Besitz zu verwalten.

»Es geht um die Blumendekoration«, erklärte Ansgar nun und setzte sich wieder hin.

»Ach ja«, erinnerte sich Otto Hohenried, »du wolltest ja mit einer anderen Gärtnerei sprechen. Stimmt etwas nicht?«

Ansgar zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung. Die Besitzerin stellt sich an. Sie weigert sich, mit mir zu reden, schickt immer ihren Angestellten vor, sogar am Telefon. Ein netter älterer Mann, der über vierzig Jahre sich um die Sternheimschen Blumen kümmerte. Und, wie man weiß, mit viel Erfolg.«

»Das ist richtig. Ich habe früher auch gelegentlich in der Sternheimschen Gärtnerei Blumen für Dekorationen gekauft. Besonders, wenn ich Rosen wollte«, erinnerte sich Otto Hohenried.

Ansgar nickte.

»Eben. Das Geschäft ist auch jetzt für seine besonders schönen Rosen bekannt.«

»Und wo liegt die Schwierigkeit?« wunderte sich seine Mutter.

»Eben darin, daß ich nicht an die Besitzerin rankomme. Sie ist es, die die Dekorationen und Gestecke macht, aber sie weigert sich, mit irgend jemandem zu verhandeln. Es wird wohl eine verschrobene, alte Jungfer sein«, schloß er verärgert und biß kräftig in sein Honigbrötchen.

»Nun, dann paßt ihr ja gut zusammen«, fand Gertrud Hohenried etwas spöttisch. Ansgar verdrehte die Augen, sagte aber nichts. Er wußte, daß seine Mutter der Ansicht war, er würde ein alter Hagestolz werden, den keine vernünftige Frau mehr nahm, wenn er sich noch immer nicht für eine der vielen jungen und auch durchaus anziehenden jungen Damen entscheiden wollte, die alle gern auf Hohenried eingezogen wären.

»Warum bist du nicht mit dem Gärtner zufrieden, wenn er so kompetent ist, wie du sagst?« wollte sein Vater wissen, der zwar die Sorge seiner Frau verstand, aber doch meinte, je mehr man seinem Sohn diesbezüglich zuredete, um so sturer würde er sich verhalten.

»Ich möchte etwas Besonderes, und darüber will ich mit ihr reden. Wenn ich es erst diesem Herrn Buchner erzähle und der es dann an seine Arbeitgeberin weitergibt, weiß man nie, wie es bei ihr ankommt.«

»Man könnte es auch schriftlich machen«, fand sein Vater.

»Nein, das kann man nicht«, beharrte Ansgar ungeduldig und trank dann schweigend seinen Kaffee. Eigentlich wußte er selbst nicht, weshalb er so auf einem Treffen mit der Besitzerin bestand. Sicher, die Dekoration mit den Gloria-Dei-Rosen war die schönste gewesen, an die er sich erinnern konnte. Trotzdem…

»Wie heißt denn die Frau?« fragte seine Mutter.

»Keine Ahnung. Das Geschäft nennt sich ›Rosengarten‹. Nicht mal auf den Rechnungen erscheint ihr Name, und die Unterschrift ist, wie Unterschriften zumeist, unleserlich.«

»Ich gebe zu, das reizt auch meine Neugierde«, meinte Gertrud vergnügt. »Soll ich es für dich versuchen?«

»Nein«, erwiderte Ansgar energisch. Er setzte nicht hinzu: Weil es für eure Goldene Hochzeit ist, aber seine Eltern errieten es wohl ohnehin.

»Fahr doch einfach zu dem Geschäft hin«, schlug sein Vater vor.

»Wenn Buchner nicht da ist, bleibt der Laden geschlossen«, war die saure Erwiderung. Er hatte es schon zweimal versucht.

»Dann verabrede dich mit Buchner«, meinte sein Vater gelassen, »und versuche ihn auf deine Seite zu ziehen.«

»Im Grunde ist er auf meiner Seite, aber er scheint sich nicht zu trauen. Sie muß wohl ein rechtes Biest sein.«

»Tja, dann kann ich dir auch nicht raten.« Sein Vater zuckte die Achseln.

»Einmal versuche ich es noch«, sagte Ansgar, »und rufe vorher Buchner an. Vielleicht gelingt es mir doch irgendwie, diese geheimnisvolle Rosenfreundin selbst zu sprechen.«

Das Haustelefon läutete, und er stand auf. Sein Geschäftsführer hatte eine Frage.

»Ich komme«, sagte Ansgar knapp, zog das Sakko seines eleganten Armani-Anzuges an, rückte die korrekt dazu passende Krawatte und das Einstecktuch aus der gleichen Seide zurecht, hob grüßend die Hand und verließ das Frühstückszimmer.

*

Schloß Hohenried war ein im Karree gebautes Wasserschloß. Zur Barockzeit war es, wie viele Schlösser, erweitert worden. Im Hauptbau lagen die Gesellschaftsräume des jetzigen Hotels: die großartige Eingangshalle mit der zweiflügeligen Marmortreppe, die in den ersten Stock führte. Im Osten lag im Erdgeschoß der Frühstücksraum, im Westen befanden sich die beiden säulengeschmückten Speiseräume. Im Obergeschoß waren die Festsäle, im zweiten Obergeschoß befanden sich die etwas kleineren und nur mehr vier Meter hohen Konferenz- und Banketträume. Die Festsäle waren in barockem Stil eingerichtet: Möbel, Gemälde, Spiegel und auch der Stuck und die Deckengemälde stammten aus dieser Zeit. Das zweite Obergeschoß sowie das Erdgeschoß waren in reinem Renaissance mit prächtigen hölzernen Stuckdecken, eingelegten Parkettböden und appetitanregenden Stilleben von erstklassigen Künstlern dieser Zeit an den Wänden. Halle und Aufgang waren mit eindrucksvollen Jagdtrophäen aus der Zeit geschmückt, in der zu Schloß und Park noch große Waldgebiete gehörten.

Im rechten Flügel waren die Gästezimmer untergebracht, modern ausgestattet mit eleganten Marmorbädern – nur Schränke, Kommoden und Gemälde waren antik und gaben den Zimmern einen besonderen, schloßartigen Charakter. Das Haus hatte achtzig Betten.

Im rückwärtigen Teil befanden sich die Wirtschaftsräume und die Wohnungen des zahlreichen Personals.

Der linke Flügel war privat. Im vordersten, an den Hauptteil angrenzenden Raum befand sich Ansgars Büro samt Vorzimmer.

Das Schloß wurde von einem Wassergraben umgeben, in welchem Seerosen wuchsen und Goldfische schwammen. Auch ein dekoratives Schwanenpaar lebte hier. Darüber führte eine ehemalige Zugbrücke, die allerdings im Laufe der Jahre renoviert worden war.

Otto von Hohenried hatte in weiser Voraussicht Landwirtschaft und Forst verkauft, als ihm klarwurde, daß diese Betriebszweige keine große Zukunft hatten. Da andere Grundbesitzer sich nicht so entschlossen von ihrem Eigentum trennen wollten, sondern sogar versuchten, durch Vergrößern der landwirtschaftlichen Liegenschaften die geringeren Einnahmen auszugleichen, erzielte er dafür einen hervorragenden Preis. Das Geld investierte er in den Um- und Ausbau des alten Schlosses in ein hochmodernes und elegantes Hotel – eines der ersten Schloßhotels überhaupt und auch deshalb besonders gut eingeführt.

Selbstverständlich hatte er sich einige Gründe behalten, von denen er wußte, oder richtiger vermutete, daß sie einmal Baugrund werden würden. Sobald es sich bewahrheitete, stellte er darauf einige Wohnhäuser für das Personal, soweit man es nicht im Schloß selbst unterbringen konnte. Die ehemaligen Wirtschaftsgebäude, ehrwürdig und alt wie das Schloß selbst, hatte er klugerweise dazu verwendet, sie als Reitstall mit Reithalle auszubauen, ein Reiterstüberl einzurichten, nebst Umkleideräumen für Reiter, Golfer und Tennisspieler, denn im Laufe der Zeit hatte er auch Tennisplätze und einen Golfplatz mit achtzehn Löchern auf dem verbliebenen Grund angelegt. Lauter erstklassige Investitionen.

Dank des beachtlichen Geschäftssinns des alten ›Uhus‹ war Hohenried auch ohne Wald- und Landwirtschaft noch immer ein schöner und ertragreicher Besitz, den Otto Hohenried mit Stolz an seinem siebzigsten Geburtstag seinem Sohn übergab, der zum Glück seinen Geschäftssinn geerbt hatte, und nicht nur den Besitz und die Nase, wie es bei anderen Familien oft der Fall war, was zu einem Zerbröckeln des Erbes in allerkürzester Zeit zu führen pflegte.

*

Nicht zuletzt aus diesen Gründen war Dr. Ansgar von Hohenried gewohnt, daß jeder, der eine Chance bekam, mit dem Schloßhotel in irgendeiner Form ins Geschäft zu kommen, erfreut zugriff, und auch deshalb reagierte er verärgert, daß dies bei einem lächerlichen kleinen Blumengeschäft nicht der Fall sein sollte.

Jetzt stand er vor dem großen Schaufenster und bewunderte die Dekoration.

Die Besitzerin – wer immer sie sein mochte! – hatte wirklich tolle Ideen. Sie hatte einen bemoosten, dekorativ gekrümmten, toten Baum ins Fenster gelegt, und auf ihm wuchsen scheinbar die herrlichsten Orchideen in allen Farben und Formen. Darunter welche, die Ansgar, der in seinem Leben schon viel erlebt hatte, noch nie gesehen hatte. Von der Decke hingen Körbe mit weit herunterrankenden Schmetterlingsorchideen, und auf dem Boden wuchsen aus dem Moos alle möglichen Arten von Frauenschuh und auch die kleinen, einheimischen Orchideengewächse.

»Toll«, murmelte er.

»Es gefällt Ihnen, Herr Dr. von Hohenried?« Buchner, der ihn bemerkt hatte, kam aus dem Geschäft. Ansgar hatte ihn angerufen und seinen Besuch angemeldet.

»Toll«, wiederholte er. »Das ist ja auch der Grund, weswegen ich so gerne die Besitzerin selbst sprechen möchte. Wie heißt sie übrigens?«

Buchner gab vor, die letzte Frage nicht gehört zu haben, und bat ihn in das Geschäft. Wie erwartet, war von der Besitzerin nichts zu sehen, doch eine leichte Bewegung des Vorhangs, der den Verkaufsraum von dem dahinter befindlichen Raum trennte, zeigte Ansgar, daß die geheimnisvolle Dame anwesend war.

Angelina hatte mit Josef noch etwas besprochen, als Ansgar Hohenried am Schaufenster auftauchte.

»Ist er das?« fragte sie den Gärtner.

Der nickte.

Plötzlich tat ihr das Herz weh. Warum war sie so ein armseliger Krüppel, daß sich niemals ein Mann für sie interessieren würde? Ganz gewiß keiner, der so gut und interessant aussah und zudem, wie Buchner ihr erzählt hatte, reich und erfolgreich war.

Sie starrte ihn an. Dann wendete sie sich um und sagte in schroffem Ton zu Buchner:

»Holen Sie ihn herein und unterbreiten Sie ihm meine Vorschläge.«

Der alte Mann sah ihr nach, wie sie im rückwärtigen Teil des Geschäftes verschwand. Es kam ihm vor, als hinke sie heute stärker als sonst. Er seufzte und bat Hohenried herein.

Angelina setzte sich an den großen Tisch, um weiter an dem Gesteck für eine Erstkommuniontafel zu arbeiten. Aber irgendwie vermochte sie sich nicht zu konzentrieren, ihre Hände sanken ihr in den Schoß und sie lauschte auf die Unterhaltung, die Buchner mit Dr. von Hohenried führte.

»Sie wollen mir also nicht den Namen der Besitzerin verraten?« fragte Ansgar direkt, kaum, daß er den Laden betreten hatte.

Buchner erwiderte nichts und hob nur mit einem bedauernden Lächeln die Schultern.

»Verraten Sie mir wenigstens den Grund, weshalb diese Dame sich unsichtbar macht?« Es klang ziemlich ironisch.

»Es tut mir leid«, erwiderte Buchner, aber das war auch schon alles.

»Nun, auch wenn sie offensichtlich einen ausgesprochenen Spleen hat, von Blumen versteht sie etwas. Und die Sträuße und Gestecke, die hier stehen«, er sah sich in dem Geschäft um, »sind wirklich besonders schön und einfallsreich. Absolut nicht das Übliche.«

Angelinas Herz klopfte. Warum freute sie sich so über sein Lob? Er kannte sie nicht, sie kannte ihn nicht, und sie würden sich auch nie kennenlernen.

Ansgar überlegte einen Moment.

