Читать книгу Meine Zeit in Nigeria: »Everything happens for a Reason« - Maritta Hermens - Страница 6
INTRODUKTION
ОглавлениеStellen Sie sich vor, jemand kommt auf einem Event zu Ihnen und sagt:
»Ich habe gehört, dass sie eine Unternehmerin in Kanada waren und jetzt Englischlehrerin in Südkorea sind. Wir suchen Personen mit solchen Erfahrungen für unsere Privatschulen in Nigeria. Haben Sie Interesse?«
Das ist mir in Südkorea passiert.
Ich schaute ihn nur an und lachte. Der macht einen Witz, war mein Gedanke. Warum sollte ich das wollen?
»Ich kenne Sie doch gar nicht, und dann noch Nigeria. Nein, danke! Ich bin nicht daran interessiert. Außerdem habe ich einen guten Job hier, ich suche keine andere Arbeit.«
Er gab mir dennoch seine Karte und sagte nur: »Ich rufe Sie in einer Woche an. Vielleicht haben Sie dann ihre Meinung geändert.«
Woher sollte er meine Telefonnummer haben? Nicht von mir! Ich war weder im koreanischen Telefonbuch noch im Internet zu finden. Damit war für mich die Sache erledigt.
Fast zwei Wochen später rief er mich tatsächlich an. Ich konnte es kaum glauben. Ich fragte ihn woher er meine Nummer habe, aber er ging nicht darauf ein. Er fragte mich, ob ich es mir anders überlegt hätte? Ich sagte: »Nein! Ich habe kein Interesse!« und legte sofort auf.
Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bekannt, dass ein »Nein« in Nigeria »vielleicht« bedeutet. Er rief also alle paar Wochen an um zu fragen, ob ich sein Angebot annehmen wollte. Ich sagte jedes Mal »NEIN« und er sollte endlich aufhören mich zu kontaktieren.
Nach fast sechs Monaten machte er zum ersten Mal ein Angebot, das mich aufhorchen ließ. Er sagte: »Ich weiß, Sie glauben nicht, dass ich es ernst meine. Aber mit Privatschulen in Nigeria kann man sehr viel Geld verdienen.« Er sagte, dass er die nötigen Regierungskontakte habe und auch Leute, die in solche Projekte investieren würden. Als ich auch darauf wieder antwortete, dass ich nicht ernsthaft interessiert sei, schlug er vor: »Was sagen Sie, wenn ich Ihnen ein Hin- und Rückflugticket nach Abuja gäbe? Wären Sie dann interessiert? Sie könnten sich dort umschauen und selbst sehen, ob das Projekt umsetzbar ist. Nehmen Sie das Flugticket an, benachrichtige ich meine Kontakte in Abuja und die können Ihnen dann alles weitere erklären.«
Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte. Er hatte mich total überrumpelt. »Welche Verpflichtungen sind mit dem Flugticket verbunden?« fragte ich. »Keine! Wenn Sie zurückkommen und sagen: Sie wollen das Projekt nicht übernehmen, dann rufe ich nicht wieder an.«
Obwohl es nie mein Traum war, nach Afrika zu fliegen, dachte ich: Ein freier Flug nach Afrika – warum nicht? Vielleicht! Ich erklärte ihm, dass ich Zeit brauche, darüber nachzudenken. Er sollte mich in drei Wochen anrufen. Wen ich NEIN sage, dann möchte ich keinen Anruf mehr von ihm. Er gab sein Einverständnis.
Als ich den Hörer auflegte, war ich mir trotz aller Verlockungen zu hundert Prozent sicher: Da mache ich nicht mit.
In der ersten Woche nach dem Anruf war ich hin- und hergerissen. Ich flog zu der Zeit sowieso dreibis viermal im Jahr in ein anderes Land. Warum nicht nach Afrika? Hotel und Verpflegung würde ich selbst zahlen, wie sonst auch, nur der Flug, der wäre jetzt frei.
Dann kamen mir aber auch die vielen negativen Geschichten über Nigeria in Erinnerung, die schon seit Jahren im Umlauf waren.
Deshalb beschloss ich, mit einigen meiner internationalen Freunde darüber zu sprechen. Wir trafen uns immer einmal im Monat zu einem »Fine Dining« in Itaewon, einem Stadtteil von Seoul. Eine gute Gelegenheit, unsere bisherigen koreanischen Erfahrungen auszutauschen.
Als ich unserer Gruppe von meiner Begegnung mit dem Nigerianer erzählte, hatte jeder seine eigene Meinung darüber.
Janice, meine Freundin aus Australien, sagte: »An deiner Stelle würde ich das Angebot annehmen. Schau dir Abuja an, sprich mit seinen Kontakten und bilde dir dann Deine eigene Meinung.« Janice war 5 Jahre älter als ich. Bis zu ihrem Tod – 2017 – hatte sie 64 Länder besucht und in vielen auch mehrere Jahre gearbeitet.
