Читать книгу Erik Neutsch: Der Wahrheit ein Stück näher - Marita Neutsch - Страница 9
Das 5. Buch wird beendet
ОглавлениеNach der Preisverleihung schrieb mein Vater an seinem 5. Buch weiter. Ab jetzt standen wir hauptsächlich telefonisch intensiv im Kontakt. Selbst an meinem Geburtstag, meinen letzten mit ihm, verzichtete er auf einen längeren Brief. Er rief mich lieber an, was ja auch viel schöner war, seine Stimme zu hören und mit ihm direkt zu reden.
Manchmal, wenn dann aber doch mal ein Brief von ihm kam, dann waren diese, wie früher, mit einem Zeitungsartikel über ihn und in einem entsprechenden Extrakommentar für mich versehen. Er konnte nicht anders, als mir seine Gedanken mitzuteilen. Das ist etwas, was ich auch heute so sehr vermisse!
Jeden Tag kam er mit seinem Buch weiter. Stück für Stück. Die Seiten füllten sich. In einem größeren Beitrag der Leipziger Volkszeitung Anfang Januar 2013, den er mir zusendete, las ich u.a. über ihn: "Zum Buch fünf, das von der DDR- Kunstindustrie erzählt, fehlen noch etwa 130 von rund 500 geplanten Seiten. Vier bis fünf Stunden täglich kann er noch sitzen und tippen. Da entsteht etwa eine halbe Seite."
Drei Zeilen weiter sagte er selbst: "Aber da ist noch das sechste Buch. Ich muss schreiben, solange es geht, jeden Tag. Und mich auf den Roman konzentrieren." (In: LVZ, 2.Januar 2013, S.3)
Er hatte sich immer wieder dahingehend geäußert, dass “Der Friede im Osten" sein Hauptwerk ist. Ich hoffte so sehr, dass er sein lang ersehntes Ziel erreichen würde!
Ganz deutlich kann ich mich noch an ganz viele Diskussionen aus früherer Zeit mit ihm erinnern, die vor allem an unserem Lieblingsplatz am Gudelacksee stattfanden. Dann nämlich, wenn ich Ferien hatte, fanden wir beide endlich auch mal so richtig Zeit füreinander. Vormittags saß er bereits ab 6 Uhr in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und arbeitete ununterbrochen viele Stunden. Er gönnte sich keine Pause. Er war, wenn er an einem Buch schrieb, sehr, sehr diszipliniert und fleißig. Das bewunderte ich immer an ihm.
Nur nachmittags widmete er sich seiner Familie. Wir hatten im Sommer immer viel Spaß miteinander, ob beim Sport, im Wasser oder im Wald. Wir hörten uns zu, erzählten über "Gott und die Welt". Es war eine sehr schöne Zeit, die ich einerseits sehr intensiv erlebte, und für die ich andererseits sehr dankbar bin. Auch mein Vater stellte noch mit seinen 80 Jahren rückblickend fest: "Am Gudelacksee, Marita, haben wir doch eigentlich immer eine sehr schöne Zeit miteinander gehabt! Du, Mami, Corinna und ich. Wir waren alle vier dort immer sehr glücklich!"
In unseren gemeinsamen Gesprächen kamen wir jedenfalls schon damals immer wieder auf sein großes Vorhaben zu sprechen, worüber bereits, im April 1964 (!) in einem Artikel der "Freiheit", als über sein Roman "Spur der Steine" berichtet wurde, zu lesen war: "Seine künstlerischen Pläne: ein größeres Romanwerk autobiographischen Charakters, die Zeit von 1945 bis 1970 umfassend..." (In: "Freiheit", 14.04.1964, S.6)
Damals war er 33 Jahre alt und ich war mit meinen gerade mal 10 Jahren sehr, sehr stolz auf ihn.
Fast 50 Jahre später sagte er zu seinem großen Epochenroman: "Es muss doch jemanden geben, der an das Experiment Sozialismus erinnert und da nicht nur die Konflikte von Intellektuellen beschreibt. Mag sein, dass das jetzt keiner lesen will, aber irgendwann fragt man, was damals eigentlich passiert ist. Dieses Schicksal widerfährt in Umbruchzeiten nicht erst heutzutage." (In: LVZ, 02.01.2013, S.3)
Im Juli 2013 musste er noch mal oder schon wieder für einige Tage ins Krankenhaus. Damit war er gar nicht einverstanden. Es fehlten ihm nur noch einige Seiten, die er aber sofort, als er wieder zu Hause war, in seinen Laptop eintippte. Er hatte es geschafft! Tatsächlich geschafft!! Wirklich wahr! Und wie war ich mit ihm unendlich glücklich, als er mir diese Neuigkeit mitteilte! Die erste Hürde hatte er nun nach so vielen Anläufen genommen! Nun konnte er sich also dem 6. Buch widmen. "Die Fragen nach dem Leben, seinem Entstehen und vor allem nach seinem Sinn, bauen sich hier erst vorsichtig auf (bezogen auf die ersten fünf Bücher) und werden im 6. Buch, bei einer Reihe von Nebenhandlungen, das eigentliche Zentrum sein, um das sich alles dreht." (In: "Spur des Lebens", S.132) Mein Vater hatte dafür ja schon vor Jahren, man kann schon sagen bereits vor Jahrzehnten, alles, was er zum Schreiben benötigte, recherchiert. Die Konzeption war längst fertig. Er war bestens vorbereitet. Es musste "nur" noch auf`s Papier...
Aber es kam alles anders.