»Wollen Sie sie wirklich nicht noch mal fragen? Wissen Sie, es handelt sich um die Goldene Hochzeit meiner Eltern, und Sie werden verstehen, daß ich da etwas ganz Besonderes möchte. Und wenn möglich, möchte ich die Blumen dazu mit ihr zusammen aussuchen.«

»Ich verstehe Sie vollkommen, Herr Dr. von Hohenried«, sagte Buchner unglücklich, »aber es ist wirklich sinnlos. Sie können die Blumen mit mir zusammen aussuchen. Und ich werde Ihnen dann die Vorschläge von meiner Arbeitgeberin übermitteln.«

»Versuchen Sie es trotzdem«, beharrte Ansgar. »Vielleicht macht sie eine Ausnahme.«

»Wenn Sie darauf bestehen.« Buchner seufzte. Er wünschte von Herzen, daß Angelina eine Ausnahme machte, aber er konnte es sich nicht vorstellen.

Er verschwand hinter dem Vorhang, und Ansgar hörte ihn leise sprechen. Ihre Stimme hörte er nicht.

Er wartete nicht ab, bis Buchner zurückkam, sondern folgte ihm einfach in das Hinterzimmer, und blieb wie angewurzelt stehen.

Hinter dem mit Blumen beladenen Tisch saß das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Sie sah aus wie eine Prinzessin aus einem Märchen. Der Anblick des feinen Gesichts mit den süßen, blassen Lippen, den großen nachtblauen Augen unter unwahrscheinlich langen Wimpern, die schöngezeichneten Brauen auf der hohen, klaren Stirn, das fast schwarze, leicht gewellte Haar – mein Gott! So mußte Andersen sich seine kleine Seejungfrau vorgestellt haben, sogar der traurige Ausdruck paßte in das Märchen.

Er wußte nicht, wie lange er sie angestarrt hatte. Endlich sagte sie mit einer leisen dunklen Stimme: »Ich hatte Sie nicht hereingebeten, Dr. von Hohenried.«

»Verzeihung!« Wahrhaftig, er stotterte! »Wenn es nicht die Goldene Hochzeit meiner Eltern wäre…« Was für eine dumme Entschuldigung.

»Wie schön, daß Sie ein so gutes Verhältnis zu Ihren Eltern haben.« Es klang bitter. Oder bildete er sich das nur ein?

»Ein sehr gutes«, erwiderte er hastig, »und ich hoffe, das bleibt auch so, falls ich einmal heirate…« Warum hatte er das gesagt? Das war doch geradezu lächerlich.

Angelina sagte nichts darauf, sondern schlug nur die Augen nieder, so daß ihre Wimpern zarte Schatten auf ihre blassen Wangen zauberten.

»Es tut mir so leid, Komteß«, entschuldigte sich Buchner unglücklich. »Ich hatte wirklich ausdrücklich gesagt…«

»Herrn Buchner trifft keine Schuld!« warf Ansgar schnell ein.

»Ich weiß«, antwortete sie. Und weil in diesem Moment die Türglocke des Geschäftes anschlug, bat sie Buchner, sich um den Kunden zu kümmern.

Sobald sie allein waren, riß Angelina sich zusammen und erkundigte sich betont kühl: »Sie wollen also etwas ganz Besonderes für Ihre Eltern? Haben Sie eine genauere Vorstellung?«

»Es ist die Goldene Hochzeit. Die Blumen sollten also goldfarben sein.« Angelina nickte. »Und wenn möglich, Rosen!«

Sie nickte wieder.

»Dort ist die Tür zum Kühlraum. Es stehen darin zwei Bottiche mit gelben Rosen. Holen Sie je eine heraus, dann können wir weiterreden.«

Er war etwas verwundert, daß sie ihn schickte und nicht selbst ging, aber sie war eben nicht nur wunderschön, sondern auch sonderbar. Geheimnisvoll – verbesserte er sich in Gedanken. Hatte er sich vorhin verhört, oder hatte Buchner sie wirklich mit ›Komteß‹ angesprochen?

Der Raum war kühl und dunkel, es dauerte, bis er sich an die Beleuchtung gewöhnt hatte. Er zog aus jedem der beiden großen Bottiche einen Stiel. An einem war nur eine Knospe, am anderen mehrere.

Als er damit zurückkam, erklärte sie: »Die mehrblütige Rose ist eine Polyantha-Rose, das andere ist eine duftende Edelrose.«

»Dann möchte ich die Edelrose«, sagte er spontan.

Sie lächelte kurz.

»Das wird sehr teuer.«

»Das macht nichts«, erwiderte er, ebenso kurz angebunden.

»Es wird besonders teuer, weil die ›Sutters Gold‹, so heißt die Rose, nur als Knospe oder halb aufgeblüht wirklich schön ist. Sie ist berühmt für ihren herrlichen Duft, aber sobald sie sich völlig öffnet, verblassen ihre Farben. Sie hat auch weit weniger Blütenblätter als zum Beispiel die Gloria Dei.«

»Dann nehmen wir eben Knospen und halberblühte Rosen«, gab er zur Antwort.

»Das bedeutet, daß wir sehr viel mehr brauchen. Es sei denn, Sie möchten noch etwas anderes dazunehmen.«

»Ich kann nicht beurteilen, wie es am schönsten ist. Das müssen Sie machen.«

Sie nickte.

»Gut, ich werde Herrn Buchner schicken.«

»Bitte, kommen Sie selbst, damit Sie sehen, für welche Räume und wieviel wir benötigen.«

Angelina kämpfte mit sich. Eigentlich wollte sie ablehnen, aber dann war sie doch neugierig, wie dieses Schloßhotel aussah und wie dieser Mann lebte. Es ist falsch, erinnerte sie sich an ihr Gebrechen und sagte laut:

»Nur, wenn ich allein und ungestört von Ihnen und Ihrem Personal am frühen Morgen alles ansehen kann.«

»Einverstanden«, war die prompte Antwort.

Sie seufzte unwillkürlich.

»Wann ist die Hochzeit?«

»In ungefähr sechs Wochen.«

»Das ist gut, denn wir brauchen eine Menge Zeit, wenn wir so eine Unmenge Blumen beschaffen müssen.«

»Aber Sie kommen doch zur Besichtigung nicht erst in sechs Wochen?« fragte er überrascht.

»Natürlich nicht. Ich muß ja sehen, was ich brauche.« Sie lächelte, aber gleich verschwand ihr Lächeln wieder. Wie er auf ihren Mund starrte.

Ansgar merkte es und atmete tief durch.

»Wann kommen Sie?«

»Morgen«, erwiderte Angelina zu ihrer eigenen Überraschung.

Buchner kam zurück. Er sah fragend von einem zum anderen.

»Ich fahre morgen in aller Frühe mit Ihnen nach Hohenried, Herr Buchner. Dr. von Hohenried möchte, daß ich selbst mir alles ansehe und danach die Blumen aussuche. Er denkt in erster Linie an die Sutters Gold.«

Buchner nickte befriedigt. Erstens, weil das eine Menge Geld brachte, außerdem eine Menge Renommee – und vor allem, weil Angelina zum ersten Mal ihrem Prinzip, nie selbst in Erscheinung zu treten, untreu wurde.

»Auf Wiedersehen«, sagte Angelina nun betont kühl und übersah die ihr entgegengestreckte Hand.

»Auf Wiedersehen«, erwiderte er und versuchte, ihren Blick zu fangen, doch sie beugte sich bereits wieder über ihr Gesteck.

Draußen war er einen Moment in der Versuchung, Buchner auszufragen, doch dann überlegte er es sich anders.

»Vielen Dank, Herr Buchner. Ich habe Ihnen hoffentlich keine Unannehmlichkeiten gemacht?«

»Ich denke nicht«, sagte der alte Gärtner und drückte mit einem wissenden Lächeln die ihm dargebotene Hand.

*

Obgleich Angelina von ganzem Herzen hoffte, Ansgar Hohenried bei ihrer Besichtigung der zu schmückenden Räume nicht zu begegnen, legte sie am folgenden Morgen mehr Wert auf ihre Erscheinung als sonst. Sie wählte eine schwarze Jeans, dazu eine hochgeschlossene, mintfarbene Seidenbluse mit langen Ärmeln und einen Blazer aus irischem Tweed, in welchem sich das Grün und Schwarz wiederholte. Ihr üppiges Haar steckte sie zu einem Knoten am Hinterkopf auf, sie tuschte die Spitzen ihrer Wimpern, so daß sie noch länger und dichter wirkten und benutzte einen Lippenstift in einem weichen Rot.

Hoffentlich begegne ich ihm nicht, sagte sie in Gedanken.

Aber sie konnte nicht verhindern, daß es in ihrem Herzen ganz anders klang: Hoffentlich begegne ich ihm!

Und wenn er nun ihren orthopädischen Schuh – ihr Hinken – trotz der langen Hosen bemerkte?

Einen Moment war sie in Versuchung, ihren Besuch in Hohenried abzusagen, doch da kam schon Buchner, um sie abzuholen.

Es war noch sehr früh. Der Himmel über dem Horizont begann eben, sich aufzuhellen, als zöge die Nacht langsam ihre dunklen Schleier zurück. Die Sterne begannen im Osten zu verblassen, während der Mond wie ein gelber Lampion tief über dem westlichen Horizont hing.

Als sie in Hohenried eintrafen, war es hell geworden. Die Vögel zwitscherten, und über den Wiesen lagen zarte Nebelschleier. Es war ein herrlicher Morgen.

Sie fuhren durch das Dorf, der Beschilderung folgend, die auf das Schloßhotel Hohenried hinwies. Es lag etwas außerhalb. Auf den Bauernwiesen, die um das Dorf lagen, weidete Vieh. Dann kamen sie an einem alten Grenzstein vorbei, auf welchem ein verwittertes Wappen zu erkennen war. Hier begann ein prächtiger Mischwald. Sie fuhren etwa zwei Kilometer die asphaltierte Straße entlang, bis sie zu einer Lichtung kamen, auf welcher, sich gut in die Umgebung einfügend, mehrere kleine Häuser gebaut waren. Hier wohnte das Personal, wie sie später erfahren sollten. Dann folgte noch ein kurzes Waldstück, und nun konnten sie die hohe Steinmauer erkennen, die den Park umschloß.

Angelina fühlte plötzlich einen Stein in ihrer Brust, der schwer auf ihr Herz drückte. Es schlug müde und langsam, um dann gleich wieder heftig zu klopfen, als würde etwas sie jagen. Ihre Unterhaltung war verstummt. Sie war froh, daß Buchner chauffierte.

Aus dem Pförtnerhäuschen trat ein Mann. Als Buchner den Namen nannte, drückte er auf die elektrische Bedienung des Tores, und es öffnete sich langsam. Der Wagen glitt eine Allee hinauf.

Rechts und links in der an einen englischen Park gemahnenden Landschaft entdeckte man die Anlage eines Golfplatzes. Dann fuhren sie über eine schöne, alte Steinbrücke. Im Wasser spielten Enten. Nun folgte eine gut gepflegte Gartenanlage. Buchner nickte anerkennend. Sie überquerten eine nach altem Muster restaurierte Zugbrücke und standen auf einem gekiesten Platz, vor dem Hauptportal zu dem schönen und hervorragend renovierten Schloß.

Das also war Hohenried!

»Es ist fast so schön wie Sternheim«, sagte Buchner.

»Fast«, erwiderte Angelina, und wieder einmal überkam sie heftiges Heimweh.

Buchner drückte auf eine Glocke, die versteckt hinter einem dekorativen, alten Klingelzug angebracht war. Das Tor öffnete sich umgehend, als habe jemand dahinter schon gewartet.

Anstelle eines Bediensteten war es Hohenried selbst, der ihnen öffnete.

»Es war ausgemacht, daß ich weder Sie noch sonst jemanden treffe« sagte Angelina statt eines Grußes, mehr auf sich selbst wütend als auf sonst jemanden. Wie unsinnig, mich zu freuen, ihn wiederzusehen. Es machte ihr nur noch mehr deutlich, wie attraktiv er war und wie gleichgültig dies für jemanden wie sie war.

»Guten Morgen.« Ansgar lächelte knapp. »Es tut mir leid, aber irgend jemand muß Ihnen doch die Tür aufmachen und Ihnen auch die Räume zeigen, die für die Veranstaltung vorgesehen sind.«

Er hatte recht. Sie gab darauf keine Antwort, sondern schritt auf die Treppe zu.

»Einen Augenblick!« hielt Hohenried sie auf. »Hier im Erdgeschoß befinden sich die Speiseräume.« Er ging Angelina voraus und öffnete für sie die Türen.

»Sehr schön«, sagte sie kurz angebunden. »Wie haben Sie sich die Veranstaltung vorgestellt?«

»Ich dachte an einen Empfang in den oberen Festsälen, dann einen Dankgottesdienst in der Schloßkapelle und dann ein Dinner in den eben besichtigten Räumen.«

Sie nickte zustimmend.

»Wie viele Gäste erwarten Sie?«

»Zum Empfang etwa fünfhundert. Dann zum Dinner dreihundert.«

»Die Veranstaltung findet…«

»Ab siebzehn Uhr statt«, beantwortete er ihre noch unausgesprochene Frage. Dann stieg er vor ihr die schöne Marmortreppe hinauf.

»Wunderschön«, sagte Angelina aufrichtig beeindruckt. »Nicht wahr, Buchner?« Der nickte begeistert seine Zustimmung.