Sofort konterte eine andere Bekannte aus Indien: »Nigeria ist viel zu gefährlich! Dort kannst du nicht alleine hinfliegen. Eine weiße Frau in deinem Alter? Was ist, wenn dort etwas passiert und du nicht wieder zurückkommen kannst?«
So hatten alle sechs Freunde verschiedene Meinungen dafür oder dagegen.
Als der Abend zu Ende ging, war ich trotzdem nicht viel schlauer. Der Beitrag hatte nur eine hitzige Diskussion in unserer gemeinsamen Runde ausgelöst. Erst als ich mit Uzo, einem Nigerianer, den ich in der Kirchengemeinde kennen gelernt hatte, darüber sprach, kam ich zu einer Entscheidung. Uzo sagte, dass er von dem Mann schon mal gehört hätte. Er arbeite in der nigerianischen Regierung. Immer wieder betonte er, dass Nigeria kein gutes Land für Frauen sei, besonders für Ausländerinnen. Es sei zu gefährlich.
Je mehr er erzählte, umso entschlossener war ich, mir selber eine Meinung über Abuja zu bilden. Nur eine Woche! Was kann da schon passieren?, sagte ich mir selbst. Ich war schon immer ein Rebell gewesen. Wenn es heißt »Nein« – dann mache ich es auf jeden Fall.
Als Uzo bewusst wurde, dass ich das Angebot annehmen würde, wurde er besorgt. »Ich werde meinen Freund Patrick anrufen. Er wohnt auch in Abuja. Vielleicht hat er eine Woche Zeit, dir zu helfen.« Ich verstand nicht, warum ich Hilfe brauchen würde, doch Uzo erklärte mir, dass ich jemanden brauchen würde, der mich vom Flughafen abholen und den ich die Woche an meiner Seite haben sollte, um mir zu helfen, falls ich in Schwierigkeiten geriete. Ich würde ihn natürlich bezahlen. Also nahm ich Kontakt auf mit Patrick und regelte alles Finanzielle im Vorfeld mit ihm.
Einen Monat später flog ich für eine Woche nach Abuja, Nigeria. Mein erster Flug von mehreren, die noch kommen sollten.
Ich war froh, dass Patrick mich vom Flughafen abholte. Der Flughafen war voll mit Einheimischen, die mir überteuertes Zeug verkaufen oder ein teures Taxi aufschwatzen wollten. Wir gingen zu seinem Auto und dort lernte ich auch seine neue Ehefrau kennen. Sie hatten erst vor ein paar Wochen geheiratet. Beide waren mir sehr sympathisch. Patrick fuhr mich zu meinem Hotel und bevor wir uns verabschiedeten, lud mich seine Frau zum Abendessen bei ihnen ein. Ich nahm die Einladung gerne an.
Am Abend, nach dem Essen, zeigte Patrick mir eine Liste verschiedener Schulen. Er hatte für die kommenden Tage schon einige Termine vereinbart, um mir den Unterschied zwischen den öffentlichen und den privaten Schulen zu zeigen. Er selbst war Lehrer an einer öffentlichen Schule.
Nachdem Patrick mir in der Woche die Stadt und die verschiedenen Schulen gezeigt hatte, war ich von der Information total überwältigt. Der Unterschied zwischen diesen Schulen war enorm.
Die erste Schule, die ich mit Patrick besuchte, war eine Privatschule, die besser ausgestattet war, als die meisten Schulen, die ich aus Deutschland oder Kanada kannte (Anfang 2000). Im Computerraum standen reihenweise Computer mit Druckern und allem was dazugehörte. Ein Biologielabor mit einer so kompletten Ausstattung, wie ich es noch nie, in dritten Ländern, gesehen hatte. Auch die Schule selbst war sehr gepflegt, inklusive der Gärten, vor und hinter dem Gebäude.
In dieser Schule sind sicherlich nur die Kinder von sehr, sehr reichen Eltern. Ich konnte mir vorstellen, dass ein britisches Internat für die Reichen, in England, so aussehen würde. Nigeria erlangte erst am 1. Oktober 1960 seine Unabhängigkeit von England, daher mein Bezug zu England.
Patrick zeigte mir danach noch weitere Privatschulen, nicht ganz so üppig ausgestattet wie die erste Schule.
Am dritten Tag fuhren wir etwas außerhalb von Abuja zu einer öffentlichen Schule. Ich konnte nicht glauben, was ich vor mir sah. Ein großes Gebäude ohne Fensterscheiben, mit Klassenzimmern so überfüllt mit Kindern, dass manche auf der Fensterbank sitzen mussten. Als wir in die Klassenzimmer gingen, freuten sich die Kinder, dass ich von ihnen Fotos machte.
Obwohl die Schule sehr erbärmlich aussah, trugen alle Kinder Schuluniformen.
Patrick zeigte mir auch die Schule, in der er selbst arbeitete. Sie sah nicht viel besser aus als die anderen öffentlichen Schulen. Er hatte Andeutungen gemacht, dass er gerne in einer Privatschule arbeiten wollte. Vielleicht wenn unser Projekt fertig sei? Daher weht der Wind, dachte ich. Ich erklärte ihm, dass ich mich bis dahin noch nicht entschieden hatte.
