Читать книгу Fürstenkrone Staffel 6 – Adelsroman - Marisa Frank - Страница 13

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Antonia von Vallone stand mit dem Rücken zum Gatter und schaute zu den bewaldeten Höhen des Schwarzwalds hinauf. Es war ein strahlend schöner Frühlingstag. Tief atmete sie die würzige Waldluft ein, die der leichte, aus Richtung des Bodensees kommende Wind zu ihr trug.

»So allein?«

Die junge Frau unterdrückte ein Aufseufzen. »Wie Sie sehen, Herr Reinhardt«, antwortete sie und strich sich mit einer anmutigen Bewegung eine dunkelblonde Locke aus dem Gesicht. »Ich bin gern allein«, fügte sie mit Nachdruck hinzu. Seit sie vor acht Monaten eine Stelle als Pferdewirtin auf dem Gestüt der Bernstetts angetreten hatte, stellte ihr Max Reinhardt nach. Seine Familie arbeitete seit mehreren Generationen auf Bernstett, worauf er sich eine ganze Menge einbildete.

»Wir könnten heute Abend nach Freiburg ins Kino fahren«, schlug er vor und lehnte sich lässig neben die junge Frau ans Gatter. Die Pose, die er einnahm, hätte jedem Cowboy zur Ehre gereicht, bei ihm wirkte sie jedoch lächerlich. Seine grüne Gärtnerschürze störte gewaltig.

»Danke für die Einladung, Herr Reinhardt. Leider habe ich schon etwas vor«, antwortete sie und drehte sich den Pferden zu, die friedlich in ihrem Gehege grasten. Eines der Fohlen kam ans Gatter und streckte ihr vertrauensvoll den Kopf entgegen. Behutsam streichelte sie es.

»Wie kann man nur so vernarrt in die Gäule sein?«, fragte Max Reinhardt ärgerlich, weil sie den Pferden bedeutend mehr Aufmerksamkeit als ihm schenkte. Als An­tonia nicht reagierte, sagte er: »Sie halten sich wohl für etwas Besseres als unsereiner, weil Sie mit Prinzessin Louise befreundet sind. Glauben Sie mir, Frau von Vallone, einen Märchenprinzen werden Sie trotzdem nicht einfangen. An Ihrer Stelle würde ich nicht so wählerisch sein.«

»Warum lassen Sie mich nicht endlich in Ruhe, Herr Reinhardt?« Antonia wandte sich den Stallungen des Gestüts zu. Sie drehte sich nicht um, hörte jedoch, dass ihr Max folgte. Bereits im nächsten Moment umfasste er ihren rechten Oberarm. Mit einer heftigen Bewegung befreite sie sich. »Treiben Sie es nicht zu weit«, drohte sie mit funkelnden Augen.

»Antonia, wenn ich Sie nicht so lieben würde …«

Die junge Frau öffnete das Hoftor und schloss es energisch hinter sich, bevor Max Reinhardt ihr in den Hof mit den Stallungen folgen konnte. So gern sie sich über sein Verhalten bei Fürst Bernstett beschwert hätte, sie schreckte davor zurück, weil sie dem Gärtner keine Schwierigkeiten machen wollte. Zudem war sie bisher mit allen Problemen allein fertiggeworden.

Bernd Fischer, ein Mann Mitte dreißig, kam aus einem der Stallgebäude. Mit einem freundlichen Gruß verschwand er in der Scheune, in der das Heu gelagert wurde.

Antonia blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Es gab einiges, was sie noch zu tun hatte. Sie beeilte sich, weil sie sich mit ihrer Freundin verabredet hatte. Louise Prinzessin von Bernstett und sie hatten dasselbe Internat am Luganer See besucht. Sie, Antonia, war nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei einem inzwischen verstorbenen Großonkel aufgewachsen, der entfernt mit den Bernstetts verwandt gewesen war. Sie hatten ihm dieses Internat für sein Mündel empfohlen.

Antonia war ein Jahr jünger als die Prinzessin, die vor wenigen Wochen ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Seit ihrer Kindheit hatte sie den Wunsch gehabt, Pferdewirtin zu werden. Als ihr die Bernstetts nach ihrer Ausbildung angeboten hatten, auf ihrem Gestüt zu arbeiten, hatte sie sofort zugesagt.

Kurz nach vier Uhr sattelte sie die Stute der Prinzessin und ihr eigenes Pferd, einen schön gezeichneten Wallach namens Henry, den sie von ihrem verstorbenen Vormund zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte. Sie hatte die Pferde gerade in den Hof geführt, als Prinzessin Louise auch schon kam.

»Dann können wir ja gleich los, Antonia«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln und fütterte die beiden Pferde mit Leckerlis, die sie aus ihrer Hosentasche zauberte.

Bernd Fischer eilte über den Hof. »Lassen Sie mich Ihnen helfen, Hoheit«, bat er, als Louise aufsitzen wollte.

»Danke, Herr Fischer, das ist nicht nötig.« Louise schwang sich in den Sattel.

Der Stallarbeiter ließ sich von ihrer Abweisung nicht beirren. Er öffnete das Hoftor. Devot neigte er den Kopf, als die beiden jungen Frauen an ihm vorbeiritten.

Louise warf einen flüchtigen Blick zurück. »Ich mag diesen Mann nicht«, sagte sie. »Er hat etwas an sich …« Sie hob die Schultern. »Dabei ist er stets freundlich und zuvorkommend.«

»Ja, das ist er wirklich«, antwortete Antonia. »Wir kommen gut miteinander aus. Er gehört zu den Leuten, auf die absoluter Verlass ist.«

Louise zwinkerte ihr zu. »Mit deiner Menschenkenntnis ist es nicht besonders weit her«, scherzte sie. »Darüber sind wir uns seit Jahren einig. Mein Gefühl sagt mir, dass Bernd Fischer zu den ersten gehören wird, die mit Leon Schwierigkeiten bekommen.«

Fürst Albert, Louisas Vater, hatte vor einigen Wochen einen Herzanfall erlitten. Aus diesem Grund hatte er beschlossen, sich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen. Seinem ältesten Sohn, Prinz Frederik, hatte er die Geschäftsführung der familieneigenen Porzellanfabrik anvertraut. Prinz Leon sollte die Leitung des Gestüts übernehmen.

Leon hielt sich seit fast einem Jahr in einem Schweizer Sanatorium auf, in das er sich nach einem Autounfall zurückgezogen hatte. An diesem Abend wurde er zurückerwartet.

Er hatte seine Familie darum gebeten, von seiner Rückkehr nach Bernstett kein Aufhebens zu machen.

»Ich freue mich darauf, dass Leon die Leitung des Gestüts übernimmt«, erwiderte Antonia. »In den letzten Wochen sind einige wichtige Entscheidungen aufgeschoben worden, weil dein Vater sich nicht mehr um das Gestüt kümmern konnte und Frederik sich nicht zuständig fühlt.«

»Freu dich nicht zu früh, Antonia«, bemerkte Prinzessin Louise düster, während ihre Pferde nebeneinander hertrabten. »Leon hat sich in den letzten Monaten sehr verändert. Ihr habt euch zuletzt gesehen, als ich achtzehn wurde. Damals sprühte er vor Leben. Er stand erst am Anfang einer großartigen Reiterkarriere. Noch vor seinem Unfall sprach man von ihm als einen der Sterne am deutschen Reiterhimmel. Davon ist nichts mehr geblieben. Leon ist zu einem verbitterten, depressiven Mann geworden.«

»Wenn dein Bruder erst auf Bernstett ist, wird er nach und nach wieder am Leben teilnehmen«, sagte Antonia. »Ihr solltet nicht die Hoffnung aufgeben. Und er wird auch wieder reiten, da bin ich mir ganz sicher.«

»Ich wünschte, ich könnte daran glauben, Antonia«, antwortete die Prinzessin. »Nun gut, warten wir es ab.« Sie atmete tief durch. »Unsere Ausritte werde ich vermissen, wenn ich in England bin. So sehr ich mich auf meine Hochzeit mit Stephanos freue, mir wäre es bedeutend lieber, ich könnte ihn überreden, mit mir auf Bernstett zu leben.«

»Wie ich dich kenne, wirst du sehr oft in Deutschland sein, Louise«, meinte Antonia.

»Außerdem kannst du mich in London und in Cornwall besuchen. Du bist herzlich eingeladen.«

»Danke.« Antonia ließ sich nicht anmerken, wie sehr es sie bedrückte, sich in drei Wochen von Louise trennen zu müssen. Obwohl sie Prinz Stephanos, einem Verwandten des griechischen Ex-Königs, nur flüchtig kannte, war sie überzeugt, dass Louise mit ihm sehr glücklich werden würde. Ihre Freundin hatte von ihm geschwärmt, seit sie ihn als junges Mädchen anlässlich der Heirat Prinz Hakons mit Mette-Marit in Norwegen kennen gelernt hatte.

Gegen sechs kehrten die beiden jungen Frauen auf das Gestüt zurück. Louise wollte ihre Freundin zum Dinner ins Schloss einladen, doch Antonia lehnte ab. So gut sie auch mit Louisas Familie auskam, an diesem Abend hätte sie sich wie ein Eindringling gefühlt.