»Dann darf ich hoffen, daß die Arbeit hier Ihnen Freude macht?« fragte Hohenried. Sie war heute noch schöner als das letzte Mal, obgleich er sich das gestern kaum hatte vorstellen können.

»Ja«, sagte sie, und ein flüchtiges Lächeln spielte um ihre Lippen.

Zuletzt besichtigten sie die Schloßkapelle. Sie war der älteste Teil der Anlage und noch immer in ihrer spätgotischen Gestalt.

»Die Krypta ist sogar noch romanisch«, erzählte Ansgar. »Interessiert es Sie?«

»O ja, sehr!«

Er stieg vor ihr die steilen, ausgetretenen Stufen hinunter.

»Vorsicht! Auch die Treppe ist noch original, und deshalb sehr uneben.« Als er zu ihr, die ihm zögernd folgte und sich am Handlauf festhielt, hinaufsah, bemerkte er zum ersten Mal ihren orthopädischen Schuh. Einen Moment stockte ihm der Atem. War dies der Grund für ihr seltsames Verhalten? Aber das war lächerlich. Sie war doch so wunderschön. Er streckte ihr die Hand entgegen – mit einer unwirschen Bewegung lehnte sie ab.

»Danke, es geht schon.«

Er wies sie auf die verschiedenen Kapitelle der Säulen hin, auf die uralten Grabsteine. Doch ein Tränenschleier verdunkelte ihren Blick. Sie sah kaum etwas von allem. Er war zurückgezuckt. Er hatte ihr Gebrechen bemerkt, und er war erschrocken. Angewidert wohl…

»Danke, ich habe genug gesehen«, sagte sie schroff und wandte sich dem schweigend hinter ihnen gehenden Buchner zu. »Was meinen Sie, Herr Buchner, können wir den Auftrag übernehmen?«

»Aber selbstverständlich, Komteß!« rief der geradezu entsetzt, daß sie darüber überhaupt noch nachdachte.

»Also gut. Bei Aufträgen dieser Größe pflegen wir einen Vertrag zu machen. Kommen Sie so bald wie möglich zu uns ins Geschäft, dort haben wir die notwendigen Unterlagen. Und dann benötigen wir eine Anzahlung.«

»In Ordnung.« Hohenried war mit allem einverstanden. Ihren plötzlichen Stimmungsumschwung vermochte er sich nicht zu erklären.

So schnell sie konnte, stieg Angelina die Treppen hinauf und lief fast über den Hof zu ihrem Wagen, da die Kapelle außerhalb des Schloßbaues stand, wenn auch innerhalb des ersten Grabens.

»Ich darf Sie beide nicht zum Frühstück einladen?« fragte Hohenried.

»Um Himmels willen, nein!« stieß Angelina geradezu entsetzt hervor.

»Nicht im Hotel«, beeilte er sich zu versichern, »im privaten Bereich, im linken Seitenflügel.«

»Danke, nein, wirklich nicht«, lehnte Angelina heftig ab. »Sie vergessen, wir haben ein Geschäft, das wir pünktlich öffnen müssen.«

Wieder übersah sie seine Hand. Er sollte sich nicht überwinden müssen, sie zu berühren. Und sie sah nicht zurück und winkte auch nicht, als er in dem offenen Portal stehenblieb und grüßend die Hand hob, bis der Wagen seinen Blicken entschwunden war.

»Es war ein Fehler, hierher zu kommen«, sagte Angelina, sobald sie den Park verlassen hatten und sich wieder auf der Landstraße befanden.

»Das glaube ich nicht, Komteß«, erwiderte Buchner, und es zuckte in seinem verwitterten Gesicht, als unterdrücke er ein Lächeln.

*

»Ich dachte, du bringst Besuch mit?« empfing Gertrud von Hohenried ihren Sohn, als er mit nachdenklichem Gesicht zum Frühstück erschien.

»Das dachte ich auch«, erwiderte er, nachdem er seine Eltern dieses Mal so begrüßt hatte, wie sie es erwarteten und gewohnt waren.

»Und?«

»Was und?«

»Nun, wie lief es? Seid ihr euch einig geworden?«

»Ich hoffe«, erwiderte Ansgar, noch immer recht geistesabwesend. »Ich fahre hernach in die Stadt, um den Vertrag zu unterschreiben und eine Anzahlung zu leisten.«

»Aha!« machte seine Mutter und sah zu ihrem Mann hin. Der nickte.

»Bei größeren Geschäften dieser Art ist das durchaus in Ordnung. Besonders, wenn man noch nie zusammengearbeitet hat.«

»Und? War die Besitzerin des Blumenladens mit da?«

»Ja«, sagte Ansgar wieder. Und sonst, zum Bedauern der Mutter, nichts.

»Ja – und?«

Otto Hohenried lachte.

»Nun laß ihn doch, Gertrud. Er wird schon erzählen, wenn er mag.«

»Ich möchte es aber auch wissen, wenn er nicht mag«, erklärte Gertrud und fügte gleichfalls lachend hinzu: »Dann sogar besonders.«

»Ich weiß ihren Namen nicht«, sagte Ansgar jetzt. »Sie hat ihn mir nicht genannt und ihrem Angestellten verboten, ihn zu nennen.«

»Seltsam«, murmelte Gertrud. Dann fragte sie neugierig: »Ist sie jung?«

Ansgar fühlte zu seinem Ärger, wie ihm heiß wurde. Hoffentlich sah man ihm seine Gedanken nicht an.

»Sehr jung. Ich schätze sie auf Anfang Zwanzig.«

»Und hübsch?« bohrte Gertrud unbekümmert der warnenden Blicke, die ihr Mann ihr zuwarf.

Ansgar zögerte.

»Sie ist behindert«, sagte er dann. »Sie trägt einen orthopädischen Schuh und hinkt.«

»Ach, das arme Ding«, rief seine Mutter spontan aus. »Bestimmt ist sie deshalb so verklemmt.«

»Ja, das kann sein. Obgleich sie eigentlich keinen Grund dazu hat.« Das Letzte hatte Ansgar laut gedacht.

»Sie sieht also trotzdem gut aus«, stellte seine Mutter auch prompt fest, und sein Vater schüttelte, lachend über seine Frau, den Kopf.

»Ja«, erwiderte Ansgar wiederum nur wenig aufschlußreich.

»Meine Güte, laß dir doch nicht alles aus der Nase ziehen«, rief seine Mutter ungeduldig. »Was gibt es noch?«

Ansgar überlegte. Sollte er seinen Eltern erzählen, daß der Gärtner das Mädchen immer mit ›Komteß‹ ansprach?

»Also, es gibt noch etwas«, deutete seine Mutter sein Zögern richtig.

»Mutter, du kannst grauenhaft sein«, stellte Ansgar mit einem ärgerlichen Lachen fest.

»Da siehst du, was ich in all den Jahren mitgemacht habe«, scherzte sein Vater, ergriff die Hand seiner Frau und küßte sie.

Nun mußte auch Ansgar lachen.

»Der Gärtner würde mir bestimmt mehr erzählen, wenn er sich nicht verpflichtet hätte zu schweigen.«

»Versuche es mit einem schönen Trinkgeld«, schlug Gertrud vor.

»Das würde er garantiert in die falsche Kehle bekommen«, meinte Ansgar.

»Ja, mit so etwas muß man vorsichtig sein«, warnte auch sein Vater.

»Aber er spricht sie immer mit ›Komteß‹ an.«

»Wirklich?« Seine Mutter war entzückt. »Und sagte er keinen Namen?«

»Ich glaube, ich verstand einmal ›Angelina‹ oder so ähnlich.«

»Angelina!« Seine Mutter war in ihrem Element. »Und du sagst, er war bis vor kurzem bei den Sternheims angestellt?« Sie wartete nicht ab, was er darauf antwortete, sondern stand auf und lief in die Bibliothek, wo sie den Gotha, das Adelsregister, heraussuchte und nachsah, in welchem Band die gräflichen Familien aufgeführt waren und in welchem davon die Sternheims. Erfahren wie sie im Heraussuchen der passenden Ehefrauen für ihren Sohn geworden war, kam sie kurz darauf mit leuchtenden Augen und befriedigtem Gesichtsausdruck zurück.

»Sie ist die einzige Tochter aus der zweiten Ehe Robert von Sternheims mit der jetzigen Baronin Herrenberg.« Sie klappte das Buch zu und sah triumphierend um sich.

»Wenn du dich nicht verhört hast«, mahnte der Vater zur Vorsicht. »Schließlich gibt es keine Garantie dafür, daß sie von dem Besitz stammt, auf dem ihr jetziger Angestellter Gärtner war. Und zudem: Weshalb um Himmels willen sollte eine Sternheim, hinter der ein so riesiges Vermögen steht, ein kleines Blumengeschäft betreiben?«

»Ich werde versuchen, mit dem Gärtner zu reden, heute, wenn ich den Vertrag mache.«

»Meine Güte, bin ich aufgeregt!« rief Gertrud Hohenried. Die beiden Herren schüttelten den Kopf. Otto lachend, Ansgar ungeduldig.

»Ich glaube, ich gehe jetzt lieber, bevor du die Verlobungsanzeigen drucken läßt, teuerste Mama«, sagte er spöttisch und stand auf.

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Hohenried tadelnd an seine Frau.

»Versuch, dein Temperament zu zügeln, meine Liebe. Er scheint dieses Mal wirklich interessiert zu sein. Aber so, wie ich ihn kenne, wird er eher zurückschrecken, wenn du ihn so bedrängst, als sich engagieren.«

»Otto, er wird fünfunddreißig!« rief sie klagend.

»Ein Grund mehr, sich nicht einzumischen. In diesem Alter ist man nämlich wirklich erwachsen. Und wenn nicht, dann wird man es wohl nie.«

»Gott sei Dank ist unser Ansgar kein solch weichliches Muttersöhnchen«, stellte Gertrud stolz fest.

»Daran habe ich auch hart gearbeitet«, zog ihr Mann sie wieder lachend auf.

Sie lachte mit.

»Gut, ich werde nichts sagen. Aber es steht doch nichts dagegen, daß ich Sofie Kaltenberg anrufe…«

Otto Hohenried lachte schallend los. Die Baronin Kaltenberg war dafür bekannt, daß es nichts an Klatsch in adeligen Kreisen gab, was sie nicht wußte – und sehr oft besser als die direkt Beteiligten.

»Meinetwegen, damit du mir nicht vor Neugierde platzt. Aber sage nichts von dem Blumengeschäft, und daß Ansgar sie für irgendwelche Dekorationen gewinnen will. Frage nur, ob sie zufällig weiß, was aus der Tochter von Robert Sternheim nach seinem Tod geworden ist.«

»Und mit welcher Begründung soll ich das fragen?«

»Ganz einfach! Wegen der Einladung zu unserer Goldenen Hochzeit, die unser lieber Sohn so geheimnisvoll vorbereitet. Du möchtest wissen, ob das Mädchen inzwischen verheiratet ist und mit wem und wie sie jetzt heißt.«

»Wie gut, daß ich einen so schlauen Mann habe«, stellte Gertrud Hohenried wieder einmal zufrieden fest.

*

Voller Ungeduld hörte sich Dr. von Hohenried die Fragen seines Hoteldirektors an. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und stand auf.

»Ich denke, wir haben die dringendsten Angelegenheiten besprochen. Was noch anfällt, können wir uns heute nachmittag vornehmen. Ich muß dringend wegen der Blumendekoration zur Goldenen Hochzeit meiner Eltern in die Stadt.«

»Ja, es ist gut, wenn wir nicht weiter Zeit verlieren, da Sie ja das Geschäft wechseln wollen«, stimmte der Direktor zu.

Ansgar nickte und stand auf, da der Mann noch keine Anstalten machte zu gehen.

»Bis später!«

Er ertappte sich, daß er zu schnell fuhr. Er bemerkte es erst, als er geblitzt wurde. Na, wenn schon!

Als er vor dem ›Rosengarten‹ ankam, stellte er fest, daß eine Menge Kunden darauf warteten, bedient zu werden. Auch das noch! Buchner unterbrach kurz und kam zu ihm.

»Der Vertrag ist vorbereitet. Er liegt im Büro. Sie können ihn durchlesen, ob Sie mit allem einverstanden sind. Ich komme dann, sobald ich Zeit habe.«

»Ihre – äh –« Es war zu dumm, immer von Besitzerin oder Arbeitgeberin zu sprechen.

»Sie ist leider verhindert«, erklärte Buchner mit einem bedauernden Lächeln. »Sie mußte weg.«

Im ersten Moment war Hohenried so enttäuscht, daß er am liebsten gegangen und später wiedergekommen wäre. Aber wenn sie ihn nicht sehen wollte, dann würde sie auch da ›verhindert‹ sein. Und vielleicht war es sogar günstig, wenn er den Gärtner allein hatte. Vielleicht war dieser dann eher bereit, etwas zu sagen.

So las er also flüchtig den Vertrag durch – selbstverständlich war er mit allem einverstanden – , und wartete dann ungeduldig darauf, daß Buchner für ihn Zeit hatte.