Am Nachmittag des zweiten Tages hatte ich einen Termin mit einem Architekt. Er war einer der Kontakte des Mannes, der mich in Korea angesprochen hatte. Der Architekt war ein großer, stämmiger Mann, ein angenehmer Typ. Er zeigte mir seine Pläne, die er für eine Privatschule in Abuja hatte. Daraufhin sagte ich: »Es gibt doch schon viele in Privatschulen in Abuja, warum noch eine mehr?« Er war überrascht, dass ich schon einige Schulen besichtigt hatte.
Ich erklärte ihm, dass ich mich mit seinen Plänen vertraut machen wollte, ehe ich mich entschied. Wir vereinbarten, uns an meinem letzten Tag, vor meinem Rückflug wiederzutreffen.
An einem der Nachmittage, an dem ich keinen Termin hatte, wollte ich die Umgebung unbedingt alleine kennenlernen. Das Hotel lag sehr zentral und war einfach wiederzufinden. Als ich die Nebenstraße entlang, ging hörte ich auf einmal die Stimme eines Mannes durchs Gebüsch. Ich hörte zu und merkte, dass er Unterricht gab. Im Freien auf der Straße! dachte ich. Was macht der hier? Ich ging durch das Gebüsch und erreichte einen freien Platz, auf dem ein grob aufgestelltes Zelt stand. Darin saßen zehn Kinder verschiedenen Alters und hörten einem Mann zu, der vor ihnen stand, mit einem Stock in der Hand. Auf einer Tafel lehrte er verschiedene Fächer. Als er mich sah, zeigte er mit seinem Stock auf einen Stuhl und wies mich an, mich dorthin zu setzen. Die Kinder hörten ihm angespannt zu, ohne irgendwelchen Unsinn zu machen, wie wir es von unseren Kindern gewohnt sind. Ich blieb einige Zeit und verabschiedete mich. Er bat mich, doch wiederzukommen.
Ich ging am nächsten Nachmittag wieder hin und brachte Schreibmaterial für ihn und die Kinder mit. Diesmal wollte er zeigen, was die Kinder schon alles gelernt hatten. Ich war beeindruckt! Die Kinder zeigten, dass sie die Fragen alle beantworten konnten, egal ob es Rechnen, Lesen, Schreiben oder Erdkunde war. Diesmal blieb ich etwas länger und nach seinem Unterricht unterhielten wir uns. Er erzählte mir, dass er früher Lehrer an einer öffentlichen Schule gewesen war, aber durch Krankheit seine Arbeit verloren hatte. Jetzt sei er wieder gesund, aber leider machte seine Arbeit jetzt ein anderer. Er wollte nicht untätig sein und fing daher an, die Kinder von Eltern zu unterrichten, die sich keine Schule leisten konnten. Sie gaben ihm etwas Geld, damit er über die Runden kam.
Mir wurde jetzt bewusst, wie schwierig das Leben in Nigeria sein musste, auch für gebildete Menschen. Ich verabschiedete mich von ihm und versprach, bei meinem nächsten Aufenthalt in Nigeria nochmals vorbeizukommen.
Ich musste die ganze Zeit darüber nachdenken, wie absurd es war, wieder eine Privatschule zu bauen, wenn so viele arme Kinder in dieser Gegend keine Gelegenheit hatten, überhaupt zur Schule zu gehen, nur weil die Eltern zu arm sind.
Am nächsten Morgen rief ich den Kontakt in Korea an und erzählte ihm, was ich von seinem Projekt hielt, und dass ich lieber eine Schule für arme Kinder leiten würde. Erst war Stille. Ich dachte schon die Verbindung sei wieder verlorengegangen. Auf einmal schrie er ins Telefon: »Ich will viel Geld in Nigeria machen! Mit den Armen verdient man kein Geld! Wenn Sie das nicht verstehen, dann suche ich mir jemand anderen!« Ich sagte nur: »Okay, machen Sie das« und legte den Hörer auf.
Danach habe ich nie wieder von ihm gehört.
Der Architekt rief mich kurz nach diesem Anruf an. Er hatte von seinem Kontakt in Korea gehört, dass ich es mir anders überlegt hatte und wollte mit mir sprechen. Ich erzählte ihm, dass ich lieber daran interessiert war, den Armen zu helfen und von dem, was ich gesehen und erlebt hatte. Wir tauschten unsere E-Mails aus und versprachen »in touch«, also in Kontakt zu bleiben. Ein paar Monate später bekam ich eine E-Mail von dem Architekten, dass er mit einigen Leuten gesprochen habe. Sie fänden meine Idee gut und wollten mitmachen.
Ich flog danach noch mehrmals nach Nigeria bis alles soweit war, dass Karen und ich uns in Nigeria niederlassen konnten.
Dies war der Anfang eines außergewöhnlichen und verrückten Abenteuers!