»Es ist der erste Abend, den dein Bruder seit einem Jahr zu Hause verbringt, Louise. Ich würde nur stören.«

»Wenn du meinst«, sagte die Prinzessin und verabschiedete sich von ihr.

Antonia hatte noch einiges zu erledigen, bevor sie das Gestüt verlassen konnte, um zu dem alten, von Haselnuss-Sträuchern umgebenen Pförtnerhäuschen zu fahren, in dem sie lebte. Es erhob sich rechts des Parktors und hatte bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts den Schlosswachen als Wohnstatt gedient. Kurz bevor Antonia es bezogen hatte, war es umfassend renoviert worden. Mit seinen efeubewucherten Mauern, den grünen Fensterläden und dem roten Dach wirkte es wie ein verwunschenes Hexenhäuschen.

Die junge Frau bereitete sich zum Abendessen ein Omelett und Salat, legte sich einen Film in den DVD-Player ein und machte es sich vor dem Fernseher gemütlich. Leider hielt der Film nicht, was sein Titel versprochen hatte. Mitten drin schaltete sie ihn aus, zog eine Jacke über und verließ das Haus, um sich noch etwas die Füße zu vertreten. Sie hoffte, bei ihrem Spaziergang nicht Max Reinhardt zu begegnen, der oft am Abend in der Nähe des Pförtnerhäuschens herumlungerte.

Zu Schloss Bernstett gehörte ein sehr weitläufiger Park, der hinter dem Schloss in dichten Wald überging. In den Ferien hatte sie oft Louise besucht und sich einmal in diesem Wald verlaufen. Es war Prinz Leon gewesen, der sie damals gefunden und ins Schloss zurückgebracht hatte.

Sie schlug den Weg ein, der zu einer schmalen Treppe führte, die sich einen Hügel hinauf zu einem Pavillon wand. Antonia saß dort besonders gern und hing ihren Gedanken nach. Dieser Pavillon war ein Geburtstagsgeschenk für Louises Urgroßmutter gewesen, die sich oft hierher zurückgezogen hatte, um zu malen.

Die junge Frau hatte die letzte Stufe erklommen. Sie wollte gerade den Pavillon betreten, als sie im Dämmerlicht die dunkle Gestalt bemerkte, die dort zwischen den Säulen stand und über den Park schaute. Der Schmerz, der sie wie ein unsichtbarer Mantel umgab, schnitt ihr ins Herz. Lautlos wollte sie sich zurückziehen.

»Sie müssen Antonia sein.«

Antonia zuckte beim Klang der Stimmt zusammen. »Ja, Hoheit«, sagte sie und trat in den Pavillon. »Ich wollte Sie nicht stören, Prinz Leon. Bitte entschuldigen Sie.«

»Schon gut«, antwortete er und drehte sich ihr zu. Auf den Fotos, die sie von Louises Bruder kannte, war Prinz Leon ein äußerst gut aussehender Mann mit dichtem dunklem Haar und braunen Augen, die vor Leben nur so sprühten. Der junge Prinz sah noch immer gut aus, auch wenn er im letzten Jahr hagerer geworden war und sich rechts und links seines Mundes zwei tiefe Falten eingegraben hatten. »Sie arbeiten also inzwischen auf unserem Gestüt.« Er machte keine Anstalten, ihr die Hand zu reichen.

»Die Arbeit macht mir große Freude, Prinz Leon.«

»Das setzte ich voraus.« Er bedachte sie mit einem langen, abschätzenden Blick. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.« Abrupt drehte er sich um und starrte erneut in die Nacht.

Es gab einiges, was ihm Antonia gern gesagt hätte. Es fiel ihr schwer, darauf zu verzichten. Jetzt konnte sie ihre Freundin verstehen, die meistens ziemlich wütend von ihren Besuchen bei ihrem Bruder zurückgekehrt war. »Ihnen auch einen schönen Abend, Hoheit«, erwiderte die junge Frau und stieg die Treppe wieder hinunter.

Erst, als sie nach Hause zurückkehrte, fragte sie sich, weshalb sie sich so über das Benehmen des jungen Prinzen ärgerte. Hatte Louise sie nicht vor Leon gewarnt? Auf jeden Fall würden die nächsten Wochen alles andere als einfach werden, da war sie sich sicher. So wie sie Leon von Bernstett einschätzte, würde er mit eiserner Hand die Geschicke des Gestütes leiten.

*

Antonia von Vallone irrte sich nicht! Prinz Leon von Bernstatt war fest entschlossen, die Energie, die er bis zu seinem Autounfall in seine Reiterkarriere gesteckt hatte, nun auf die Leitung des Gestütes zu konzentrieren.

Keine zwei Tage nach seiner Rückkehr begann er damit, die Arbeit auf dem Gestüt völlig umzuorganisieren, womit er sich unter den Angestellten keine Freunde machte. Dazu kamen sein despotischer Führungsstil und sein fester Wille, jegliche Auflehnung gegen seine Anordnungen im Keim zu ersticken. Fürst Albert hatte seine Angestellten stets aufgefordert, eigene Ideen in die Arbeit mit einzubringen. So hatte er es nicht nur in der Porzellanmanufaktur gehalten, sondern auch auf dem Gestüt. Prinz Leon machte vom ersten Tag an klar, dass er keinen Wert auf die Ratschläge seiner Angestellten legte.

An diesem Vormittag hatte Antonia den Tierarzt bei seinem wöchentlichen Routinebesuch unterstützt. Als sie den Arzt zu seinem Wagen begleitete, der vor dem Hoftor geparkt stand, hörte sie, wie Prinz Leon ziemlich lautstark Bernd Fischer beschuldigte, eine der ihm anvertrauten Stuten zu vernachlässigen.

»Sieht aus, als wären auf dem Gestüt stürmische Zeiten eingezogen«, bemerkte der Tierarzt und stieg in seinen Landrover. »Haben Sie auf sich Acht, Frau von Vallone.«

»So leicht wirft mich kein Sturm um, Doktor Winkler«, antwortete Antonia. Mit halbem Ohr lauschte sie auf die Stimmen, die aus dem Futterlager kamen. Wenn es zwischen Fürst Albert und seinen Angestellten Meinungsverschiedenheiten gegeben hatte, hatte er stets dafür gesorgt, dass sie unter vier Augen stattfanden.

Nachdem der Tierarzt abgefahren war, setzte sie sich in das kleine Büro, das ihr zur Verfügung stand, und füllte einige Formulare aus. Sie war fast damit fertig, als Leon Prinz von Bernstett ohne anzuklopfen die Tür aufriss. »Weshalb haben Sie mich nicht vorher über den Besuch des Tierarztes informiert, Frau von Vallone?«, herrschte er sie an.

»Weil es sich um den wöchentlichen Routinebesuch handelte, Hoheit«, erwiderte Antonia und erhob sich. »Ihr Vater …«

»Wie mein Vater derartige Angelegenheiten regelt, interessiert mich nicht, Frau von Vallone«, erklärte der junge Prinz. »Habe ich nicht ausdrücklich klar gemacht, dass in Zukunft auf dem Gestüt nichts mehr ohne meine Genehmigung zu geschehen hat?«

»Mir war nicht bewusst, dass der Routinebesuch des Tierarztes auch dazu gehört.« Sie schaute ihm unerschrocken ins Gesicht. »Doktor Winkler ist seit dem frühen Morgen auf dem Gestüt gewesen. Sein Wagen stand neben dem Tor. Ganz gewiss haben Sie ihn auch gesehen.«

Leons Gesicht verfärbte sich. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, Frau von Vallone, hüten Sie Ihre Zunge.« Er drehte sich um und verließ das Büro. Krachend flog die Tür hinter ihm zu.

Antonia sah empört auf die geschlossene Tür. Seit sie ihre Arbeit auf dem Gestüt angetreten hatte, hatte es niemand gewagt, so mit ihr zu sprechen. Und sie musste sich das auch nicht gefallen lassen, zumal sie sich keines Unrechts bewusst war. Was bildete sich dieser Mann ein? Weder sie noch einer der anderen Angestellten trugen die geringste Schuld an seinem Unfall und dessen Folgen.

Wütend steckte sie die Formulare, die sie ausgefüllt hatte, in Klarsichthüllen, verstaute sie im obers­ten Schubfach ihres Schreibtischs und trat in den Hof hinaus.

Bernd Fischer kam aus dem angrenzenden Stallgebäude. »Unser Herr und Meister hat heute besonders gute Laune«, bemerkte er düs­ter. »Wenn er so weitermacht, werden ihm die Leute davonlaufen. Mit seiner Sekretärin soll er sich heute auch schon angelegt haben.«

»Prinz Leon wird bald dahinterkommen, dass es so nicht geht«, antwortete Antonia. Sie überquerte den Hof und betrat das Bürogebäude. Durch die Glasfenster, die in einen breiten Korridor mündeten, konnte sie zwei Frauen vor ihren Computern sitzen sehen. Sie schauten nicht auf.

Mit einem Gruß betrat sie das Vorzimmer. »Ich hätte gern Seine Hoheit, Prinz Leon, gesprochen, Frau Stihl«, sagte sie zu Leons Sekretärin und ging zur Verbindungs­tür.