Endlich kam Buchner.

»Ich habe zugeschlossen«, sagte er mit einem ganz besonderen Lächeln, »damit wir Ruhe haben.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, war Hohenrieds Antwort. »Mit dem Vertrag bin ich einverstanden.« Er schob ihm das unterzeichnete Dokument hin. »Aber es gibt noch einiges, was mich interessiert.«

Der Gärtner nickte, lächelte – und sagte nichts.

»Wie lange besteht das Geschäft schon?« begann Hohenried mit einer unverfänglichen Frage.

»Seit gut vier Jahren. Wir sind mit der Entwicklung sehr einverstanden.«

»Das glaube ich gern, nach dem, was ich heute morgen mitbekommen habe und den Preisen, die Sie verlangen.«

»Wir liefern auch etwas Besonderes«, meinte Buchner mit einem kleinen Lächeln.

»Oh, ich bin durchaus bereit, das zu honorieren«, versicherte ihm Hohenried. Und dann kam er zu der ersten Frage, die ihn im Moment wirklich interessierte: »Habe ich Sie falsch verstanden, oder sprachen Sie die Besitzerin mit ›Komteß‹ an?«

»Nein, Sie haben mich richtig verstanden«, war die langsame Antwort.

»Und dann vermute ich wohl auch richtig, daß es sich bei ihr um die Komteß Angelina von Sternheim handelt.«

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und so glaubte Buchner, er würde nicht zu sehr gegen seine Anordnungen verstoßen, wenn er schweigend nickte.

»Und weshalb«, fuhr Hohenried fort, »arbeitet die steinreiche Komteß Sternheim in so einem Geschäft?«

»Steinreich?« fragte Buchner verwundert zurück.

»Allerdings!« war die Antwort.

»Ich fürchte, da täuschen Sie sich, Herr Dr. von Hohenried«, sagte der alte Mann. »Die Komteß hat mir erzählt, daß sie darauf eingegangen wäre, auf alles zu verzichten, um das Schloß, den land- und forstwirtschaftlichen Betrieb zu erhalten. Die Lage der Landwirtschaft…«

»Aber das ist doch lächerlich«, unterbrach ihn Hohenried ärgerlich. »Das Hauptvermögen der Sternheims liegt in Bankbeteiligungen und Industrie-Anteilen.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Buchner verblüfft.

»Ganz einfach, weil ich verschiedentlich auch Beteiligungen habe, wo sich Robert Sternheim, beziehungsweise bereits sein Vater und Großvater engagiert hatten.«

Buchner schnappte nach Luft. Schließlich stieß er hervor: »Dann war das alles eine glatte Lüge! Dieses Pack hat meine Komteß falsch und unzureichend informiert, um sich selbst das Vermögen einzuverleiben.«

»Wenn die Komteß die gleichen Ansichten bezüglich ihrer Abfindung hat wie Sie – allerdings! Und zwar auf eine wahrhaft verbrecherische Art und Weise.«

»Was soll ich jetzt tun?« stammelte der alte Gärtner, restlos überfordert von all dem, was da an Neuigkeiten über ihn hereinstürzte.

»Berichten Sie bitte der Komteß, was ich Ihnen erzählt habe. Ich bin jederzeit bereit, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Sie braucht mich nur anzurufen. Natürlich müssen wir einen guten Anwalt hinzuziehen. Aber ich habe eine Menge Verbindungen und werde die gerne für die Komteß in Anspruch nehmen.«

Buchner war entsetzt. Er hatte der ehemaligen Gräfin Roswitha zwar viel zugetraut, aber daß es so weit ging, daß eine Mutter ihr einziges Kind betrog!

Noch dazu, wo Angelina ohnehin so unter ihrem kleinen Gebrechen litt, das entzog sich seinem Vorstellungsvermögen.

Hohenried stimmte ihm zu.

»Was ich freilich nicht verstehe«, meinte er dann, »ist, weshalb die Komteß sich so vor aller Welt zurückzieht. Sie ist das schönste Mädchen, dem ich in meinem Leben begegnet bin.«

»Ja, das ist sie, weiß Gott«, stimmte der Gärtner ihm voll großväterlichen Stolzes zu. »Aber ihre Mutter hat verstanden, ihr fürchterliche Komplexe einzureden. Und da leider der verstorbene Herr Graf sehr schwach war, kam er nicht gegen seine Frau an. Und die Angestellten – nun ja – die wollten sich lieb Kind bei der Gräfin machen. Man hat sie sogar nach dem Einjährigen aus dem Internat genommen, wo sie so gern zur Schule ging. Sie war eine der Besten! Aber man hat einfach behauptet, sie würde es weder gesundheitlich noch von ihrer Intelligenz her schaffen. Sie war damals sehr unglücklich. Inzwischen macht ihr das Geschäft hier Freude. Du meine Güte«, fiel es ihm wieder ein, »jetzt habe ich noch immer nicht die Oberin des Internats angerufen.«

»Weshalb wollten Sie das?« wunderte sich Hohenried.

»Ich habe einen Verdacht«, flüsterte Buchner geheimnisvoll. »Die Komteß erhielt nie Antwort auf ihre Briefe, so daß sie glaubte, auch dort würden alle sie nur ablehnen wegen ihres Gebrechens. Und ich vermute, daß man die Briefe an sie abgefangen hat, falls man ihre überhaupt losschickte.«

»Da können Sie durchaus recht haben«, pflichtete Hohenried ihm bei. Was hatte er da aufgerührt. Er vermochte es kaum zu fassen. »Sie sehen, Herr Buchner, ich muß unbedingt mit der Komteß sprechen.«

Buchner stimmte natürlich lebhaft zu. Besonders, weil er den Eindruck hatte, sein Besucher sei sehr an der Komteß interessiert. Und keineswegs nur geschäftlich.

»Ich werde ihr alles erzählen. Und dann ruft entweder sie selbst an oder ich melde mich bei Ihnen«, versprach er. »Aber so leid es mir tut, ich muß jetzt wirklich wieder das Geschäft öffnen.«

*

»Oh, Gertrud, meine Liebste! Gerade habe ich an dich gedacht«, verkündete Sofie Baronin Kaltenberg, als sich Frau von Hohenried am Telefon meldete. »Wie geht es euch denn? Meine Güte, wenn ich daran denke, wie du und Otto vor fast fünfzig Jahren geheiratet habt. Ach, was war das für eine Zeit – trotz aller Armut. Und wie jung wir waren und wie glücklich, noch einmal davongekommen zu sein. Erinnerst du dich, ich war damals eine deiner Brautjungfern, und dann fing ich deinen Strauß und heiratete bereits ein Jahr später.«

Gertrud kannte die Geschichte in- und auswendig. Sie wartete nur ab, bis Sofie einmal Atem holte. Sie hatte ein Atemvolumen, um das jede Sängerin sie beneidet hätte. Sie überlegte, ob sie Sofie nach ihrem Befinden fragen sollte, fürchtete aber, dann wieder erst einmal eine Ewigkeitsgeschichte zu hören und fragte deshalb, alle Höflichkeit außer acht lassend: »Sag mal, die Sternheims…«

»Ach, die Sternheims. Nun, da gibt es ja keine mehr. Ein Jammer, so eine gute, alte Familie. Diese gräßliche Roswitha hat ja den Rüdiger Herrenberg geheiratet, nachdem er seine erste Frau ins Grab gebracht hat. Die beiden passen gut zusammen. Und natürlich haben sie sich das ganze Sternheimsche Vermögen unter den Nagel gerissen, dank dem die bei Gott unansehnliche Britta – du liebe Zeit, ich habe nichts gegen das Mädchen! Aber du verstehst schon…« Sie wartete nicht ab, ob Gertrud verstand, sondern fuhr fort: »Also, sie hat meiner armen Juliane den Ekbert Holsten ausgespannt. Natürlich nur mit ihrem Geld. Und ich sagte Juliane, daß es um so einen käuflichen Patron ohnehin nicht schade ist – aber das arme Ding heult sich die Augen aus und glaubt, nie wieder so etwas Kostbares zu finden…«

»Das tut mir sehr leid für Juliane und euch alle. Aber du hast ganz recht…« Unseligerweise hatte Gertrud das Gefühl gehabt, in diesem Fall doch auf den Schicksalsschlag der Kaltenbergs eingehen zu müssen.

»Nicht wahr, das findest du auch? Gräßlich, diese Herrenbergs! Bestimmt ist der arme Robert, der ja schrecklich gutmütig war, an der Kälte dieser Frau gestorben…« Sie bekam einen Hustenanfall und mußte ihren Redefluß für einen Moment unterbrechen. Gertrud nützte die Gelegenheit.

»War da bei den Sternheims nicht eine Tochter?«

»Ach Gott, ja, das arme Ding! Es kam mit einem zu kurzen Bein auf die Welt, wofür es natürlich nichts konnte, aber Roswitha wollte deshalb nichts von ihr wissen. Außerdem – aber bitte, das bleibt unter uns –«, als ob irgend etwas geheim bliebe, wenn Sofie es wußte, »also, die Kleine, wie hieß sie doch gleich – ach ja, Angelina – Robert war ja ganz verknallt in sie, aber er durfte es natürlich nicht zeigen und deswegen wollte er es auch nicht wahrhaben.« Sie schnappte nach Luft.

»Was wollte er nicht wahrhaben?« fragte Gertrud ganz interessiert.

»Aber Liebste, das gibt es doch nicht, daß du das nicht weißt! Das Mädchen ist geistig zurückgeblieben. Ich weiß nicht, wo man sie inzwischen hingesteckt hat. Wahrscheinlich in irgendein Heim. Armes Ding! Erst das Bein und dann auch noch der Verstand.«

»Danke, Sofie«, warf Gertrud ein, bevor sie wieder zu Atem kam. »Mich interessierte es wegen der Einladungen zu unserer Goldenen Hochzeit.«

»Hach, wie reizend! Dürfen wir auch darauf hoffen?«

»Aber selbstverständlich!«

»Auch meine Kinder?«

»Das ist doch klar, da brauchst du gar nicht zu fragen. Ich wollte nur wissen, ob ich diese Angelina auch dazu einladen muß.«

»Du bittest die Herrenbergs?« Es klang empört.

»Vielleicht. Ich weiß es noch nicht. Zudem macht das alles Ansgar, und mein Mann und ich tun so, als würden wir nichts von den Vorbereitungen merken.«

»Gott, wie süß. Und Ansgar? Kann er sich noch immer nicht entschließen?«

Gleich bietet sie ihm Juliane an, dachte Gertrud. Sie war zwar schweigsam, schon, weil neben ihrer Mutter niemand zum Reden kam, trotzdem wünschte sie Ansgar keine Schwiegermutter wie diese allwissende Sofie.

»Ihr hört demnächst von uns – oder richtiger: von Ansgar«, sagte Gertrud deshalb rasch. »Entschuldige, wir haben natürlich eine Unmenge Vorbereitungen.« Sie legte schnell auf, bevor das Maschinengewehr, wie Otto Sofie nannte, wieder losprasselte.

Uff! Das arme Ding! Aber dann mußte das Mädchen, das Ansgar getroffen und das ihn so tief beeindruckt hatte – auch wenn er es natürlich nicht zugab – jemand anderes sein. Es gab ja genug Komtessen und Baronessen. Vielleicht hieß sie ähnlich, denn, da hatte Sofie recht, die Sternheims waren mit Robert ausgestorben, wenn man von dem armen Wurm absah.

Dann fiel ihr ein, daß Ansgar auch etwas von einem orthopädischen Schuh erwähnt hatte… Nun, auch da gab es leider genug, die mit so einem Übel geschlagen waren.

Sie hörte auf dem Gang die Stimme ihres Sohnes. Eilig lief sie zur Tür.

»Ansgar, ich muß dich sprechen.«

»Das dachte ich mir. Deshalb bin ich ja hier.« Er lachte, offensichtlich sehr zufrieden.

»Hat es mit dem Vertrag geklappt?« Sie freute sich, weil er so befriedigt aussah.

»Ja. Teuer, aber in Ordnung.«

»Du, ich habe inzwischen mit Sofie Kaltenberg telefoniert.«

»Ach, du lieber Himmel!« Ansgar war sichtlich wenig erbaut. »Was hast du ihr denn gesagt?«

»Ich habe mich wegen dieser Angelina Sternheim erkundigt.«

»Ach, Mama, warum hast du es nicht gleich über das Fernsehen verkündet?«

Sie sah ihn amüsiert an.

»Wieso? Gibt es denn etwas zu verkünden?«

»Quatsch. Also, was hast du mit dieser Klatschbase besprochen?«

»Ich sagte, wegen der Gästeliste zu unserer Goldenen Hochzeit…« Erschrocken brach sie ab. Ansgar lachte.

