Читать книгу Gespenster meines Lebens - Марк Фишер - Страница 12
»Gerade wenn ich denke, ich gewinne«
Оглавление»Ghosts« hatte ich 1982 aus dem Radio aufgenommen und den Song ein ums andere Mal gehört, die Kassette am Ende zurückgespult und erneut »Play« gedrückt. »Ghosts« ist ein Stück, das einen, selbst heute noch, dazu bringt, es immer wieder abzuspielen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Song mit unglaublich vielen Details aufwartet und man nie das Gefühl hat, wirklich alles mitbekommen zu haben.
Kein anderes Stück von Japan war wie »Ghosts«. Es war eine Anomalie, nicht nur wegen des Bekenntnishaften – eher eine Ausnahme in der Arbeit einer Band, die einen ästhetisierenden Gestus expressiver Emotionalität vorzog –, sondern auch aufgrund des Arrangements und der Struktur des Songs. In den anderen Stücken auf Tin Drum – dem 1981er Album, auf dem »Ghosts« erstmals veröffentlicht wurde – entfalteten Japan eine Art artifiziellen Ethno-Funk: Elektronische Fetzen huschen durch eine federnde rhythmische Architektur, die Bass und Schlagzeug schaffen. In »Ghosts« hingegen finden sich weder traditionelles Schlagzeug noch eine durchgängige Basslinie. Percussion beschränkt sich auf sanft angeschlagene metallische Wirbel, und sie treffen auf ein Ensemble von Klängen, die asketisch synthetisch auf eine Art sind, die von Stockhausen stammen könnte.
»Ghosts« setzt ein mit Idiophonklängen wie aus dem Innern einer metallenen Glocke. Die Luft ist voller Spannung, ein elektrisches Feld, erfüllt von diffusem Radiowellengezwitscher. Zugleich verströmt das Stück eine immense Stille, eine ruhige Gelassenheit. In Erinnerung bleibt der außergewöhnliche Liveauftritt der Band mit »Ghosts« in der Fernsehshow The Old Grey Whistle Test. Die Musiker scheinen eher in ihre Instrumente versunken, als dass sie darauf spielen.
Einzig David Sylvian wirkt lebendiger, doch letztlich bewegt sich nur sein Gesicht, halb verdeckt durch einen gewaltigen asymmetrischen Pony. Die in seiner Stimme schwingende Existenzangst verbindet sich auf eigentümliche Art mit der asketischen elektronischen Instrumentierung des Stücks. Das Gefühl einer entkräfteten Vorahnung wird durch das einzig Melodramatische im Song durchbrochen, einzelne treibende Synthesizer-Einsätze, die an Streicher aus einem Thriller erinnern und zum Chorus überleiten: »Just when I think I’m winning / When I’ve broken every door / The ghosts of my life / Blow wilder than before… // Gerade als ich denke, ich gewinne / Jede Tür aufgebrochen habe / Heulen die Gespenster meines Lebens / Wilder als je zuvor…«
Welche Dämonen genau sind es, die Sylvian heimsuchen? Der Song bezieht seine Atmosphäre nicht zuletzt aus der Weigerung, diese Frage zu beantworten, aus einer fehlenden Festlegung. In den Lücken können wir unsere eigenen Schemen entdecken. Klar wird indes, dass es keine äußerlichen Umstände sind, die Sylvians Wohlbefinden verderben. Etwas aus seiner Vergangenheit, etwas, das er längst hinter sich lassen wollte, holt ihn immer wieder ein. Er ist unfähig, es hinter sich zu lassen, weil er es mit sich schleppt. Antizipiert er nur das nahende Unglück oder hat das Verhängnis bereits seinen Lauf genommen? Das Präsens – oder vielmehr das Schwanken zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsform – schafft Ambiguität; angedeutet wird eine schicksalhafte Unendlichkeit, ein Wiederholungszwang – ein Zwang, der zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden mag. Die Dämonen kehren wieder, weil er es befürchtet…
Es fällt schwer, »Ghosts« nicht als eine Betrachtung zu Japans Weg bis zu jenem Zeitpunkt zu hören. In der Band kulminiert eine spezifisch englische Version von Art Pop, die in den frühen 1970er Jahren mit David Bowie oder Roxy Music begonnen hat. Die Musiker von Japan stammen aus Beckenham, Catford, Lewisham, jenem wenig glamourösen urbanen Ballungsgebiet also, wo Kent in den Londoner Süden übergeht – das gleiche vorstädtische Umland, aus dem Bowie, Billy Idol und Siouxsie Sioux kamen. Wie die meisten Protagonisten des englischen Art Pop empfand die Band ihre Umgebung eher als eine negative Inspirationsquelle; Suburbia war etwas, dem man entkommen wollte. »Es gab eine bewusste Tendenz weg von allem, was die Kindheit ausgemacht hatte«, merkt David Sylvian dazu an.32 Pop war das Tor, um diese prosaische Umgebung zu verlassen, die Musik war nur ein Teil davon. Art Pop wurde für Autodidakten aus der Arbeiterklasse zu einer Art Studienkolleg, um Spuren ihrer Vorläufer nachzugehen – Anspielungen in Songtexten, Stücktiteln oder Interviews – und sich so Dinge anzueignen, die im Lehrplan für Jugendliche ihrer gesellschaftlichen Klasse nicht vorgesehen waren: zeitgenössische Kunst, europäische Autorenfilme, die literarische Avantgarde… Sich einen anderen Namen zu suchen, war ein erster Schritt: David legte seinen Familiennamen Batt ab und wählte einen Künstlernamen, der auf Sylvain Sylvain von den New York Dolls verwies, jene Band, deren Stil Japan anfänglich imitierte.