»Seine Hoheit möchte momentan nicht gestört werden, Frau von Vallone«, erwiderte die Sekretärin. Leise fügte sie hinzu: »Besser, Sie halten sich daran.«

»Nein, das werde ich nicht.« Entschlossen klopfte Antonia an die Verbindungstür und trat in das dahinterliegende Büro.

Leon von Bernstett zuckte heftig zusammen. Er hatte im Internet Fotos seines letzten Reitturniers abgerufen. »Was wollen Sie denn hier, Frau von Vallone?«, fragte er ärgerlich. »Ich hatte ausdrückliche Anweisung gegeben …« Er drückte auf den Einschaltknopf seines Wechselsprechers. »Frau Stihl, hatte ich Ihnen …«

»Frau Stihl kann nichts dafür«, fiel ihm Antonia ins Wort. »Sie sagte mir, daß Sie nicht zu sprechen sind.«

»Und warum dringen Sie dann hier ein?« Er schaltete den Wechselsprecher aus. »Wenn Sie denken, Ihre Freundschaft mit meiner Schwester …«

»Sie irren sich, Hoheit. Ich habe noch nie meine Freundschaft mit Ihrer Schwester in die Waagschale geworfen. Und Louise hat mit dem, was ich Ihnen zu sagen habe, auch nichts zu tun.«

»Was Sie mir zu sagen haben?« Die Lippen des jungen Prinzen verzogen sich spöttisch. »Da bin ich ja gespannt, was Sie mir zu sagen haben, Frau von Vallone.«

Antonia trat näher an den Schreibtisch, hinter dem Leon saß. »Sie sollten endlich aufhören, Ihre schlechte Laune an uns auszulassen, Prinz Leon. Niemand von uns kann etwas dafür, dass Sie Ihre Reiterkarriere beenden mussten.«

»Wie können Sie es wagen …« Er sprang auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. »Ich glaube nicht, dass ich mir Ihre Unverschämtheiten anhören muss.«

»Genauso wenig wie ich, Hoheit.« Antonia hob das Kinn und sah ihm unerschrocken in die Augen. »Seit Sie die Leitung des Gestüts übernommen haben, drangsalieren Sie uns, wo Sie nur können. Ich für meinen Teil denke jedenfalls nicht daran, mich weiterhin von Ihnen ungerecht behandeln zu lassen, nur weil Sie sich in Selbstmitleid ergehen.«

Leon starrte sie sprachlos an. Nie zuvor hatte es jemand gewagt, so mit ihm zu sprechen. »Raus!«, schrie er und wies zur Tür. »Verschwinden Sie endlich!«

»Was gesagt werden musste, habe ich gesagt«, erklärte Antonia ruhiger, als sie sich fühlte. Sie hatte sich dazu hinreißen lassen, weiterzugehen, als sie es vorgehabt hatte. Trotzdem bereute sie es nicht. Sie öffnete die Tür. »Einen schönen Tag noch, Hoheit.« Fast lautlos schloss sich die Tür hinter ihr.

Drinnen ballte Leon die Hände zu Fäusten. Er hatte große Lust, den gläsernen Briefbeschwerer von seinem Schreibtisch zu nehmen und ihn gegen die geschlossene Tür zu werfen. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. In Gedanken zählte er bis zehn. Langsam wurde er ruhiger. Er trat ans Fenster und starrte auf den Hof hinaus. Antonia stand mit einem der Stallburschen neben der Tränke. Sprachen sie über ihn?

Nein, das glaubte er nicht. Immerhin hatte sie eine Vertrauensstellung auf dem Gestüt und würde sich nicht die Blöße geben, mit den Stallburschen über ihn zu klatschen. – Und wenn? Was interessierte es ihn, was die Leute über ihn dachten?

Auch wenn er es sich nicht gern eingestand, so wütend er auch auf die junge Frau war, sie imponierte ihm. Er wusste ja selbst, wie oft er sogar seine eigene Familie vor den Kopf stieß. Jedes Mal, wenn ihn seine Geschwister im Sanatorium besucht hatten, war es zum Streit gekommen. Konnte er nicht verlangen, dass sie seinen Schmerz teilten? Was war von seiner Reiterkarriere übriggeblieben außer der Erinnerung an seine großartigen Erfolge? Und was wusste Antonia von Vallone, wie es in seinem Herzen aussah, wie düster ihm das Leben erschien?

Antonia hatte keine Lust, an diesem Tag das Mittagessen mit ihren Kollegen einzunehmen. Sie beschloss, ein Stückchen spazieren zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Vielleicht wäre es besser, die Stelle auf Bernstett aufzugeben, fragte sie sich. Nicht zum ers­ten Mal überlegte sie, ob sie sich nicht auf einem anderen Gestüt bewerben sollte. – Andererseits gefiel es ihr auf Bernstett und …

»Wurde mal Zeit, dass jemand dem Prinzen die Meinung sagt«, wurde sie von Max Reinhardt aus ihren Gedanken gerissen. Die Hände in die Seiten gestemmt, sah der Gärtner sie grinsend an. »Ja, so etwas spricht sich schnell herum.«

Nur Frau Stihl konnte diese Information weitergegeben haben. Sie musste wirklich ärgerlich auf Prinz Leon sein, wenn sie sich dazu hinreißen ließ, mit anderen über den Prinzen zu klatschen. So etwas passte nicht zu ihr!

»Ich bin dabei, am See ein neues Beet anzulegen.« Max Reinhardt wies mit dem Kopf zu einem ovalen See, der durch eine unterirdische Leitung mit Wasser gespeist wurde. »Dieses Jahr blühen die Seerosen besonders schön. Eine von ihnen habe ich nach ihnen benannt.«

»Soweit ich weiß, haben Sie bereits Namen«, bemerkte Antonia.

»Keiner dieser Namen hat so einen schönen Klang wie Ihrer, Frau von Vallone«, behauptete Max. Blitzschnell versuchte er, sie in die Arme zu ziehen.

»Lassen Sie das!« Sie stieß ihn zur Seite.

Er trat einen Schritt zurück. »Antonia, Antonia«, sagte er düs­ter, »irgendwann kommt eine Zeit, da werden Sie Freunde wie mich vergeblich suchen.« Mit einem letzten Blick drehte er sich um und kehrte zum See zurück.

Antonia ging eilig weiter. Sie ärgerte sich, überhaupt stehen geblieben zu sein. Das schien heute wirklich nicht ihr Tag zu sein. Erst ihre Auseinandersetzung mit Prinz Leon, nun auch noch Max Reinhardt … Vielleicht wäre es wirklich keine so dumme Idee, Bernstett nach Louises Hochzeit zu verlassen. Bisher war ihr der Besitz Fürst Alberts wie ein kleines Paradies erschienen, nun zeigten sich in ihm die ersten Schatten.

*

Louise Prinzessin von Bernstett verließ ihr Zimmer und folgte dem langen mit Ahornholz getäfelten Gang, der zur Treppe führte. Der dicke blaue Läufer verschluckte den Klang ihrer Schritte. Wie gewöhnlich blieb sie vor dem Porträt Prinzessin Eugenias stehen, das zwischen zwei Zimmertüren an der Wand hing. Schon als Kind hatte sie dieses Porträt fasziniert. Eugenia hatte Ende des achtzehnten Jahrhunderts gelebt. Sie war mit vierzehn Jahren an den französischen Hof verheiratet worden und einige Tage nach der Hinrichtung Marie Antoinettes ebenfalls durch die Guillotine umgekommen.

Wenig später trat die junge Frau auf die Galerie hinzu. Hier duftete es herrlich nach den Rosen, die in großen Steinkübeln rechts und links der Treppe standen. Langsam stieg sie die hellen Marmorstufen zur Halle hinunter.

Ihre Familie hatte sich im Ess­zimmer versammelt. Ihr Vater, Fürst Albert, stand an der Anrichte und schenkte sich einen Cognac ein, wenngleich ihm der Arzt Alkohol verboten hatte. »Ab und zu muss man sündigen«, war seine Devise, womit seine Gattin keineswegs einverstanden war, aber sie hatte es aufgegeben, ihn ständig zu ermahnen.

»Da bist du ja, Louise.« Er griff nach seinem Glas. »Wir haben gerade von deiner Hochzeit gesprochen. Ich werde dich vermissen, wenn du erst einmal in England lebst.«

Prinz Frederik zwinkerte seiner Schwester zu. »Pass nur auf, Louise, dass sich Vater nicht bei dir und Stephanos als Dauergast ein­nistet.«

»Eine gute Idee, Frederik«, meinte der Fürst amüsiert. »Wie denkst du darüber, Dorothee?« wandte er sich an seine Gattin, die bereits am Tisch Platz genommen hatte. »Sollen wir Louise und Stephanos bitten, für uns ein Gästezimmer zu reservieren? Wir könnten ein halbes Jahr in England

und …«

»Lass dich von deinem Vater nicht irremachen, Louise.« Die Fürstin lächelte ihrer Tochter zu. »Er liebt Bernstett viel zu sehr, als ihm länger als ein paar Wochen fernzubleiben.«

»In der Tat.« Fürst Albert setzte sich seiner Frau gegenüber an den Tisch. »Frederik, Leon, wir wollen essen«, forderte er seine Söhne auf.