»Es war mir schon längst klar, daß Papa und du bemerkt habt, wie wir in Vorbereitungen schwelgen. Aber bitte, tut weiter so, als würdet ihr keine Ahnung haben.«

»Sehr einverstanden. Dann muß ich nicht mitwirken«, erwiderte seine Mutter vergnügt. »Aber bitte, vergiß Sofie plus Familie nicht. Die gräßliche Tochter des gräßlichen Herrenbergs, der Roswitha Sternheim geheiratet hat, hat ihr nämlich den Verlobten weggeschnappt.«

»Soll sie froh sein. Der Holsten ist ein Waschlappen.«

»Na schön, jedenfalls sagte sie mir, daß die Tochter von Robert Sternheim geistig und körperlich behindert sei und von ihrer Mutter wohl in ein Heim gegeben wurde.«

Sie erschrak, weil Ansgar totenbleich wurde.

»Um Gottes willen, Ansgar!«

Er gab keine Antwort, drehte sich nur auf dem Absatz um und verließ den hübschen Barocksalon seiner Mutter.

Was hatte sie falsch gemacht?

*

Gertrud von Hohenried hatte nichts falsch gemacht. Es war nur, ihr Sohn war so entsetzt über all das, was man einem wehrlosen und unerfahrenen jungen Mädchen angetan hatte, daß er einfach für sich sein wollte, um das erst einmal ganz zu begreifen.

Er war entschlossen, Angelina zu helfen. Selbst gegen ihren Willen. Es war Ansgar längst klar, daß er sich Hals über Kopf in dieses schöne Mädchen verliebt hatte, das so verängstigt war und deshalb vorgab, kalt und gefühllos und abweisend zu sein.

Aber auch, wenn sie seine Gefühle nicht erwidern sollte, was durchaus möglich war – so viel älter, wie er war –, er würde alles tun, damit sie zu ihrem Recht kam.

Während er noch überlegte, wie er beginnen und wen er als erstes anrufen sollte, fiel ihm ein, daß der Gärtner von der Oberin des exklusiven Mädcheninternats gesprochen hatte. Vielleicht war es nicht schlecht, sich erst einmal an sie zu wenden. Besonders nach dem Gerücht, das die gewissenlose Mutter Angelinas ausgestreut hatte.

Er ließ sich von seiner Sekretärin verbinden.

Eine freundliche Frauenstimme erkundigte sich nach seinen Wünschen.

»Ich muß dringend die Mutter Oberin sprechen. Mein Name ist Hohenried.«

»Sie wollen eine Tochter anmelden?«

»Nein!« rief er ungeduldig.

»Bitte, Sie müssen mir den Grund Ihres Anrufs nennen«, bestand die Stimme darauf, immer noch freundlich.

»Ich rufe wegen Komteß Angelina von Sternheim an«, sagte er, etwas unwillig.

»Einen Augenblick.« Sekunden später meldete sich eine andere Frauenstimme, tiefer und merklich älter als die erste und nicht freundlich, sondern aufgeregt.

»Was ist mit Angelina?« fragte sie. »Mein Gott, ich habe so oft vergeblich versucht, mit dem Kind Kontakt aufzunehmen.«

Ansgar stellte sich nun nochmals telefonisch vor und berichtete dann, wie er Angelina begegnet sei und was er über den treuen ehemaligen Gärtner der Sternheims erfahren habe.

Die Oberin war sprachlos. Schließlich sagte sie:

»Diese Frau ist eine Teufelin! Ihr eigenes Kind zu betrügen und zu bestehlen. Und nicht genug – von Schwachsinn zu reden.«

Sie berichtete, daß Angelina sie nur ein einziges Mal besucht hatte, offensichtlich weggeschickt am Hochzeitstag ihrer Mutter, und daß sie seitdem nichts mehr von ihr gehört oder gesehen hatte.

»Sie hat auf keinen meiner Briefe geantwortet, auf keinen Telefonanruf reagiert. Dabei hatten wir alle sie ins Herz geschlossen. Sie war ein besonders kluges und begabtes Mädchen.«

»Und ihr Gebrechen?« fragte Ansgar nun doch.

»Ach das! Sie war eine erstklassige Reiterin. Hohe Schule ebenso wie Springen. Sie schwamm auch gern und viel. Sogar beim Geräteturnen machte sie mit. Eben alles, wo ihr etwas zu kurzes Bein nicht störte. Und nicht zuletzt spielte sie hervorragend Klavier. Ich hatte bei ihr sogar an eine Karriere als Konzertpianistin gedacht, aber nach allem, was Sie mir erzählen, hatte sie wohl keine Möglichkeit, sich irgendwie weiterzubilden.«

»Ich fürchte, Sie haben recht«, stimmte Ansgar bedauernd zu. »Aber Sie sollten sehen, was für Wunder sie in ihrem Blumengeschäft vollbringt. Ihre Dekorationen sind märchenhaft.«

»Das glaube ich gern«, meinte die Oberin, über seine Begeisterung lächelnd. »Blumen passen zu ihr.« Und weil er nichts darauf sagte, fragte sie, von weiblicher Neugierde getrieben, vor der auch eine Klosterfrau nicht gefeit ist: »Ist Angelina noch immer so schön?«

»Wunderschön«, erwiderte ihr Anrufer spontan. »Ich habe noch nie ein so schönes Mädchen gesehen.«

Einen Moment schwieg die Oberin. Dann begann sie vorsichtig:

»Ich habe Angelina sehr in mein Herz geschlossen. Wie alle hier, die sie kannten. Sie ist mir wie eine Enkeltochter. Darum mißverstehen Sie mich nicht, wenn ich Sie nun frage: Geht Ihr Interesse an Angelina noch weiter?«

Ansgar zögerte einen Moment, dann sagte er leise, seine Stimme klang rauh: »Sehr weit.«

»Sie wollen ihr helfen, daß sie ihr Erbe wieder erhält?«

Ansgar räusperte sich.

»Nicht nur das. Ich möchte auch aller Welt beweisen, daß es sich um ein böses Gerücht handelt, was ihre geistige Behinderung angeht. Ob Sie mir dabei helfen können?«

»Gerne. Jederzeit. Ich werde nicht nur selbst eine Bestätigung der hohen Intelligenz des Mädchens schreiben. Ich werde auch unseren alten Schularzt, der sich garantiert gut an Angelina erinnert – so ein Mädchen vergißt man nicht so leicht – darum bitten, mir ein entsprechendes Gutachten auszustellen.«

»Das wäre wunderbar. Vielen Dank!« Ansgar gab der Oberin seine Anschrift und Adresse und die Telefonnummer des Blumengeschäftes ›Rosengarten‹.

»Ich besuche Angelina, sobald ich von hier weg kann. Wenn möglich, schon am kommenden Wochenende«, versprach die Oberin. Und dann fragte sie mit einem kleinen Lachen: »Ist das alles? Andere Interessen haben Sie nicht?« Und als Ansgar schwieg: »Sie müssen mir nichts sagen. Verzeihen Sie die Neugierde einer alten Frau, die sich Glück und Liebe für ein Mädchen wünscht, das es so bitter schwer hat und es so sehr verdient.«

Ansgar räusperte sich, dann sagte er:

»Doch, ich wünsche mir noch weit mehr. Ich meine, das Geld interessiert mich nicht. Ich habe selbst genug. Aber Angelina! Ich würde sie gern heiraten, aber sie läßt sich ja nicht einmal zum Essen einladen. Sie läßt sich nicht einmal sehen. Es ist – es kann natürlich sein…«

»Ja?« fragte die Oberin gespannt.

»Vielleicht bin ich ihr zu alt. Sie ist erst Anfang Zwanzig und ich bin immerhin schon fünfunddreißig.«

Auf diese Aussage hin drang helles, geradezu jungmädchenhaftes Gelächter durch das Telefon.

»Mein lieber Herr von Hohenried«, sagte die Oberin, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. »Sie werden sich doch jetzt nicht auch noch unbegründete Komplexe zulegen?«

Ansgar mußte über sich selbst schmunzeln.

»Sie haben recht. Vielleicht ist es in diesem Fall ganz gut, daß ich ein wenig älter bin.«

»So, das klingt schon besser«, fand die Klosterfrau. »Ich glaube, Sie wissen gar nicht, wie sehr ich mich über Ihren Anruf gefreut habe. Und wie sehr sich alle mit mir freuen werden, die Angelina noch gekannt haben. Ich kann mich doch darauf verlassen, daß, wann immer Sie Hilfe oder Rat brauchen oder mir auch nur irgendwelche Neuigkeiten mitteilen wollen, Sie mich anrufen werden?«

»Ich verspreche es«, versicherte Ansgar. »Und ich würde mich freuen, wenn wir uns auch persönlich kennenlernen würden. Sie sind als Gast jederzeit auf Hohenried willkommen.«

»Vielen Dank. Das ist sehr freundlich. Vielleicht…« Er konnte ihr verschmitztes Lächeln nicht sehen, »besuche ich Sie einmal zusammen mit Angelina.«

Nachdem die Mutter Oberin aufgelegt hatte, kniete sie sich auf ihren Betschemel, der in der Ecke ihres Büros vor einem schönen alten Kruzifix stand.

»Danke«, flüsterte sie immer wieder, »danke! Und wenn dieser Mann der Richtige für Angelina ist, lasse sie zusammenfinden.« Denn obgleich die Oberin promovierte Chemikerin war, glaubte sie nicht nur an die Geschichte von der passenden Chemie, sondern vor allem daran, daß glückliche Ehen im Himmel geschlossen werden.

Ansgar aber legte nur kurz auf, um sofort seinen Freund und Familien-Anwalt anzurufen, wobei es sich freilich nicht um den Society-Anwalt Herrenberg handelte. Er vereinbarte mit ihm einen Termin in einer äußerst dringenden Angelegenheit.

Der Rat, den er erhielt, gefiel ihm übrigens ausgezeichnet.

*

»Du willst diese grauenhaften Herrenbergs einladen?« fragte seine Mutter ungläubig, als er die Namen der ganzen Familie Herrenberg, einschließlich des Grafen von Holsten auf die Gästeliste setzte.

»Allerdings. Die ganze Sippschaft«, erwiderte Ansgar und lachte.

»Kannst du das verstehen?« Gertrud wandte sich an ihren Mann.

»Wenn ich es so höre, nein! Aber ich bin sicher, daß Ansgar sich etwas dabei denkt. Außerdem weiß ich überhaupt nichts von einem geplanten Fest«, schloß Otto Hohenried und vertiefte sich wieder in die Morgenzeitung.

»Männer!« sagte seine Frau empört und wollte von Ansgar Näheres wissen.

»Ich muß erst sehen, ob mein Vorhaben durchführbar ist«, wehrte er ab, und seine Mutter gab sich wohl oder übel damit zufrieden.

Ungefähr zur gleichen Zeit rief die Oberin im Blumengeschäft ›Rosengarten‹ an. Buchner hob ab und war so verblüfft, als sie sich meldete, daß er zweimal nachfragte. Dann wendete er sich Angelina zu, die ihn mit fragendem Gesicht beobachtet hatte.

»Die Frau Oberin! Aus Ihrem Internat!« rief er.

Mit einem Freudenruf nahm ihm Angelina den Hörer aus der Hand.

»Was für eine wundervolle Überraschung. Liebe Mutter Oberin, wie geht es Ihnen?«

»Seit ich deine Adresse habe, geht es mir gut, meine liebe Angelina«, erwiderte sie, gerührt, daß auch kein Hauch von Vorwurf über Angelinas Lippen kam.

»Sie hatten meine Adresse nicht? Aber…«

»Ja, ich weiß, mein Kind. Aber ich habe mehrmals geschrieben, übrigens auch einige der Klassenkameradinnen. Ich habe auch versucht, dich telefonisch zu erreichen, wir sind nie durchgekommen, und haben auch nie von dir gehört. Du warst wie vom Erdboden verschluckt.«

»Oh«, sagte Angelina nur traurig. Es war nicht schwer zu erraten, wer diesen Kontakt unterbunden hatte.

»Ja, mein liebes Kind. Ich habe gehört, was man dir alles angetan hat, und ich bin von Herzen froh, daß Dr. von Hohenried sich an mich gewendet hat.«

»Hohenried?« Angelina konnte es irgendwie nicht glauben.

»Ja. Er mag dich sehr«, erwiderte die Oberin mit einem Lächeln, das Angelina erraten, aber nicht ahnen konnte.

Sie schwieg eine Weile und meinte schließlich: »Ja, ich glaube, ich tue ihm leid.«

»Was für ein Unsinn«, war die ungehaltene Antwort. »Natürlich tust du ihm leid. Genau wie du mir leid tust. Aber außerdem habe ich dich ins Herz geschlossen wie eine Enkelin, und er, nun, er ist ziemlich verliebt in dich.«

Angelina schwieg. Es erschien ihr unfaßbar. Und plötzlich hatte sie Angst. Ob die Mutter Oberin etwas von solchen Dingen verstand? Die erriet ihre Gedanken.

»Ach, mein liebes Kind. Um von Liebe etwas zu verstehen, muß man nicht unbedingt verheiratet sein und eine eigene Familie haben. Verzeih, wenn ich das so hart sage. Aber deine Mutter, die bereits zum zweiten Mal verheiratet ist, versteht ganz gewiß weniger von Liebe als ich alte Klosterfrau.«

»Ich habe das gar nicht so gemeint«, entschuldigte sich Angelina ein wenig verlegen. »Aber könnte es nicht sein, daß Sie sich täuschen?«

Die Oberin schmunzelte.