Als »Ghosts« veröffentlicht wurde, war indes die ganze Dolls-Phase mit ihrem Bemühen um amerikanische Coolness längst vergessen; Sylvian hatte zwischenzeitlich als eine artifizielle Massenkopie von Bryan Ferry eine gewisse Perfektion erreicht. Was Ian Penman zufolge die Besonderheit der Stimme Ferrys ausmacht, ist der nur teilweise geglückte Versuch, den Geordie-Akzent abzulegen und ein klassisches, zeitloses Englisch an dessen Stelle treten zu lassen. Sylvians Gesangsstimme nun ist das Fake eines Fakes. Die überempfindliche Zerbrechlichkeit Ferrys wird bewahrt, doch nur als Style ohne emotionalen Inhalt. Es ist eine kultivierte Attitüde, an der nichts natürlich ist; exzentrisch, überaffektiert, und genau aus diesem Grund zugleich auf merkwürdige Art kalt. Der Gegensatz zur Sprechstimme Sylvians in jenen Jahren – plump, unausgebildet, deutlich alle Spuren der Klassenzugehörigkeit und des Londoner Südens offenbarend, die die Singstimme zu kaschieren bemüht war – könnte größer nicht sein: »Sons of pioneers are hungry men. // Söhne von Pionieren sind hungrige Männer.«
»Ghosts« paralysierten sehr englische Ängste: Fast könnte man meinen, da singt Pip aus Dickens’ Great Expectations. In England wohnt dem Aufstieg aus der Arbeiterklasse immer noch die Angst inne, möglicherweise entdeckt zu werden, die Herkunft preiszugeben. Irgendeine Benimmregel wird verletzt, was niemals hätte passieren dürfen. Oder aber es fällt ein falsch ausgesprochenes Wort – die Angst vor einer fehlerhaften Aussprache verfolgt Autodidakten zeitlebens, weil Bücher einem nicht in jedem Fall vermitteln, wie bestimmte Ausdrücke sich anhören müssen. Vielleicht markiert »Ghosts« tatsächlich gerade den Moment, in dem Art Pop dieser Sorge begegnet – der Sorge, dass die Klassenherkunft herauskommt, dass der Background nie überwunden werden kann, dass die Dämonen von Lewisham wiederkehren, ganz egal, wie weit nach Osten die Reise führt.