Die Fürstin klingelte. Gleich darauf erschien der Butler. Ihm folgte ein älteres Hausmädchen mit dem Servierwagen. Gemeinsam reichten sie die Suppe und zogen sich gleich darauf zurück.

»Ich fahre nachher mit Antonia nach Freiburg«, sagte Louise. »Wir haben einen Termin bei der Schneiderin. Unsere Kleider sind nächste Woche fertig.«

»Hättest du dir nicht eine andere Trauzeugin als Antonia von Vallone aussuchen können?«, fragte Prinz Leon missmutig und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab.

»Was hast du gegen Antonia, Leon?« Prinz Frederik hob überrascht die Augenbrauen. »Ich mag sie sehr.«

»Bei Antonia handelt es sich um eine sehr nette, wohlerzogene junge Dame. Wir mögen sie sehr«, sagte Fürstin Dorothee. »Außerdem ist sie Louises beste Freundin.«

»Hast du dich etwa mit Antonia gestritten?« Louises Lippen umspielte ein Lächeln. »Hat sie dir etwa die Meinung gesagt? Wann war denn dieser historische Augenblick?«

»Ich habe es nicht nötig, mir von einer Angestellten die Meinung sagen zu lassen«, erklärte ihr Bruder eisig. »Davon abgesehen, ist diese Person äußerst anmaßend.«

»Sie hat dir die Meinung gesagt, Leon«, stellte Prinz Frederik zufrieden fest. »Ja, du wirst lernen müssen, dass auch unsere Angestellten ein wenig Respekt verdienen. Meinst du, wir wissen nicht, wie ungerecht du oft bist?«

»Ich bin nicht ungerecht, Frederik, ich verlange nur, dass mein Wort ohne Abstriche akzeptiert wird«, erwiderte Prinz Leon zornig, »und ich sehe nicht ein, weshalb ich es dulden sollte, meine Entscheidungen von Louises Freundin hinterfragen zu lassen.«

»Ich habe unseren Angestellten stets ein gewisses Mitspracherecht eingeräumt, Leon«, warf der Fürst ein. »An deiner Stelle würde ich daran nichts ändern.«

»Das ist schon geschehen, Vater.« Leons braune Augen funkelten vor Zorn. »Du hast mir völlig freie Hand gelassen. Möchtest du diese Entscheidung revidieren?«

»Nein, Leon, ich stehe zu meinem Wort.« Der Fürst blickte seinem Sohn ins Gesicht. »Hoffentlich bereust du es nicht eines Tages, die Zügel zu sehr angezogen zu haben.«

»Da gibt es nichts zu bereuen, Vater«, sagte Leon und wandte sich seiner Schwester zu. »Und was deine Antonia betrifft, ich denke nicht daran, ihr um deinetwillen irgendwelche Freiheiten zuzugestehen.«

»Darauf legt Antonia auch bestimmt keinen Wert«, meinte die junge Prinzessin. »Sie besitzt genügend Selbstvertrauen, um ihren Weg ohne Protegé zu gehen.«

Eine Stunde später befand sie sich mit ihrer Freundin auf dem Weg nach Freiburg. Sie erzählte Antonia von der Unterhaltung bei Tisch. »Du hast großen Eindruck auf Leon gemacht«, fügte sie hinzu. »Er ist zwar wütend auf dich und dennoch …«

»Dein Bruder hat nicht das Geringste für mich übrig, Louise«, fiel Antonia der jungen Frau ins Wort. »Seit unserem Streit geht er mir aus dem Weg, was mir nur recht sein kann. Nichts ist mir lieber, als in Ruhe meine Arbeit zu erledigen.«

»Was hältst du von Leon?«

»Was ich von deinem Bruder halte?« Antonia lachte auf. »Deine Eltern hätten ihm als Kind ab und zu die Leviten lesen müssen«, antwortete sie. »Er …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich halte ihn für einen zutiefst unglücklichen jungen Mann. Von einer Minute zur anderen sind all seine Zukunftsträume verronnen. Wenn er wieder reiten würde, könnte …«

»Es sieht nicht danach aus, als würde Leon jemals wieder reiten, obwohl er es trotz seines steifen Beines könnte.« Louise sah ihre Freundin von der Seite an. »Eventuell gelingt es dir, ihn dazu zu animieren.«

»Mir? Ausgerechnet mir, Louise?« Erneut lachte Antonia auf. »Wenn dein Bruder schon nicht auf euch hört, weshalb sollte er es auf mich?«

»So genau kann ich dir das nicht sagen«, gab die Prinzessin zu. »Heute beim Mittagessen hatte ich den Eindruck, als würde dich Leon insgeheim bewundern.«

»Louise, du träumst«, meinte Antonia. »Wie ich deinen Bruder kenne, sucht er verzweifelt nach einem Grund, um mich entlassen zu können. Er kann niemanden gebrauchen, der ihm die Stirn bietet.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.« Louise drosselte den Motor ihres Wagens, da sie Freiburg erreicht hatten.

Der Modesalon von Erika Hoffer lag mitten in der Innenstadt. Bereits ihre Urgroßmutter hatte für die Bernstetts gearbeitet. Sie war dreimal im Jahr für mehrere Wochen ins Schloss gekommen, um prächtige Roben und mit Spitzen besetzte Wäsche anzufertigen.

Erika Hoffer kam den beiden jungen Frauen mit einem strahlenden Lächeln entgegen. »Es ist alles zur Anprobe bereit, Prinzessin Louise«, sagte sie. »Sie werden begeistert sein.«

»Davon bin ich überzeugt, Frau Hoffer«, antwortete die Prinzessin.

Sie wurden in einen erlesen eingerichteten Raum geführt, der den exklusivsten Kunden des Mode­salons vorbehalten blieb. Ein junges Mädchen servierte Mokka und Gebäck.

Louise hielt sich nicht lange damit auf, mit Erika Hoffer Kaffee zu trinken. Es drängte sie, ihr Hochzeitskleid anzuprobieren.

Erika Hoffer öffnete den Biedermeierschrank, der seitlich der Couch stand. In ihm hingen zwei Kleider. Sie nahm Louises heraus, die sich hinter einem Paravant ihrer weißen Designerjeans und ihres Armani-T-Shirts entledigt hatte. Behutsam half sie der Prinzessin ins Brautkleid.

»Was für ein wundervolles Kleid«, sagte Antonia ergriffen. Louise wirkte, als sei sie einem Traum entstiegen. Über einem langen weiten Untergewand aus schim­mernder Seide, lag ein Kleid aus echter Brüsseler Spitze, die mit winzigen Swarovski-Kristallen bestickt war.

Louise drehte sich fasziniert vor dem Spiegel nach allen Seiten.

»Darf ich Ihnen den Schleier aufsetzen, Prinzessin?«, fragte Erika Hoffer. Sie griff nach dem zarten, mit einem Diadem gehaltenen Gebilde, das in einer mit schimmernden Satin gepolsterten Schachtel vor ihr auf dem Tisch lag.

»Ja, bitte.«

Louise schloss die Augen, als ihr die Chefin des Modesalons das Diadem sanft in die Haare drückte. Erst nach einigen Sekunden wagte sie es, in den Spiegel zu schauen. Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, erschien ihr durch das Diadem und den weißen Schleier fremd und gleichzeitig so vertraut. Sie sah Antonia an. »Jetzt wird es ernst«, meinte sie.

»Ja, es wird ernst«, bestätigte ihre Freundin.

»Die Welt hat selten eine schönere Braut gesehen, Prinzessin Louise«, sagte Erika Hoffer, »und ich bin sehr stolz, dass ich es sein durfte, der Sie den Auftrag für Ihr Brautkleid gegeben haben.« Sie betupfte sich die Augen mit einem weißen Taschentuch.

»Wenn nicht Ihnen, wem dann, Frau Hoffer?« Louise nahm die ältere Frau für einen Moment in die Arme.

Nachdem auch noch Antonia ihr Kleid anprobiert hatte, bummelten die beiden jungen Frauen durch die Freiburger Innenstadt und setzten sich schließlich in ein Straßencafé.

Prinzessin Louise träumte mit offenen Augen. Sie glaubte sich bereits in ihrem Hochzeitskleid mit Prinz Stephanos vor dem Altar stehen zu sehen.

Antonia berührte die Hand ihrer Freundin. »Wo bist du wohl mit deinen Gedanken?«, fragte sie belustigt, weil sie ahnte, woran Louise dachte.

»Bei meiner Hochzeit«, gab die junge Frau zu. »Der einzige Wehmutstropfen in meinem Glück ist, dass ich nach meiner Heirat sehr weit von meiner Familie und meiner besten Freundin entfernt leben werde.«

»Habe ich dir nicht versprochen, dich ab und zu in England zu besuchen?«, fragte Antonia. »Mir fällt unsere Trennung auch nicht leicht.« Sie hob die Schultern. »So ist es nun einmal. Man kann nicht alles haben.«

Louise probierte von ihrem Eis. »Kalt«, scherzte sie.

»Das war zu erwarten«, meinte Antonia.