»Ich glaube nicht. Er hat es direkt gesagt. Und er befürchtet, daß du nichts mit ihm zu tun haben willst, weil er dir zu alt ist.«

»Zu alt?« rief Angelina fassungslos. »Aber er ist doch nicht zu alt, oder?«

»Ich finde nicht«, erwiderte die Oberin vergnügt. »Aber frage doch mal euren alten Gärtner, der ja wohl mehr ist als nur dein Angestellter.«

»Ja«, stimmte Angelina herzlich zu. »Herr Buchner ist viel mehr als nur ein Angestellter. Er ist mein väterlicher Freund, dem ich voll und ganz vertraue.« Sie nickte, als sie das sagte, zu dem alten Gärtner hin, der eben aus dem Verkaufsraum hereinkam, um Blumen für einen Kunden aus dem Kühlraum zu holen. Er strahlte bei ihren Worten über sein ganzes zerfurchtes Gesicht und ging eilig hindurch, weil es ihm ziemlich peinlich war, so gelobt zu werden, und weil er auch nicht recht wußte, wie er darauf reagieren sollte. Nur eines war für ihn klar: Für seine Komteß würde er sich in Stücke reißen lassen!

»Ich glaube, ich brauche ihn nicht zu fragen«, sagte Angelina inzwischen zur Mutter Oberin. »Er redet die ganze Zeit auf mich ein, liebenswürdiger zu Dr. von Hohenried zu sein. Ich vermutete bisher, daß es ihm hauptsächlich um das Geschäft geht, aber jetzt…« Sie brach ab und fragte nochmals: »Sind Sie sich auch ganz sicher, liebe Mutter Oberin?«

»Nun, wenn ein Mann wie Hohenried von Heirat spricht, darf man doch annehmen, daß er es ernst meint. Schließlich hat er keinen Grund, sich deiner alten Lehrerin anzuvertrauen.«

Das war richtig.

»Es ist so schwer vorstellbar«, seufzte Angelina. »Weil ich doch…«

»Wieso schwer vorstellbar? Du bist ein selten schönes Mädchen, und Hohenried findet sogar, daß du das schönste Mädchen bist, das er jemals gesehen hat.«

»Aber mein Bein…« Fast hätte Angelina bei der Erwähnung ihres Gebrechens zu weinen angefangen, so verwirrte sie alles, was die Mutter Oberin ihr erzählte.

»Ach, dein Bein. Natürlich ist es schade, daß du diesen Fehler hast, aber wenn man dein Gesicht und dein Herz sieht, dann, mein Kind, fällt das wirklich nicht mehr ins Gewicht.«

»Ich möchte das alles so gern glauben«, flüsterte Angelina.

»Nun, dann glaube, daß der liebe Gott wiedergutmachen möchte, was immer an dir verschuldet wurde. Und jetzt: Gottes Segen, mein Kind! Ich versuche, am Wochenende in die Stadt zu kommen und dich zu treffen, wenn du nichts Besseres vorhast.«

»Was könnte ich Besseres vorhaben?« rief Angelina voller Vorfreude.

»Man kann nicht wissen«, war die liebevolle Antwort.

»Herr Buchner, Herr Buchner, haben Sie gehört?« Angelina vergaß ihre sonstige Scheu und lief, so rasch sie konnte, in den Verkaufsraum.

»Wir brauchen ein Dutzend von unseren blauen Rosen, Komteß«, sagte Buchner, weil sie erschrocken stehenblieb, der Laden war voller Kundschaft.

»Ja, ich hole sie«, sagte sie schnell und hinkte eilig hinaus.

»Wer ist denn das?« hörte sie die Stimme der älteren Dame, die Buchner eben bediente.

»Das ist die Inhaberin des Geschäftes«, erwiderte er.

»Mein Gott, was für ein schönes Mädchen«, sagte die Dame.

Sie fand sie schön. Hatte sie das Hinken nicht bemerkt oder fand sie sie etwa trotzdem schön? Angelina stand im Kühlraum und wußte nicht mehr, was sie hier sollte. Schließlich kam Buchner, um nachzusehen.

»Ist Ihnen nicht gut, Komteß?« fragte er besorgt, weil sie so verwirrt und hilflos dastand.

Sie wandte sich ihm zu und fiel ihm dann um den Hals.

»Im Gegenteil! Es ist mir so gut, ich kann alles noch immer nicht ganz glauben. Woher hatte Dr. von Hohenried denn die Adresse?« fragte sie und lachte den alten Mann, der jetzt genauso verwirrt war wie sie, an.

Er wurde verlegen.

»War es nicht recht?«

»Es war sehr recht! Vielen, vielen Dank! Und bitte: Darf ich ›Onkel Buchner‹ zu Ihnen sagen.«

Jetzt hatte der Gärtner Tränen in den Augen.

»Mein Gott, Komteß!« Er räusperte sich energisch. »Aber ich muß jetzt wirklich die Kundschaft bedienen.«

*

Am folgenden Morgen stand Angelina lange vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch. Ihre Augen, ihr Haar, ihren Mund – es war richtig, sie war nicht häßlich. Aber so schrecklich blaß! Kränklich sah sie aus. Und dazu ihr Bein! Nein, ihre Mutter hatte leider wohl doch recht. Ein kranker Mensch, ein behinderter Mensch konnte nicht schön sein.

Vielleicht nicht schön, aber ansprechend? Sie seufzte. Wenn das zutraf, was die Mutter Oberin ihr erzählt hatte… vielleicht sah sie frischer aus, wenn sie sich ein wenig schminkte. Wie vor ein paar Tagen, als sie nach Hohenried hinausfuhr, tuschte sie die Spitzen ihrer langen Wimpern und verwendete ein zartes Rot für ihre Lippen. Es erschien ihr nicht genug, und sie legte etwas Rouge auf ihre Wangen.

Angelina war nicht sehr bewandert mit modischem Make-up. Ihre Mutter pflegte zu sagen: Je weniger du tust, je weniger du auffällst, um so besser. Das Ergebnis war danach. Mit einem tiefen Seufzer wischte sie sich das Rouge wieder ab.

Von ihren Kleidern wählte sie einen knöchellangen, schwarzgrau-gestreiften Wickelrock aus Baumwolle in Leinenstruktur, der ihren Schuh fast ganz verbarg. Eigentlich war er zu sommerlich, sie glich es mit einem schwarzen, seidenen Rollkragenpullover aus.

Sie kam sich ziemlich seltsam vor, wie sie, für ihre Verhältnisse aufgeputzt, im Geschäft erschien.

»Bitte, lachen Sie mich nicht aus, Onkel Buchner«, bat sie.

»Ich lache, weil ich mich freue, Komteß, daß Sie endlich ein bißchen eitel werden«, erwiderte er, und das Lachen zauberte zu seinen Furchen hundert kleine Fältchen um seine freundlichen Augen. Als Angelina daraufhin errötete, stellte er zufrieden fest: »Und jetzt haben Sie sogar noch rosige Wangen!«

Jedesmal, wenn das Telefon läutete, zuckte Angelina zusammen. War er das? Jedesmal, wenn die Türglocke anschlug, wurde ihr heiß. Kam er jetzt?

Es wurde Nachmittag, und weil sie nichts von Hohenried hörte, redete sie sich selbst zu: Unsinn! Die gute Mutter Oberin hat etwas geglaubt, was sie sich wünschte. Überlege dir lieber, was du ihm vorschlägst, falls er anrufen sollte wegen dieser Dekoration.

Es ging auf sechs Uhr. Angelina war zutiefst enttäuscht, auch wenn sie sich verzweifelt bemühte, es sich nicht anmerken zu lassen.

Schließlich konnte Buchner es nicht länger mit ansehen.

»Komteß«, sagte er vernünftig, »Sie dürfen nicht vergessen, daß Herr Dr. von Hohenried ein vielbeschäftigter Mann ist. Er hat in seinem Hotel sehr viel zu tun.«

»Ich weiß ja, Onkel Buchner«, erwiderte sie kleinlaut, weil er nun doch gemerkt hatte, wie es in ihr aussah.

In diesem Moment schlug die Ladenglocke wieder an. Buchner eilte hinaus, und sie hörte, wie er hörbar erleichtert und erfreut Hohenried begrüßte. Aber der schien nicht nach ihr zu fragen. Er bat Buchner, ihm zwölf Rosen von der orangefarbenen Sorte der Super Star zu einem Strauß zu binden.

»Einen wunderschönen Strauß«, sagte er lachend, »für eine wunderschöne junge Dame«, setzte er leise hinzu, und seine Augen blitzten vor guter Laune.

Buchner eilte durch den Arbeitsraum, wo Angelina ganz zusammengesunken an dem großen Tisch saß, in den Kühlraum. Er sagte nichts, lächelte aber zufrieden. Er band einen phantastischen Strauß, die Rosen mit Asparagus und Farn, und überreichte ihn Hohenried.

Der bezahlte ordnungsgemäß. Dann deutete er auf die Tür. Ist die Komteß dort drinnen? sollte das heißen. Buchner nickte strahlend.

Ohne anzuklopfen trat Ansgar Hohenried ein.

»Darf ich einer wunderschönen jungen Dame einen wunderschönen Strauß überreichen?« sagte er zu der völlig überraschten Angelina, und ehe sie etwas erwidern konnte, ergriff er ihre Hand und küßte sie. »Ich wollte Sie zum Abendessen einladen. Bitte, geben Sie mir keinen Korb.«

Angelina hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Blumenstrauß bekommen. Sie verbarg ihr Gesicht in der duftenden Pracht.

»Ich… ich…« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie war so unsagbar glücklich.

»Bitte«, bat Ansgar.

»Ich komme mit«, stieß sie hervor. Vielleicht war doch wahr, was die Mutter Oberin ihr verraten hatte. Sie strahlte Ansgar so selig an, daß er sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Aber er war lieber vorsichtig, er wollte sie keinesfalls erschrecken.

»Sie können ruhig schon gehen, Komteß«, sagte Buchner schmunzelnd, als die beiden, Angelina mit den Blumen im Arm, aus dem Arbeitsraum kamen. »Ich komm die letzte halbe Stunde schon allein zurecht. Soll ich die Rosen in eine Vase stellen?«

»Nein«, stieß Angelina hastig hervor, »ich nehme sie mit.«

Sie war noch nie in einem so eleganten Restaurant gewesen, weil sie sich immer wegen ihres Gebrechens gescheut hatte. Sie hatte noch nie so exotische Speisen gegessen – und sie hatte so gut wie keinen Appetit vor lauter Aufregung. Schließlich merkte sie, wie die Menschen im Lokal zu ihnen herüberstarrten.

»Warum sehen mich die Leute so an?« fragte sie erschrocken.

Ansgar ergriff ihre Hand.

»Weil sie mich alle um die schöne Dame beneiden, die ich heute ausführen darf.« Er küßte ihre Hand mit einem zärtlichen Blick in ihre Augen.

Angelina wußte nicht recht, wie sie auf das Kompliment reagieren sollte, und so sagte sie gar nichts, schlug nur, seinem Blick ausweichend, die Augen nieder und begann dann hastig zu beschreiben, wie sie sich die Blumendekoration für die Goldene Hochzeit seiner Eltern vorstellte.

Ansgar betrachtete sie verliebt, und ihre Unschuld und Ahnungslosigkeit in diesen Dingen ließ sie ihm noch reizvoller erscheinen.

Schließlich – sie war inzwischen nach dem Eingang, den Speisesälen, den Restsälen im Obergeschoß und dem Treppenaufgängen zu ihnen, bei der Schloßkapelle angelangt – unterbrach er sie: »Ich merke schon, es wird alles wunderschön. Aber ich möchte eigentlich heute etwas anderes mit Ihnen besprechen.«

Angelinas Herz begann wie rasend zu klopfen, und sie fürchtete, er könnte es hören, so laut schien es ihr zu schlagen.

»Ja?« fragte sie mit belegter Stimme.

»Herr Buchner hat mir erzählt, wie übel man Ihnen mitgespielt hat. Und ich bin der Ansicht, das sollte man nicht auf sich beruhen lassen.«

»Ach so.« Angelina wußte nicht recht, ob sie nun erleichtert oder enttäuscht sein sollte.

Er erriet ihre Gedanken und nahm mit einem leisen Lachen ihre Hand in die seine. Dann sprach er weiter.

»Ich bin ganz sicher, daß es Ihrem Vater nicht recht wäre, denn, wie mir auch die Oberin bestätigte, er hat Sie sehr geliebt.«

»Ja«, hauchte Angelina und hatte nun Tränen in den Augen. Dann nahm sie sich zusammen, entzog ihm vorsichtig, um ihn nicht zu kränken, ihre Hand und sagte: »Ja, ich weiß, mein lieber Vater! Aber wie soll ich mich verhalten? Ich glaube nicht, daß ich große Chancen habe, nach so langer Zeit.«

»Sie haben erst jetzt davon gehört und das ist das Ausschlaggebende«, erklärte ihr Ansgar. Sie nickte, doch man merkte ihr an, daß sie vor dem Prozeß und allem, was mit diesem Streit zu tun haben würde, Angst hatte.