Japan überführen Art Pop in absolute Oberflächlichkeit, in kompromisslosen Ästhetizismus. Tin Drum, das 1981er Album, von dem »Ghosts« stammt, ist Art Pop als Barthes Pop, ein offenkundig verführerisches Spiel mit Zeichen um ihrer selbst willen. Das Albumcover lässt einen sofort in eine durchgestylte Welt eintreten: Sylvian, mit Trevor-Horn-Brille, den wasserstoffblonden Pony mit viel Haarspray kunstvoll über die Stirn drapiert, sitzt in einem schmucklosen, chinesisch anmutenden Raum, Essstäbchen in den Händen, während sich hinter ihm ein dort hängendes Mao-Poster von der Wand löst. Alles ist Pose, jedes Zeichen mit geradezu fetischistischer Sorgfalt gewählt – allein die Art, wie der Lidschatten die Lider beinahe opiumschwer wirken lässt –, und doch sieht alles zugleich unglaublich zerbrechlich aus: Sylvians Gesicht eine Nō-Maske, anämisch bleich, seine Körperhaltung marionettenhaft. Hier sitzt er nun, einer der letzten Glam-Rock-Prinzen und vielleicht der großartigste, sein Gesicht und Körper – nicht anders (und nicht weniger) als die Musik – ungewöhnliche, grazile Kunstwerke, und alles fügt sich zusammen zu einem übergreifenden Konzept. Jedwede soziale, politische oder kulturelle Bedeutung scheint demgegenüber verschwunden. Wenn Sylvian in »Cantonese Boy«, dem letzten Stück des Albums, »Red Army needs you« singt, dann spricht daraus ebenfalls der Geist eines semiotischen Orientalismus: Signifikanten aus dem Reich der Mitte werden plakativ verkürzt, ausgebeutet und sorgen so für einen kurzen Moment der Erregung.
Zur Zeit der Veröffentlichung von Tin Drum hatten Japan die Abkehr vom Trashigen der New York Dolls längst vollzogen und war zu einer Band von Gentlemen-Connaisseurs geworden. Die Jugendlichen aus der Arbeiterklasse von Beckenham hatten sich zu kosmopolitischen Lebemännern entwickelt. (Zumindest, soweit das möglich scheint: »Ghosts« legt ja gerade nahe, dass die Verwandlung niemals vollständig gelingen kann und deshalb die Angst bleibt. Je stärker das Bemühen, den Background zu verschleiern, desto schmerzhafter wird es, wenn er ans Licht kommt.) Die glatte Oberflächlichkeit von Tin Drum ist die eines (Hochglanz-)Fotos, die Distanziertheit der Band entspricht der des Fotografen. Bilder werden dekontextualisiert, um sodann neu zusammengefügt und zu einem merkwürdig abstrakten »orientalischen« Panorama kombiniert zu werden. Das Ergebnis ist ein Ferner Osten, wie ihn der surrealistische Schriftsteller Raymond Roussel erdacht haben könnte. Wie Bryan Ferry bleibt auch David Sylvian Objekt und Subjekt gleichermaßen: nicht nur ein eingefrorenes Bildnis, sondern auch derjenige, der die Bilder arrangiert, und zwar nicht in irgendeinem pathologischen, an Peeping Tom erinnernden Sinn, sondern cool und distanziert. Die Distanzierung ist selbst wiederum eine Performance, in der Sublimierung verschleiert sie die Angst. Die Texte bilden kleine Labyrinthe, unauflösbare Enigmen – vielleicht auch nur das Aufscheinen von Enigmen –, Phantastereien, deren falsche Fassade chinesische und japanische Motive schmücken.
Auch Sylvians Stimme ist Teil der Maskerade. Selbst in »Ghosts« beansprucht sie nicht, für bare Münze genommen zu werden. Es ist keine Stimme, die etwas offenbart oder vorgibt zu offenbaren, sondern es ist eine, die etwas zu verbergen weiß, darin dem Make-up und den ostentativ präsentierten Chinoiserien vergleichbar. Die Fixiertheit auf Geographie lässt Sylvian wie einen Touristen auftreten, einen außenstehenden Beobachter, auch seinem »Innenleben« gegenüber. Die Stimme scheint ganz und gar vom Kopf zu kommen, kaum etwas körperliches ist darin zu hören.
Und was dann? Japan sollten sich auflösen, während Duran Duran auf dem besten Weg waren, die exzentrischen Superstarallüren in einer Billigversion zu übernehmen. David Sylvian begab sich auf die Suche nach »Authentizität«, was zwei Dinge bedeutete: eine Abwendung von Rhythmik und eine Hinwendung zu »wirklichen« Instrumenten. Er wischte sich die Schminke aus dem Gesicht, suchte nach Sinn, entdeckte das wahre Selbst. Dabei klingen seine Soloprojekte bis zu seinem 2003er Album Blemish wie das angestrengte Bemühen um eine emotionale Authentizität, die seine Stimme nie wirklich liefern konnte – während das Alibi Ästhetizismus nun vollkommen fehlt.
Tin Drum blieb das letzte Studioalbum von Japan; zugleich war es einer der letzten Momente des britischen Art Pop. Eine Zukunft war in aller Stille entschlafen, doch andere sollten auftauchen.