»Könntest du nicht auch in England arbeiten?«, fragte Louise aus ihren Gedanken heraus. »Allerdings wird Leon damit nicht einverstanden sein.«

»Meinst du wirklich, ich würde deinen Bruder um Erlaubnis bitten, wenn ich mich entschließen sollte, in England zu arbeiten?«

Louises Lippen kräuselten sich spöttisch. »Sei ehrlich, Antonia, im Grunde deines Herzens magst du meinen Bruder.«

»Wie kommst du denn auf diese abwegige Idee?«, fragte Antonia, musste sich jedoch eingestehen, dass Louise nicht einmal so unrecht hatte. Sie verstand nicht, weshalb ihr der junge Prinz keineswegs so gleichgültig war, wie sie sich einzureden versuchte.

Die Prinzessin hob die Schultern. »Vielleicht lernst du auf meiner Hochzeit deinen zukünftigen Bräutigam kennen«, meinte sie. »Stephanos hat mehrere unverheiratete Cousins und …«

»Ich habe nicht vor, in naher Zukunft zu heiraten, Louise«, fiel ihr Antonia ins Wort. »Und glaube mir, keiner von den Cousins deines zukünftigen Gatten wird mir auch nur mehr als einen Blick schenken.«

»Warten wir es ab«, erklärte die Prinzessin. »Das Leben ist voller Überraschungen.« Sie widmete sich ihrem Eisbecher und ihren Träumen.

Ja, warten wir es ab, dachte Antonia. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich in einen von Prinz Ste­phanos Cousins zu verlieben. Zudem war sie sich nicht sicher, ob sie in England leben wollte. Sie fühlte sich auf Bernstett zu Hause. Auch wenn sie seit der Heimkehr des Prinzen mehrmals mit dem Gedanken gespielt hatte, ihre Arbeit zu kündigen, tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie todunglücklich sein würde, müsste sie eines Tages Bernstett verlassen. Aber warum? Was hielt sie auf Bernstett, wenn Louise in England lebte? Sie konnte sich diese Frage einfach nicht beantworten.

*

Das schrille Läuten des Telefons riss Antonia aus tiefem Schlaf. Verwirrt richtete sie sich auf, tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Es war erst kurz nach sechs. An diesem Samstag hatte sie frei und vorgehabt, wenigstens bis um acht Uhr zu schlafen.

Das Telefon läutete noch immer. Barfuß tapste sie in den Korridor und hastete die Treppe hinunter. »Vallone!«, meldete sie sich, kaum, dass sie den Hörer in der Hand hielt.

»Fischer!«, stieß ihr Kollege hervor. »Als ich vor zehn Minuten meinen Dienst antreten wollte, fiel mir sofort auf, dass etwas nicht stimmte.« Bernds Stimme überschlug sich fast. »Armand ist verschwunden. Seine Box steht offen.«

»Armand?«, wiederholte Antonia fassungslos. Bei Armand handelte es sich um ein einjähriges Fohlen, dessen Mutter vor zwei Monaten wegen eines inoperablen Tumors eingeschläfert werden musste. »Was heißt, die Box steht offen?«

»Sie steht offen«, wiederholte Bernd Fischer. »Und nicht nur die Box. Als ich kam, standen auch die Stalltür und der Durchgang zur hinteren Koppel auf.«

»Das kann nicht sein«, sagte Antonia. »Als ich gestern Abend die Stallungen kontrollierte, war alles in Ordnung. Ich … Haben Sie Prinz Leon verständigt?«

»Nein, noch nicht. Ich wollte erst mit Ihnen sprechen, Frau von Vallone. Wie ich den Prinzen kennen gelernt habe, wird er jedem einzelnen von uns den Kopf abreißen.«

Mir auf jeden Fall, dachte Antonia. Armand gehörte zu den Pferden, die ihr anvertraut waren. »Ich bin in spätestens fünfzehn Minuten auf dem Gestüt«, versprach sie. »Und bitte, rufen Sie Seine Hoheit an.«

In aller Eile zog sich die junge Frau an. Seit Bernds Anruf waren noch keine acht Minuten vergangen, als sie auch schon auf ihrem Fahrrad saß und zum Gestüt radelte. Was konnte Armand zugestoßen sein? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie war zwar nicht bei Armands Geburt dabei gewesen, aber sie hatte ihn mit großgezogen.

Der Sportwagen des Prinzen stand im Hof des Gestüts, als Antonia eintraf. Seine wütende Stimme wies ihr den Weg. Zusammen mit Bernd Fischer und einigen der anderen Stallknechte stand er vor Armands leerer Box.

»Ach, sind Sie auch schon da, Frau von Vallone?«, wurde sie von ihm empfangen. »Sie sind gestern Abend die Letzte in den Stallungen gewesen. Waren Sie noch bei Armand in der Box und haben Sie vergessen, die Tür zu verschließen?«

Antonia hob den Kopf und schaute ihm ruhiger als sie sich fühlte ins Gesicht. »Ich war bei Armand in der Box, bevor ich gegangen bin. Ich weiß hundertprozentig, dass ich die Tür geschlossen habe, Hoheit«, sagte sie. Ohne ihn weiter zu beachten, ging sie in die leere Box, blickte in jeden Winkel, so, als könnte sich das Fohlen versteckt haben.

»Die Box ist leer, Frau von Vallone.« Der Prinz war ihr gefolgt. »Wenn Sie die Tür tatsächlich richtig geschlossen hätten, wäre Armand noch da.«

»Sie sollten die Polizei verständigen, Hoheit.« Sie wandte sich ihm zu. Fast hätte sie trotz der Sorgen, die sie sich um das Fohlen machte, geschmunzelt, als sie bemerkte, dass er sich ebenso hastig angezogen hatte wie sie selbst. In der Eile hatte er seinen hellen Pullover linksherum übergestreift. Sie überlegte, ob sie ihn darauf aufmerksam machen sollte. Andererseits war das nicht wichtig. Wichtig war einzig und allein Armand.

»Armand gehört zu den Fohlen, die Höchstpreise erzielen. Nicht auszudenken, wenn ihm etwas passiert sein sollte.« Prinz Leon machte zwei Schritte auf sie zu. An diesem Morgen zog er sein linkes Bein stärker nach als gewöhnlich.

»Dann geht es Ihnen nur ums Geld, Hoheit?«, fragte Antonia wütend. »Armand ist mehr als nur ein wertvolles Fohlen, er ist ein Lebewesen aus Fleisch und Blut, das genau wie wir Angst, Kummer und Schmerz empfinden kann.«

»Was erlauben Sie sich?«, stieß er leise hervor. »Ich habe es wohl kaum nötig, mir von Ihnen Vorhaltungen machen zu lassen. Wären Sie gestern Abend Ihrer Arbeit mit der Gewissenhaftigkeit nachgekommen, die man in Ihrer Position verlangen kann, würde Armand in seiner Box stehen.«

»Auf den Gedanken, dass jemand Armand gestohlen haben könnte, sind Sie wohl noch nicht gekommen, Hoheit?«, fragte Antonia. »Das Hoftor stand nicht offen. Also müsste Armand sich in einem der übrigen Gebäude, im Hof oder auf der hinteren Koppel aufhalten.« Sie trat an dem Prinzen vorbei in den Gang. »Ihr habt bestimmt alles abgesucht?«, fragte sie die Männer, die bei der Stalltür standen.

»Selbstverständlich«, antwortete Bernd Fischer.

»Bei der hinteren Koppel steht das Gatter offen«, meldete ein älterer Mann, der in diesem Augenblick den Stall betrat.

»Was heißt, das Gatter steht offen?«, fragte Prinz Leon. »Weshalb hat das bisher niemand bemerkt? Muß man denn hier alles allein machen?« Er wandte sich an Antonia: »So weit Ihre Theorie von einem Diebstahl.«

»Eine offene Box, eine offene Stalltür und nun auch noch ein offenes Gatter«, sagte Antonia. »Ich bin überzeugt, Armand wurde gestohlen. Je eher Sie die Polizei einschalten, umso besser wird es sein, Hoheit.«

Der Prinz achtete nicht auf sie. Er wies die Männer an, die Umgebung nach dem Fohlen abzusuchen.

»Wenn Sie nicht die Polizei verständigen, werde ich es tun, Hoheit.« Antonia zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Während wir hier unsere Zeit vertun, können die Diebe mit Armand sonst wo sein. Wer weiß, wo sie ihn hinbringen.« Sie fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Wütend wischte sie sich über die Augen.

Leon Prinz von Bernstett atmete mehrmals tief durch. »Das Hoftor war verschlossen, Frau von Vallone«, sagte er. »Jedenfalls hat mir das Bernd Fischer versichert, und ich habe keinen Grund, ihm nicht zu glauben.«

»Wenigstens ihm glauben Sie«, bemerkte die junge Frau bitter. »Andererseits ist es mir völlig egal, ob Sie mir glauben oder nicht, es geht mir nur um Armand. Ich habe dabei geholfen, ihn aufzuziehen. Er vertraut uns.« In ihren Augen glänzten Tränen.