»Ich habe einen sehr guten Anwalt. Sie geben ihm die Vollmacht, und er wird alles für Sie erledigen. Sie werden kaum in Erscheinung treten müssen. Außerdem habe ich einen Plan, wie ich die Herrenbergs dazu bringe, freiwillig Ihr Erbe herauszurücken.«

Angelina sah ihn mißtrauisch an. Sie konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Und als er ihn ihr darlegte, seufzte sie und meinte:

»Ist das nicht sehr grausam? Ich meine, zu grausam?«

Er ergriff wieder ihre Hand, und sie ließ sie ihm, weil es so gut tat, so dazusitzen, und schüttelte mit einem ernsten Lächeln den Kopf.

»Nein, das ist es nicht. Das haben Sie verdient. Aber Sie verdienen wirklich den Namen Angelina!« Und dann winkte er dem Ober, um zu zahlen.

Als er mit seinem schicken Sportwagen vor dem Blumengeschäft hielt, über dem Angelina ihre Wohnung hatte, stellte er den Motor ab. Er wandte sich ihr zu und fragte: »Ist es zu früh, wenn ich gerne Angelina und du sagen möchte?«

Sie brachte keinen Ton heraus, sie schüttelte nur ein wenig den Kopf. Da beugte er sich zu ihr hinüber und küßte sie ganz zart erst auf beide Wangen und dann auf den Mund. Angelina hatte das Gefühl, daß ihr schwindlig werde. Sie hielt die Augen geschlossen und bewegte sich nicht, wenn man davon absah, daß sie am ganzen Körper zitterte.

»Engelchen«, flüsterte Ansgar und zog sie fester in seine Arme. Und er küßte sie nochmals. Ein wenig zärtlicher, aber immer noch sehr, sehr vorsichtig. »Darf ich dich wieder besuchen?« bat er.

»O ja«, erwiderte Angelina und mußte auf einmal weinen und wußte nicht, warum.

Er wischte ihr mit seinem Taschentuch die Tränen ab. Dann stieg er aus, half ihr aus dem Wagen und begleitete sie bis zur Haustür, die er für sie aufschloß.

»Bis morgen, oder spätestens übermorgen. Ich weiß nicht genau, was alles anliegt. Aber ich rufe auf alle Fälle an.«

»Meine Rosen«, rief Angelina plötzlich erschrocken. »Ich habe sie im Restaurant stehen lassen.«

»Du bekommst andere«, versprach er lachend.

»Nein! Es müssen die sein!« beharrte Angelina.

Ansgar war gerührt.

»Gut, ich rufe noch heute in dem Lokal an und bringe sie dir morgen mit. Einverstanden?«

»Ja, danke.« Die Tür fiel hinter ihr zu, und Angelina stieg die Treppe hinauf, so leichtfüßig, als hätte sie Flügel und nicht ein zu kurzes Bein.

Von nun an kam Ansgar fast jeden zweiten Tag, und wenn er nicht kommen konnte, rief er morgens und abends an. Angelina leuchtete förmlich vor Glück, und Buchner fand, daß sie täglich schöner wurde. Nun wurde sie auch eitler, nahm sich die Zeit, einkaufen zu gehen. Einen eleganten, langen Rock, ein Kaschmir-Twinset mit passendem Seidentuch, eine Bluse in leuchtenden Farben, die sie bisher immer gemieden hatte. Und sie wagte es sogar, für ihren gesunden Fuß hübsche Schuhe zu kaufen – auch wenn sie nur einen tragen konnte. Ihre Behinderung machte ihr fast nichts mehr aus.

*

»Ansgar Hohenried hat uns zur Goldenen Hochzeit seiner Eltern eingeladen«, sagte Roswitha zu Rüdiger Herrenberg. »Die ganze Familie, auch deine Kinder und Holsten.«

»Ach ja?« sagte Rüdiger erfreut. Die Hohenrieds imponierten ihm, sie hatten Geld.

»Komisch, wir verkehren doch eigentlich nicht mit ihnen«, meinte Roswitha. »Früher, als Robert noch lebte…«

»Ich treffe den Sohn, Dr. von Hohenried, gelegentlich in irgendwelchen Aufsichtsratssitzungen. Sie haben an der gleichen Bank Anteile wie wir.«

»Ach?« sagte Roswitha nur. Das mochte ein Grund sein. »Der prächtigen Einladung nach ist es bestimmt ein Riesenfest. Wir sagen doch zu?«

»Ja, selbstverständlich, mein Schatz«, erwiderte Herrenberg, dem immer daran lag, zahlungskräftige Leute kennenzulernen. Irgendwann brauchten sie alle einen Anwalt.

»Ich rufe mal Sofie Kaltenberg an«, dachte Roswitha laut. »Die weiß sicher Genaueres.«

Natürlich wußte die Baronin Kaltenberg mehr.

»Ach, meine liebe Roswitha«, rief sie, als wäre sie über die Maßen entzückt von dem Anruf, »eben habe ich an dich gedacht.« Sie war nämlich immer entzückt, wenn jemand anrief, auch wenn sie anschließend über die Anrufe lästerte.

»Wie das?« fragte Roswitha etwas spöttisch, als dumm konnte man sie beim besten Willen nicht bezeichnen.

»Ob ihr auch zu der Goldenen Hochzeit der Hohenrieds kommt!«

»Genau deswegen rufe ich dich an«, erwiderte Roswitha.

»Weißt du, ob noch etwas anderes gefeiert wird? Wegen etwaiger Geschenke«, erklärte sie ihre Neugierde.

»Ich weiß es nicht sicher, aber man hat angedeutet, daß Ansgar Hohenried sich verloben will.«

»Ach. Und – gegen wen?« scherzte Roswitha.

»Stell dir vor, ich ahne es nicht«, sagte Sofie aufrichtig bekümmert.

»Das ist allerdings kaum vorstellbar«, stimmte ihr Roswitha boshaft zu. Und dann überlegte sie laut: »Vielleicht ist sie nicht aus unseren Kreisen.«

»Meinst du? Ja, das könnte eine Erklärung sein. Nun denke nur, ausgerechnet Ansgar, aus dieser adelsstolzen Familie!«

Nachdem sie noch ein wenig geklatscht hatten und Roswitha sich besonders herzlich nach ihrer Tochter erkundigte, was sogar Sofie verstummen ließ, legte Roswitha auf und wendete sich an Rüdiger, der mit einem Ohr halb zugehört hatte.

»So, wie ich Sofie kenne, verbreitet sie jetzt überall, daß Ansgar sich nicht standesgemäß verlobt hat.«

Der Baron lachte kurz auf.

»Hoffentlich nennt sie dich nicht als Urheberin des Gerüchtes.«

»Bestimmt nicht.« Roswitha lachte. »Du weißt doch, wie versessen sie darauf ist, alles immer als erste zu wissen.«

*

Zur Goldenen Hochzeit von Gertrud und Otto Hohenried schenkte der Himmel einen wahrhaft goldenen Oktobertag. Es war so warm, daß die Damen ihre Nerze und Zobelmäntel zu Hause lassen mußten und sich gleich in ihren großen Abendroben und dem Familienschmuck präsentieren konnten. Die Herren, in Frack oder Uniform, erschienen ordengeschmückt.

Man traf viele Bekannte, die man, je nach Stand und Vermögen, überschwenglich oder zurückhaltend begrüßte. Dann rauschte man durch das mit einer Girlande aus Rosen in leuchtendem Gelborange und Farn bekränzte Hauptportal in die Eingangshalle und die schöne Treppe hinauf, die mit der gleichen Girlande umwunden war. An der Tür zum Festsaal stand ein in den Farben der Hohenrieds livrierter Diener und nannte, nachdem man ihm die Einladung vorgezeigt hatte, laut Namen und sämtliche Titel der Gäste, die daraufhin von einem anderen Diener in Livree zu den am Fuße der Musikempore stehenden Jubelpaar geführt wurden. Hier überreichten sie ihr Geschenk, gratulierten und ließen sich dann von herumeilenden Dienern ein Glas Champagner reichen.

Als der Eintritt der Herrenbergs angekündigt wurde – Roswitha sah im Familienschmuck der Sternheims hinreißend schön aus – tauchte plötzlich neben dem Jubelpaar Ansgar in Begleitung eines märchenhaft schönen Mädchens auf. Sie trug ein cremefarbenes Kleid, dessen Falten bei der geringsten Bewegung ins Nilgrüne changierten. Es hatte einen tiefen Ausschnitt, aber lange Ärmel, und betonte die zerbrechliche Taille. Der Rock fiel weit bis auf den Boden. An Hals, Ohren und Händen funkelten herrliche Smaragde.

»Das ist sie«, flüsterte man, inzwischen längst von Sofie Kaltenberg informiert.

»Habt ihr gesehen? Gertruds Smaragde.«

Erst als die Herrenbergs beim Jubelpaar angekommen waren, erkannte Roswitha in der Märchenprinzessin die eigene Tochter. Sie wurde schneeweiß, und ihre Hand krampfte sich in Rüdigers Arm.

»Angelina!« stieß sie völlig fassungslos hervor.

»Liebe Roswitha, wie schön, daß ihr alle gekommen seid. Wir haben nämlich noch eine weitere Ankündigung zu machen.« Die Stimme von Gertrud Hohenried klang so eisig, daß auch den Herrenbergs, die Angelina nicht kannten, von Holsten ganz zu schweigen, die Gratulation in der Kehle steckenblieb.

Jetzt trat Ansgar auf die noch immer sprachlose und bleiche Roswitha zu.

Er sprach kühl und sachlich:

»Wir werden nun unsere Verlobung verkünden und gleichzeitig allgemein mitteilen, daß die Verwaltung von Angelinas Erbschaft damit in meine Hände übergeht. Sollten Sie damit nicht einverstanden sein und prozessieren wollen, wir haben keine Angst, da uns genügend Unterlagen für die Falschheit all Ihrer Behauptungen zur Verfügung stehen, und genauso für den Betrug, Herr Rechtsanwalt von Herrenberg.«

Herrenberg, der aufgrund seiner juristischen Erfahrung am ersten merkte, daß da kaum etwas zu machen sein dürfte, erwiderte sofort eifrig:

»Selbstverständlich sind wir mit allem einverstanden, mein lieber Ansgar. Wir wollten nur Angelinas Vermögen bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr richtig verwalten, wozu ein junges Mädchen ja kaum in der Lage ist…«

Ansgar musterte ihn verächtlich.

»Wie beruhigend, mein lieber Rüdiger, daß wir uns so einig sind. Damit vermeiden wir auch, daß alles in die Zeitungen kommt!«

Rüdiger zerrte die wie versteinerte Roswitha am Arm weiter, sein Sohn und seine Tochter und Holsten folgten erschrocken. Sie verstanden nicht ganz, um was es ging, aber daß es etwas sehr Unangenehmes war, war für niemanden, der in der Nähe gestanden hatte, zu übersehen.

Roswithas Hand zitterte so stark, daß sie die Hälfte des ihr gereichten Champagners verschüttete.

»Nimm dich zusammen«, zischte Herrenberg wütend. »Wenn etwas an die Öffentlichkeit dringt, ist nicht nur der Besitz verloren, sondern ich kann auch meine Kanzlei schließen.«

Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Gratulationscour vorüber war. Dann, als alle Gäste versammelt waren, trat Otto von Hohenried an das Mikrophon, das ihm ein Bediensteter reichte.

»Meine lieben Verwandten, Freunde und Honoratioren der Umgebung. Meine Frau und ich danken Ihnen für Ihre Glückwünsche und Geschenke. Aber nun möchten wir Ihnen noch eine große Freude mitteilen, damit Sie sich alle mit uns freuen können.«

»Jetzt kommt es«, hörte man Sofie Kaltenbergs schrille Stimme.

Alles lachte, und Otto Hohenried meinte amüsiert: »Unsere Sofie wußte es natürlich früher als alle – wahrscheinlich schon früher als die Beteiligten selbst. Also, mein Sohn Ansgar hat seiner Mutter und mir die große Freude bereitet, uns eine bezaubernde Braut ins Haus zu bringen: Angelina Komteß von Sternheim, die Tochter unseres unvergessenen Freundes Robert Reichsgraf von Sternheim.«

»Oh! Ah!« klang es durch den Saal. Er hob die Hand, um Ruhe bittend.

»Gertrud und ich wünschen Ansgar und Angelina, daß sie ebenso lange und glücklich verheiratet sind, wie wir beide es waren und bestimmt bis zu unserem, hoffentlich noch fernen Ende auch weiterhin sein werden. Wir hoffen, ihr alle schließt euch unseren Wünschen an.«

Wer hätte da zu widersprechen gewagt? Alle hoben ihre Gläser auf das junge und das alte Paar Hohenried.

Angelina glaubte zu träumen. Einmal hatte sie versucht, den Blick ihrer Mutter zu fangen, doch deren eiskalte, helle Augen blickten so haßerfüllt daß sie sich rasch wieder abwandte.