»Ich werde von meinem Büro aus die Polizei verständigen«, versprach Prinz Leon. Er berührte ihre Schulter. »Sie tun mir Unrecht, Frau von Vallone. Ich möchte auch nicht, dass Armand etwas zustößt. Auch wenn es oft nicht so aussehen mag, mir liegt sehr viel an jedem unserer Pferde.« Er zog ein sauberes Taschentuch aus seiner Jacke und hielt es ihr entgegen. »Bitte.«

Errötend griff Antonia danach. »Danke«, murmelte sie, bevor sie sich schnäuzte.

Leon wandte sich dem Bürogebäude zu. Antonia schaute ihm nach. Er spürte ihre Blicke. Warum fiel es ihm nur so schwer, die Meinung der jungen Frau zu akzeptieren? Antonia hatte recht. Statt ihr und den anderen Vorwürfe zu machen, hätte er sofort die Polizei einschalten müssen. Eine Tür konnte schon mal bei einem Kontrollgang vergessen werden, doch gleich mehrere?

Während er mit der Polizei in Freiburg telefonierte, blickte er aus dem Fenster seines Büros in den Hof hinaus. Antonia kam aus dem Stallgebäude, in dem sich Armands Box befand, überquerte den Hof und verschwand im Stall gegenüber. Er hörte das freudige Wiehern, mit dem sie von den Pferden begrüßt wurde.

»Haben Sie nicht heute einen freien Tag?«, fragte er, als sie wenige Minuten später im Hof zusammentrafen und er sah, dass sie dabei war, bei der Versorgung der Pferde zu helfen.

»Ich mache mir viel zu viel Sorgen um Armand. Da ein Großteil der Leute auf der Suche nach ihm ist, wird hier jede helfende Hand gebraucht.« Sie stellte die beiden Futtereimer ab. »Was hat die Polizei gesagt?«

»Sie ist auf dem Weg zu uns«, antwortete Leon. Er räusperte sich. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Frau von Vallone.«

Antonia hob irritierend die Augenbrauen. »Sie entschuldigen sich bei mir?«, fragte sie verblüfft.

»Ja, ich habe Ihnen Unrecht getan. Ganz sicher sind Sie auch ges­tern Abend Ihrer Arbeit äußerst gewissenhaft nachgekommen.«

Prinz Leon bot ihr die Hand. »Darf ich Sie heute Abend zum Essen einladen?« Er hatte kaum die Einladung ausgesprochen, als er sich fragte, ob er den Verstand verloren hatte. Ihm lag nichts an dieser jungen Frau. Warum tat er sich das an?

Meinte er wirklich sie? Antonia konnte es kaum fassen. Nein, sie hatte nicht die geringste Lust, mit Prinz Leon den Abend zu verbringen. Da konnte sie sich wirklich eine angenehmere Gesellschaft vorstellen. Wie kam er überhaupt dazu, sie …

»Gern«, antwortete sie, während sie noch nach den passenden Worten suchte, seine Einladung auszuschlagen. Erschrocken zuckte sie zusammen. War sie irrsinnig geworden?

»Das freut mich«, sagte er mit belegter Stimme. »Da Ihnen Pferde genauso viel bedeuten wie mir, wird uns der Gesprächsstoff bestimmt nicht ausgehen.«

Antonia bückte sich nach den Eimern. »Bitte entschuldigen Sie mich, Hoheit.« Eilig betrat sie den Stall. Erst, als sie sich sicher war, dass der junge Prinz sie nicht mehr sehen konnte, setzte sie die Eimer erneut ab. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt. Das konnte alles nur ein Albtraum sein. Hatte sie wirklich zugesagt, am Abend mit Prinz Leon zum Essen zu gehen? Genügte es nicht, dass man Armand vermutlich gestohlen hatte? Musste sie sich auch das noch antun?

Im Hof hielt ein Wagen. Sie hörte die Stimme von Prinz Frederik. Sein Bruder antwortete ihm.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Frau von Vallone?«

Antonia hob den Kopf. »Es ist alles in Ordnung, Fred«, sagte sie zu dem Stallburschen, der sie angesprochen hatte. Sie nahm die Eimer auf und trug sie zu den hinteren Boxen. Prinz Leon hatte sie mit seiner Einladung völlig überrumpelt. Bis zum Abend musste ihr eine Ausrede einfallen. Sie konnte nicht mit ihm zum Essen gehen, das war unmöglich!

Und warum sollte es unmöglich sein, fragte eine innere Stimme. Warum sollte sie nicht mit ihm ausgehen? Dieser Abend konnte ihre Zusammenarbeit erleichtern. Vielleicht würde er in Zukunft umgänglicher sein und auch einmal nach der Meinung seiner Angestellten fragen und auf ihre Ratschläge hören.

Ihre Gedanken wandten sich erneut Armand zu. Dem Hengstfohlen ging es bestimmt gut. Wer immer es gestohlen hatte, er hatte gewiss nicht vor, ihm ein Leid zuzufügen, sondern wollte es zu einem hohen Preis verkaufen. Aber wer zahlte Unsummen für ein Fohlen, für das der Verkäufer keinerlei Papiere besaß und dessen Abstammung er nicht nachweisen konnte?

Im Hof hielt ein weiterer Wagen. Gleich darauf meldete ihr Fred das Eintreffen der Polizei. »Sie werden sehen, in ein paar Stunden ist Armand wieder bei uns, Frau von Vollone«, sagte er zuversichtlich.

Ich wünschte, ich könnte daran glauben, dachte Antonia. Der Dieb hatte bestimmt dafür gesorgt, dass das Fohlen so schnell wie möglich außer Landes gebracht wurde. Armand konnte seit Stunden in der Schweiz oder in Frankreich sein. Vermutlich hatte der Dieb einen Helfer unter den Angestellten. Anders konnte es nicht sein. Jemand musste ihn in die Stallungen gelassen haben. Aber wer?

*

Im Laufe des Vormittags waren alle Angestellten des Gestüts von der Polizei vernommen worden. Gegen keinen von ihnen hatte sich ein konkreter Verdacht ergeben.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer unserer Angestellten an dem Diebstahl beteiligt war«, sagte Leon Prinz von Bernstett zu Antonia. sie saßen bei einem Glas Wein auf der Terrasse eines der exklusivsten Restaurants von Freiburg. Während des Essens hatten sie fast ausschließlich von den Pferden gesprochen.

»Und dennoch muss es so sein. Es gibt keine Einbruchsspuren«, erwiderte Antonia.

Der junge Prinz nickte düster. »In meiner Familie ist seit Jahrzehnten darauf geachtet worden, unsere Tiere nur in gute Hände zu geben. Mein Vater hat jeden Käufer auf Herz und Nieren prüfen lassen.« Er nippte an seinem Wein. »Wann haben Sie Ihre Liebe zu Pferden entdeckt?«

»Als ich das erste Mal auf Bernstett meine Ferien verbringen durfte«, sagte Antonia. »Ihr Vater hatte Louise und mich zu einem Ausritt mitgenommen. Am liebsten hätte ich in den Stallungen übernachtet.«

»Ich habe es als Kind manchmal getan. Natürlich nur heimlich.« Prinz Leon lachte leise auf. Sie hörte ihn zum ersten Mal lachen. »Ich war noch keine acht, als für mich schon feststand, Springreiter zu werden. Nachdem ich meinen Vater davon überzeugt hatte, dass es mein Herzenswunsch war, bekam ich von ihm einen eigenen Trainer. Ich …« Er seufzte auf. »Seltsam, wie sich das Leben von einer Sekunde zur anderen völlig ändern kann. Ich brauchte sehr lange, um zu begreifen, dass ich nach diesem Unfall nie wieder an einem Turnier teilnehmen werde.«

Antonia spürte den tiefen Schmerz in der Stimme des Prinzen. Es fiel ihr schwer, nicht nach seiner Hand zu greifen und sie mitfühlend zu drücken. Sie suchte noch nach Worten, als er sagte:

»Man sollte nicht glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Ich sehe Louise immer noch im Park mit ihren Puppen spielen. Meine Schwester wird Ihnen bestimmt fehlen, wenn sie in England lebt.«

»Ja, da bin ich mir sicher«, antwortete Antonia. »Während der letzten Jahre haben Louise und ich einen großen Teil unseres Lebens gemeinsam verbracht.«

»Ich werde sie auch vermissen«, gab er zu. »Als Louise geboren wurde, war ich schrecklich eifersüchtig auf sie. Frederik besuchte damals schon ein Internat in England. Ich dagegen war erst sechs Jahre alt und konnte nicht verstehen, weshalb ich meine Eltern mit ihr teilen sollte. Und nun heiratet sie in einer Woche …«

»Wie ich Louise kenne, wird sie ihre Familie oft besuchen«, meinte Antonia.

Er schaute ihr in die Augen. »Haben Sie je daran gedacht, meiner Schwester nach England zu folgen?«

Antonia kam es vor, als könnte er bis in ihr Herz sehen. »Daran gedacht habe ich«, gab sie zu, »besonders in letzter Zeit.«

»Tun Sie es nicht, Frau von Vallone.« Leon nahm ihre Hand. »Sie gehören nach Bernstett.« Abrupt ließ er ihre Hand los. »Ich glaube, wir sollten aufbrechen. Es ist ziemlich spät.«

Die junge Frau nickte. Es war ein schöner Abend gewesen. Sie hatte jede Minute in der Gesellschaft des Prinzen genossen und sie wäre gern noch länger hier sitzen geblieben, sah jedoch ein, dass jeder schöne Abend auch ein Ende finden musste. Ob er es ehrlich meinte, wenn er sagte, dass sie nach Bernstett gehörte? Sollte er doch etwas für sie übrighaben? – Nach wie vor konnte sie es nicht recht glauben. Nichts im Verhalten des jungen Prinzen hatte bisher darauf schließen lassen.

Ein Angestellter des Restaurants hatte den Wagen des Prinzen vorgefahren. Leon ließ es sich nicht nehmen, selbst für Antonia den Wagenschlag zu öffnen. Zuvorkommend half er ihr dabei, sich anzuschnallen.

»Danke.« Sie schenkte ihm ein erstauntes Lächeln.

»Nichts zu danken«, erklärte er, ging um den Wagen herum und setzte sich hinter das Steuer. »Das war der schönste Abend, den ich seit Monaten verbracht habe.« Er ließ den Motor an.

»Dann habe ich Sie also nicht gelangweilt?«, scherzte sie.

»Nicht eine Minute«, versicherte er und lachte.

Antonia konnte nicht fassen, wie sehr sich der junge Mann, mit dem sie an diesem Abend aus gewesen war, von dem übellaunigen Prinzen unterschied, den sie in den letzten beiden Wochen kennen gelernt hatte.

Louise hatte oft davon gesprochen, wie charmant ihr Bruder sein konnte, wenn er wollte. Gut, Prinz Leon hatte seit seinem Unfall keinen Grund gehabt, charmant und humorvoll zu sein. Sie konnte das sogar verstehen. Andererseits muss­te er sich endlich damit abfinden, seinem Leben ein neues Ziel zu geben.

Da jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nachhing, legten sie den Weg zum Schloss fast schweigend zurück. Antonia genoss es, neben Leon zu sitzen. So unverständlich es ihr auch erschien, sie wünschte sich, die Fahrt würde noch kein Ende nehmen.

Als hätte er ihren Wunsch erraten, bog er unerwartet von der Straße ab und hielt seitlich einer Blockhütte.

Antonia blickte überrascht auf. »Ist etwas mit dem Wagen?« fragte sie, als er den Motor ausschaltete.

Er schüttelte den Kopf. Flüchtig berührte er ihre Hand. »Nein, es ist nichts mit dem Wagen«, erwiderte er und wies in die Nacht. »Es ist so ein schöner Abend. Ich dachte, wir könnten uns noch etwas die Füße vertreten. Allerdings nur, wenn Sie es auch möchten, Frau von Vallone.«

»Das ist eine sehr gute Idee, Hoheit«, erwiderte Antonia.

»Fein!« Er stieg aus, lief zu ihrer Seite und öffnete den Wagenschlag. »Ich bin schon früher gern bei Nacht spazieren gegangen.«

Sie gingen zu dem Fahrweg, der von der Straße weg am Waldrand entlangführte. Nach wenigen Metern tauchten vor ihnen die Ruinen einer Kapelle auf, die vor Jahrzehnten eingestürzt war. Antonia kannte diesen Ort. Louise und sie waren hier oft entlanggeritten. Als Kinder hatten sie sich vorgestellt, zwischen den mit Moos bewachsenen Steinen würden Geister aus den vergangenen Jahrhunderten hausen.

»Habe ich Ihnen schon gesagt, was für ein schöner Abend das heute für mich gewesen ist, Frau von Vallone?«, fragte Prinz Leon und blieb bei den Ruinen stehen.

»Ja, das haben Sie.« Antonia sah ihn an. »Ich bin froh, Ihre Einladung angenommen zu haben. Es war auch für mich ein schöner Abend.« Sie hob die Schultern. »Irgendwie hatten wir keinen guten Start miteinander. Der heutige Abend hat das alles wettgemacht. Jedenfalls für mich.«

»Für mich auch, Antonia«, sagte er. »Darf ich Sie so nennen? Nicht auf dem Gestüt, nur privat.« Er nahm ihren Arm, ließ ihn jedoch gleich wieder los. »Ich bin oft etwas schwierig, aufbrausend und auch ungerecht.«

»Einsicht ist der erste Weg zur Besserung«, scherzte die junge Frau. »Ich habe nichts dagegen, wenn Sie mich Antonia nennen, Prinz Leon.«

»Das freut mich. Ich …«

Sie hörten einen größeren Wagen kommen. Instinktiv zog Leon die junge Frau hinter die Ruinen. Er legte einen Finger auf die Lippen. Sie nickte.

Es handelte sich um einen Kleinbus. Er fuhr an der Kapelle vorbei und verschwand zwischen den Bäumen.

»Kommen Sie!« Leon nahm ihre Hand.

Sie eilten den Fahrweg entlang, der nun sanft ins Tal zu einer Brücke hinunterglitt, die über einen breiten Bach führte. Verborgen hinter den Bäumen sahen sie, dass der Wagen vor der Brücke gehalten hatte und ein Mann ausgestiegen war. Suchend schaute er sich um. Unruhig blickte er mehrmals auf seine Uhr.

Er musste nicht lange warten. Aus der Richtung des Schlosses näherte sich eine Gestalt auf einem Fahrrad. Erst, als das Mondlicht direkt auf sie fiel, erkannten sie, dass es sich um Bernd Fischer handelte. Er sprang vom Fahrrad und ließ es achtlos auf die Wiese fallen.

Der Fremde ging ihm entgegen. Er schien wütend zu sein. Mehrmals schlug er Bernd Fischer grob gegen die Schulter. Die beiden Männer stritten sich heftig. Ab und zu drangen Wortfetzen zu ihnen hinauf. Leider konnten sie nicht verstehen, um was der Streit ging.

»Haben Sie den Mann im Kleinbus schon einmal gesehen?« fragte Prinz Leon leise.

»Nein.« Antonia wies aufgeregt nach unten. »Schauen Sie!«

Der Fremde reichte Bernd Fischer einen Umschlag. Bernd schaute hinein und verstaute den Umschlag in seiner Joppe. Im Gegenzug reichte er dem Fremden einen länglichen Gegenstand, den sie aus der Ferne nicht zu deuten mochten.

Der Mann drehte sich um und ging zum Kleinbus zurück.

»Ob es um unseren Armand gegangen ist?«, fragte Leon aus den Gedanken heraus. »Wir sollten ihm nachfahren.«

»Warum stehen wir dann noch hier?«

»Ja, warum stehen wir noch hier?«

Prinz Leon hatte Mühe, Antonia mit seinem steifen Bein zu folgen. Er biss die Zähne zusammen, als das Bein nach wenigen schnellen Schritten zu schmerzen begann.

Hinter ihnen näherte sich der Kleinbus. Mit einem raschen Griff zog er Antonia hinter die Bäume. »Nur noch wenige Meter«, sagte er mehr zu seiner als zu Antonias Beruhigung.

Endlich hatten sie ihren Wagen erreicht. Verborgen hinter der Blockhütte sahen sie noch die Rücklichter des Kleinbusses. Er fuhr in Richtung Freiburg.

Prinz Leon hatte mit seinem Sportwagen keine Mühe, den Kleinbus einzuholen. Er hielt genügend Abstand, um sich nicht verdächtig zu machen. Verbissen umklammerte er das Steuerrad seines Wagens. Antonia spürte die Wut, die den jungen Mann erfüllte. Sie konnte diese Wut verstehen. Immerhin deutete alles darauf hin, dass Bernd Fischer in den Diebstahl des Fohlens verwickelt war.

Nach einer Weile bog der Wagen vor ihnen in eine schmale Straße ein. Kurz darauf war er ihren Blicken entschwunden.

»Wir dürfen den Wagen nicht verlieren«, sagte Antonia, weil sie das Schweigen nicht länger ertragen konnte. In den letzten Minuten hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen.

»Das werden wir auch nicht. Bei Nacht werden auf dieser einsamen Straße kaum andere Wagen unterwegs sein.« Leon fuhr etwas schneller. Kurz darauf sahen sie erneut die Rücklichter des VW-Busses. Der Prinz drosselte den Motor.

Der VW-Bus bog erneut ab. Dieses Mal in einen geteerten Fahrweg, der zwischen Maisfeldern zu einem seit Monaten unbewohnten Gehöft führte.

Prinz Leon hatte die Scheinwerfer seines Wagens ausgeschaltet. Sie sahen, wie der VW-Bus durch das offene Hoftür fuhr. Gleich darauf erloschen auch seine Scheinwerfer.

Seitlich des Hofes gab es einen Platz, auf dem sie parken konnten. Als Leon ausstieg, spürte er, wie sehr sein Bein schmerzte. Er press­te die Lippen zusammen. Jetzt war keine Zeit, um auf Schmerzen zu achten. »Es wäre besser, Sie würden hierbleiben, Antonia«, meinte er besorgt. »Wer weiß …«

»Unsinn, ich komme mit«, entschied die junge Frau und schloss fast lautlos den Wagenschlag.

Ohne jedes Geräusch schlichen sie zum Hoftor. Im Mondlicht erkannten sie den VW-Bus. Seine Seitentür war aufgeschoben worden.