Im allgemeinen Trubel fiel es nicht auf, daß als Einzige ausgerechnet die Mutter Angelinas sich nicht zu ihrer Tochter hindrängte, um zu gratulieren. Rüdiger Herrenberg war wütend auf sie und ließ sie stehen, während er seine Kinder nach vorne schob, um gemeinsam mit ihnen zu gratulieren.

»Nicht traurig sein«, flüsterte Ansgar liebevoll Angelina zu, die verständlicherweise über das Verhalten ihrer Mutter unglücklich war. »Ich will, daß du nie wieder in deinem Leben traurig bist.«

*

Am folgenden Montag ging Angelina wieder in ihr Blumengeschäft. Sie war mit ihrer zukünftigen Familie übereingekommen, solange sie nicht von den häuslichen Pflichten abgehalten wurde, dort weiterzuarbeiten. Schließlich machte es ihr Spaß. Mit den ›häuslichen Pflichten‹ hatte man natürlich etwas ganz Bestimmtes gemeint, und Angelina war prompt errötet. Und sogar noch jetzt lag ein leichtes Rot auf ihren Wagen und ein glückliches Lächeln auf ihren Lippen. Ihre Wohnung würde sie allerdings Buchner zur Verfügung stellen und selbst zwei oder drei Zimmer im privaten Flügel von Hohenried beziehen.

Sie besprach dies eben mit Buchner, als plötzlich die Ladentür aufgerissen wurde, so daß die Glocke hektisch schrill läutete, als ihre Mutter hereinkam.

Angelina und Buchner fuhren beide erschrocken zusammen, als sie in das von höhnischem Haß verzerrte Gesicht der Baronin Herrenberg sahen. Nachdem Angelina sich gefaßt hatte, wollte sie auf Roswitha zugehen.

»Mama…«

»Spar dir dein Geheuchel, Komteß Hinkebein«, zischte die sie an. »Wie kannst du nur so blöde sein zu glauben, ein erfahrener Mann wie Ansgar Hohenried könnte sich in einen Krüppel wie dich verlieben? Wann hat er dir denn seinen Antrag gemacht? Ich gehe jede Wette ein, nachdem er wußte, wer du bist und nachdem er sich erkundigt hat, wie er an dein Geld kommt. Gratuliere zu dieser sogenannten Liebesheirat.«

Angelina war bei jedem Wort wie unter einem Schlag zusammengezuckt und sank nun kreideweiß auf einen Stuhl. Ihre Mutter lachte nur befriedigt.

»Glaube nicht, daß dein Vater damit einverstanden wäre, daß aus seinem Familienbesitz ein albernes Hotel gemacht wird. Noch dazu heute, wo jeder, der sich nur einigermaßen rühren kann, schon ein Hotel oder mindestens Restaurant in seinem alten Gemäuer eingerichtet hat.«

Angelina war keines Wortes fähig. Sie schlug nur die Hände vor das Gesicht, um die boshafte Freude ihrer Mutter an ihrer Verzweiflung nicht länger mit ansehen zu müssen. Buchner hatte sich inzwischen gefaßt und machte einen Schritt vorwärts.

»Frau Baronin…«

»Sie halten den Mund, Sie Schleicher! Wen interessiert die Meinung eines Domestiken? Noch mal, meinen herzlichsten Glückwunsch!« Und mit diesen giftstrotzenden Worten verließ sie das Geschäft, ebenso schnell, wie sie es vorher betreten hatte. An der Tür gab sie noch einem Bottich mit fertig gebundenen Sträußen einen Fußtritt, so daß er umstürzte und sich das Wasser über den Boden ergoß.

Eine Weile herrschte benommenes Schweigen. Dann räusperte sich Buchner und suchte nach Worten, um das verstörte Mädchen zu trösten.

»Glauben Sie nichts von dem, was diese Hexe sagt, Komteß! Sie ist nur wütend, weil sie keine Möglichkeit mehr hat, das Geld und den Besitz zurückzuhalten. Dr. von Hohenried liebt Sie ganz aufrichtig.«

Angelina saß zusammengesunken da.

»Nein«, sagte sie schließlich so leise, daß Buchner sie kaum verstand. »Meine Mutter hat recht. Er hat sich mir erst erklärt, als er von meinem Besitz wußte.«

»Aber Komteß!« Buchner versuchte, über ihren Einwand hinwegzulachen. »Auch wenn Geld kein Grund für eine Heirat oder eine Liebe ist – es ist schließlich auch kein Grund dagegen.«

»Nein«, sagte Angelina wieder unglücklich, »sicher nicht. Nur, ich bin ein Krüppel. Da ist alles anders.« Sie erhob sich so mühsam, als wäre sie eine uralte Frau. Sie hinkte so stark wie schon lange nicht mehr. »Ich gehe nach oben in meine Wohnung«, sagte sie, den Rücken Buchner zugewandt. Er sollte ihre Tränen nicht sehen. »Es tut mir leid, aber Sie können nun doch nicht einziehen.«

»Komteß!« rief er entsetzt.

»Schon gut, lieber Onkel Buchner«, erwiderte sie matt und verließ das Geschäft durch die rückwärtige Tür, die zur Treppe zu ihrer Wohnung führte.

Ich muß sofort Dr. von Hohenried anrufen, dachte Bucher aufgeregt, doch er kam nicht gleich dazu, da der Laden voller Kundschaft war.

Als er endlich Zeit fand und ans Telefon ging, betrat Angelina in einem Reisekostüm, einen Koffer in der Hand, das Büro, in welchem das Telefon stand. Verlegen legte er den Hörer wieder hin.

»Lassen Sie das, Onkel Buchner. Auch wenn es lieb gemeint ist, ich fliege in einer Stunde nach Venedig. Ich steige dort im Hotel ab. Das Zimmer habe ich bereits bestellt. In vier Wochen komme ich zurück. Bis dahin habe ich wohl alles überwunden, und Ansgar, ich meine Dr. von Hohenried, hat mich vergessen und eine andere lohnende Braut gefunden, die nicht verkrüppelt ist. Sie kommen doch zurecht, lieber Onkel Buchner? Und wenn etwas Dringendes ist, Sie kennen ja meine Adresse.«

Das Telefon schlug an, und Buchner hob ab.

»Ich bin nicht da«, flüsterte Angelina totenbleich.

»Bedaure, Herr Dr. von Hohenried, die Komteß ist im Moment nicht da.« Er legte auf und sah Angelina vorwurfsvoll an. »Er muß heute überraschend nach Hamburg, kommt jedoch am Abend zurück und meldet sich morgen bei Ihnen.« Er wartete. Draußen fuhr das bestellte Taxi vor.

»Sagen Sie ihm, ich würde zurückrufen. Irgendwann.« Dann umarmte sie den alten Gärtner heftig und lief, so schnell sie konnte, hinaus.

Sobald das Taxi abgefahren war, wählte Buchner die Telefonnummer von Hohenried.

*

Angelina war noch nie in Venedig gewesen, genaugenommen kannte sie so gut wie gar nichts von der Welt. Aber sie hatte gehofft, daß die Schönheit der Stadt sie von ihrem Schmerz ablenken würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Sie glaubte oder hatte jedenfalls den Eindruck, daß ganz Venedig von liebenden Paaren bevölkert war. Alten, die ihre Hochzeitsreise wiederholten, jungen, die auf der Hochzeitsreise waren, Verliebten, die sich mehr in die Augen als auf die Sehenswürdigkeiten schauten, und junge Ehepaare mit Kindern, denen am besten das Taubenfüttern auf dem Markusplatz gefiel.

Nur sie war allein.

Sie konnte nicht länger dem Fremdenführer zuhören, der aus der großen Vergangenheit Venedigs erzählte, als die Perle der Adria noch die Königin der Meere war. Heimlich stahl sie sich aus der Gruppe fort und hinkte müde und erschöpft zurück in das kleine Hotel, das in einer verborgenen Gasse lag. Sie befürchtete, in den großen, eleganten Häusern womöglich Bekannten zu begegnen.

Die Besitzerin, eine üppige, viel zu stark geschminkte, ehemals wohl sehr schöne und attraktive Frau, begrüßte sie mit strahlendem Lächeln und blitzenden schwarzen Augen.

»Ah, Contessa, da sind Sie ja! Der Schlüssel zu Ihrem Zimmer ist bereits oben.«

»Grazie«, murmelte Angelina und ging zum Aufzug, obgleich sie nur im ersten Stock des schmalen, hohen Hauses wohnte. Sie glaubte sich die Treppe nicht mehr hinaufschleppen zu können.

Der Schlüssel steckte nicht, aber als sie die Klinke drückte, war das Zimmer wirklich nicht versperrt. Sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern trat ein, ohne auch nur den Blick zu heben.

Ein betörender Rosenduft schlug ihr entgegen. Überrascht hob sie den Kopf.

Auf ihrem Bett lag Ansgar und las in einer Zeitung. Als er sie hörte, legte er die Zeitung zur Seite und stand lachend auf.

Angelina war einfach mitten im Zimmer stehengeblieben, unfähig, etwas zu sagen, so überrascht war sie und so froh und auch so verzweifelt.

Ansgar trat auf sie zu und zog sie einfach in seine Arme.

»Du dummes, kleines Mädchen«, sagte er, die Lippen in ihren weichen dunklen Locken. »Glaubst du wirklich, ich lasse dich so einfach fortlaufen? Zum Glück ist Onkel Buchner sehr viel klüger als du. Wie kannst du nur etwas auf das dumme, eifersüchtige Gerede deiner Mutter geben? Kennst du sie immer noch nicht?«

»Aber…«

»Kein Aber! Wenn du wirklich glaubst, daß ich nur dein Vermögen will, dann lasse es deiner Mutter. Nein, lasse es ihr nicht. Sie verdient es wirklich nicht, und auch dein Vater würde es nicht wollen. Gib es für ein Kinderheim aus – oder ein Altenheim oder für beides. Oder stifte es für die armen Müllkinder in Südamerika oder Rumänien. Wir beide brauchen es nicht, Angelina. Aber wenn Geld in rechte Hände kommt, kann man viel Gutes damit tun. Das solltest du nicht übersehen. Ich jedenfalls nehme dich, egal, für was du dich entscheidest.«

»Es ist mein Bein«, flüsterte Angelina unter Tränen, halb des Glücks und halb der Hilflosigkeit. Ansgar hielt sie von sich ab.

»Was sagst du?«

»Mein Bein!« Sie konnte ihn nicht ansehen.

»Dein Bein? Was ist mit ihm? Tut es dir weh?«

»Ach, Ansgar, versteh mich doch!«

»Nein, meine Liebste, ich verstehe dich beim besten Willen nicht. Und ich möchte auch nicht, daß du mir nochmals mit einer so dummen Ausrede fortläufst. Ich liebe dich nämlich, mein Schneewittchen, und deshalb habe ich wegen dir eine wichtige Besprechung in Hamburg sausen lassen. Aber das kann ich nicht öfter tun. Verstehst du das?«

Sie nickte und zog die Nase hoch, und er reichte ihr sein Taschentuch. »Du hast ja doch keines einstecken. Unser Flugzeug geht…«, er sah sie fragend an, »morgen früh. Ist dir das recht?«

»Ja«, flüsterte sie, denn sie verstand, was er damit meinte, und preßte fest ihr Gesicht an seine Schulter.

»Und jetzt möchte ich dir ein bißchen was von Venedig zeigen, damit du nicht ganz umsonst hier warst.«

*

Neun Monate später, acht Monate nach der prachtvollen, großen Hochzeit, bekam Angelina ihr erstes Kind.

»Ein wunderschöner, gesunder, kräftiger Junge«, lobte der Professor und hob den schreienden, puterroten neuen Erdenbürger an den Füßchen hoch.

Angelina sah zu Ansgar auf, der bei der Geburt dabeigewesen war. Genau wie sie hatte er Tränen der Rührung und des Glücks in den Augen.

»Und seine Beinchen?« fragte Angelina ängstlich.

»Was soll mit seinen Beinen sein?« Der Professor lachte. »Ich sagte doch schon: Ein Junge ohne jeden Fehl! Gratuliere, Frau von Hohenried. Und Ihnen natürlich auch«, wandte er sich an den Vater.

Der zweite Sohn erhielt auf Betreiben Ottos von Hohenried den Doppelnamen: Hohenried-Sternheim, damit der gute alte Name der Grafen Sternheim nicht ganz verlöschte. Sein Vorname war Robert im Andenken an Angelinas verstorbenen Vater.

Er würde einmal das Sternheimsche Vermögen erben. Jedenfalls einen Teil davon.

Denn mit einem großen Anteil des Vermögens hatte Angelina in einem Flügel des alten Schlosses ein Erholungsheim für behinderte Kinder eingerichtet. Mit der Möglichkeit zu therapeutischem Reiten, Schwimmkursen und all den Dingen, mit denen man sie fördern konnte, auch wenn ihre Eltern nicht das Geld hatten, so einen Kurs zu bezahlen.

Fürstenkrone Staffel 6 – Adelsroman

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