Das alte Bauernhaus wirkte düs­ter und unheimlich. Eine fantastische Kulisse für einen Geisterfilm, ging es der jungen Frau durch den Kopf. Es hätte sie nicht gewundert, aus dem Haus Stöhnen, Ächzen und Klagen zu hören, doch alles blieb still, fast gespenstisch still.

»Der VW-Bus stand nur wenige Meter von einem Schuppen entfernt, durch dessen geschlossene Tür ein schmaler Lichtstreifen fiel. Antonia prägte sich das Autokennzeichen ein.

Es handelte sich um eine Schweizer Nummer.

Plötzlich hörten sie ein Wiehern. Es klang empört und ängstlich zugleich.

»Ganz ruhig.« Leon umfaßte ihren Arm.

»Danke«, flüsterte Antonia. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre in den Stall gestürzt. Sie war sich ganz sicher, dass Armand in ihm gefangen gehalten wurde.

Leon ließ sie los. Er wählte auf seinem Handy die Nummer der Polizei. Er hatte gerade das Handy wieder eingesteckt, als sich die Schuppentür öffnete und der Mann, den sie verfolgt hatten, heraustrat. Er führte Armand am Halfter und wollte ihn zum VW-Bus bringen.

»Halt!« Prinz Leon trat ihm in den Weg.

Der Mann zuckte erschrocken zusammen. »Was wollen Sie von mir?«, fragte er schneidend. »Was haben Sie auf meinem Besitz verloren?«

»Das Fohlen gehört uns«, sagte Leon. »Es ist uns vergangene Nacht gestohlen worden.«

»Das kann jeder behaupten.« Der Mann lachte hart auf. »Verschwinden sie!«

»Nicht ohne unser Fohlen.« Leon wollte nach dem Strick greifen, der am Halfter befestigt war.

Der Mann ließ den Strick los. Im nächsten Moment hielt er ein Springmesser in der Hand. Kampfbereit stellte er sich Leon. »Versuchen Sie es!«, forderte er.

Antonia entdeckte einen etwa fünfzig Zentimeter langen Balken. Sie bückte sich nach ihm, um dem jungen Prinzen beizustehen. Auch wenn der Fremde ein Messer in der Hand hielt, sie waren zu zweit.

Noch bevor sie jedoch den Balken ergreifen konnte, stieß der Fremde blitzschnell mit dem Messer nach Leon, der gerade noch ausweichen konnte, stolperte und das Gleichgewicht verlor, dann versetzte der Mann Antonia einen so harten Stoß, dass sie ebenfalls stolperte. Schwungvoll warf er sich hinter das Steuer des VW-Busses und fuhr aus dem Hof in die Nacht hinaus.

Armand stieß mit seinem weichen Maul gegen Leon, so, als wollte er ihn auffordern aufzustehen.

»Heute habe ich mich bestimmt nicht mit Ruhm bedeckt«, meinte der junge Prinz bitter, als Antonia ihm aufhalf. Er hätte gern ihre Hilfe abgelehnt. Es kränkte ihn, dass sie ihn so schwach sehen musste.

»Das sehe ich anders«, meinte die junge Frau. »Ohne Ihr Eingreifen hätte dieser Kerl Armand über die Grenze entführt.« Sie umarmte das Fohlen. »Bald bist du wieder in deinem Stall«, versprach sie ihm. »Und was meinst du, was für Leckereien auf dich warten?«

Leon antwortete nicht. Er wählte die Nummer von Schloss Bernstett und bat seinen Bruder, ihnen einen Pferdetransporter zu schicken, danach setzte er sich erschöpft auf die klapprige Bank, die vor dem Bauernhaus stand.

»Das war ein sehr ereignisreicher Abend«, bemerkte Antonia und setzte sich neben ihn. »So leicht werden wir ihn bestimmt nicht vergessen.«

»Nein, das glaube ich auch«, bestätigte er. »Ich …« Er holte tief Luft. »Ich möchte Ihnen sagen, wie froh ich bin, sie an meiner Seite zu haben. Sie sind eine bemerkenswerte junge Dame.« Er grinste. »Das war als Kompliment gemeint. Derartige Abenteuer möchte ich in Zukunft nur noch mit Ihnen bestehen.«

»Danke, ich würde auch ganz gut ohne derartige Abenteuer auskommen«, erwiderte Antonia müde.

»Wir sollten unseren gemeinsamen Abend unter friedlicheren Umständen wiederholen«, meinte er. »Einverstanden?« Er bot ihr die Hand.

Antonia schlug ein. Als sich ihre Finger berührten, glaubte sie, ihr Herz würde Kapriolen schlagen. Es konnte nicht sein, dass sie sich in Prinz Leon verliebt hatte. Ausgerechnet in ihn.

Von Ferne hörten sie einen Polizeiwagen kommen. So gern sie noch einige Minuten allein mit dem Prinzen verbracht hätte, sie war froh, dem Bann, den seine Aura um sie gelegt hatte, entfliehen zu können. Sie fühlte sich wie benommen, war sich ihrer Gefühle überhaupt nicht mehr sicher.

Der Polizeiwagen fuhr in den Hof und hielt vor dem Bauernhaus. Prinz Leon ging den beiden Polizisten entgegen. Antonia hielt sich im Hintergrund. Den Arm um Armand gelegt, fragte sie sich, ob Louise wohl recht gehabt hatte und ihr Bruder sie tatsächlich mochte. Fast sah es so aus …

*

Während der nächsten Tage wurde auf Schloss Bernstett und dem Gestüt von kaum etwas anderem gesprochen, als von Armands Rettung und der Verhaftung Bernd Fischers. Keiner hätte es diesem freundlichen, netten Mann zugetraut, etwas mit Armands Entführung zu tun zu haben. Jeder hatte ihn gemocht und war davon überzeugt gewesen, dass er seine Arbeit auf dem Gestüt liebte.

Prinz Stephanos und seine Familie waren vor zwei Tagen auf Bernstett eingetroffen, und auch die ers­ten Hochzeitsgäste hatten bereits ihre Zimmer bezogen. Da einige von ihnen Kammerdiener und Zofen mitgebracht hatten, gab es selbst in den Räumen des Personals kaum noch ein freies Zimmer. Auch im ehemaligen Pförtnerhäuschen waren noch Leute untergebracht worden. Antonia hatte nichts dagegen. Die drei jungen Engländerinnen, die im Dienste der Windsors standen, liebten Pferde genauso wie sie und waren in ihrer Freizeit fast ausschließlich in den Stallungen anzutreffen.

Prinzessin Louise fand in den Tagen vor ihrer Hochzeit nur wenig Zeit für einen ihrer gemeinsamen Ausritte mit Antonia. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, kam sie darauf zu sprechen, wie glücklich sie darüber war, dass ihr Bruder und ihre Freundin sich inzwischen so gut verstanden.

»Du wirst sehen, spätestens in einem Jahr werden Stephanos und ich auf deiner Hochzeit tanzen«, prophezeite sie nicht nur einmal. »Kaum etwas würde mich glücklicher machen, als deine Schwägerin zu werden.«

»So froh ich darüber bin, mich mit deinem Bruder seit Armands Entführung gut zu verstehen, mit Liebe hat das nun überhaupt nichts zu tun«, widersprach Antonia und bemerkte, wie sie bei ihren Worten errötete. Rasch wandte sie das Gesicht zur Seite.

»Man sieht es«, bemerkte Louise schmunzelnd und umarmte sie.

Sah man ihr wirklich an, dass sie sich in Prinz Leon verliebt hatte? Und war es wirklich Liebe? Antonia war sich da gar nicht so sicher. Auch wenn ihr Herz bei jeder Begegnung mit dem Prinzen heftiger schlug und sie in seiner Gegenwart oft einen ganzen Schmetterlingsschwarm in sich spürte, es konnte nicht Liebe sein. Warum sollte sie sich ausgerechnet in einen Mann verlieben, der unter Depressionen litt und dessen Stimmung von einer Sekunde zur anderen umschlagen konnte? Nach wie vor fürchteten ihre Kollegen auf dem Gestüt seine Launen und vor allen Dingen die harten Worte, mit denen er beim geringsten Anlass sein Missgefallen ausdrückte. Und doch sah sie ihn seit Armands Entführung mit anderen Augen …

Am Freitagnachmittag hatte sich Antonia freigenommen, damit sie sich in Ruhe auf die Festlichkeiten vorbereiten konnte. Nach einem ausgiebigen Bad beschloss sie, einen Spaziergang zu machen. Sie freute sich auf den Polterabend ihrer Freundin, aber gleichzeitig fürchtete sie ihn auch. Louise glaubte fest daran, dass Leon sie zum Tanzen auffordern würde. Und wenn er es nicht tat? Wenn sie sich nur etwas vormachte? Würde an diesem Abend ihr Traum zerstört? – War es überhaupt ihr Traum? Nie zuvor hatte sich Antonia so voller Zweifel, so zerrissen gefühlt.

»So allein?«

Antonia zuckte heftig zusammen. Langsam wandte sie sich um. Ihr Herz schlug bis zum Hals. »Sollten Sie nicht bei den Gästen Ihrer Schwester sein, Prinz Leon?«, fragte sie betont lässig.

Fürstenkrone Staffel 6 – Adelsroman

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