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Warum Hauntology?

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Was hat all das mit Hauntology zu tun? Als das Konzept Mitte des vergangenen Jahrzehnts gelegentlich auf elektronische Musik bezogen wurde, geschah dies zunächst im Grun­de mit einer gewissen Zurückhaltung. Jacques Derrida, auf den der Ausdruck zurückgeht, hatte ich früher als eher enttäuschend empfunden. Dekonstruktion, das von Derrida begründete philosophische Projekt, hatte sich in bestimmten Bereichen des akademischen Betriebs etabliert, und im Umfeld entstand ein inniger Kult des Indeterminierten, der es im schlimmsten Fall zur Tugend erhob, jegliche definitive Aussage zu vermeiden. Dekonstruktion war eine Art pathologischer Skeptizismus, und sie förderte bei Anhängerinnen und Anhängern eine durch Ausweichen, Beliebigkeit und obligatorische Zweifel geprägte Haltung. Bestimmte akade­mische Formen – Heideggers hochtrabende Unverständlichkeit oder die aus der Literaturwissenschaft geläufige Betonung der letztlichen Unsicherheit jedweder Interpretation – galten als quasi-theologische Imperative. Und Derridas Weit­schweifigkeit schien einen eher retardierenden Einfluss auszuüben.

Meine erste Begegnung mit Derrida fand übrigens in einem Umfeld statt, das mittlerweile verschwunden ist – ein nicht ganz belangloser Punkt. Es passierte in den 1980er Jahren auf den Seiten des New Musical Express, und eigentlich fiel der Name Derrida dort in wirklich spannenden Texten. (Tatsächlich entspringt meine Enttäuschung über Derridas Arbeiten nicht zuletzt einer gewissen Unzufriedenheit. Der Enthusiasmus, den im NME Autoren wie Ian Penman oder Mark Sinker für Derrida zeigten, und der formale und theoretische Reichtum, der – aufgrund dessen, wie es schien – ihre Beiträge auszeichnete, schuf Erwartungen, die Derridas eigene Schriften, als ich sie später irgendwann end­lich las, nicht erfüllten.) Heute ist es vielleicht kaum zu glauben, doch der NME war, neben dem öffentlichen Rundfunk, wirklich so etwas wie eine informelle Säule im Bildungssystem, wo »Theorie« einen eigenartigen, strahlenden Glanz annahm. Derrida selbst hatte ich zudem in Ken Mc­Mullens Ghost Dance gesehen. Der Film lief in den frühen Tagen von Channel 4 im Nachtprogramm des Senders (und da ich damals noch keinen Videorekorder besaß, musste ich mir, um wach zu bleiben, sogar kaltes Wasser ins Gesicht spritzen).

Was nun Hauntology angeht, so geht der Terminus zurück auf Derridas Buch Marx’ Gespenster.13 »Spuken [hanter] heißt nicht gegenwärtig sein, und man muß den Spuk [la hantise] schon in die Konstruktion eines Begriffs aufnehmen«, schreibt er dort.14 Dieses Vorgehen nennt er, mit einem Wortspiel, hantologie, worin wiederum »Ontologie« anklingt, die Lehre vom Seienden, das heißt die philosophische Untersuchung der Frage, was als existierend betrachtet werden kann. Derridas Neologismus hantologie schließt somit an Begriffe an, mit denen er zuvor bereits gearbeitet hatte, wie »Spur« oder »Differenz/différance«; sie alle beziehen sich darauf, dass nichts einfach eine positive Exis­tenz genießt. Alles Existierende verdankt seine Möglichkeit einer ganzen Reihe von Absenzen, die ihm vorausgehen, es umgeben und ihm Konsistenz und Intelligibilität überhaupt erst erlauben. Jedem sprachlichen Ausdruck komme, so Derrida, Bedeutung nicht aufgrund eigener positiver Qualitäten zu, sondern einzig durch seine Differenz anderen gegenüber. Hier setzt die scharfsinnige Dekonstruktion der »Metaphysik der Präsenz« und des »Phonozentrismus« an, die zeigt, wie (auf letztlich inkohärente Weise) bestimmte, etablierte Denkformen die Stimme im Verhältnis zur Schrift privilegieren.

Hantologie bringt die Frage der Zeitlichkeit explizit auf eine ganz andere Art ins Spiel als Spur oder différance. Eine in Marx’ Gespenster häufig wiederholte Phrase stammt aus Shakespeares Hamlet und lautet »the time is out of joint«, die Zeit ist aus den Fugen. Im Grunde ließe sich, worauf jüngst Martin Hägglund hingewiesen hat, Derridas gesamtes Werk aus der Perspektive dieser Vorstellung zerbrochener Zeitlichkeit betrachten. »Derrida arbeitet daran«, so Hägg­lund, »eine allgemeine ›hantologie‹ zu formulieren, die sich von der traditionellen Ontologie abhebt, die das Sein unter der Prämisse mit sich selbst identischer Präsenz denkt. Die Gestalt des Gespensts ist daher insofern bedeutsam, als ein Gespenst nicht vollkommen präsent sein kann: Es hat kein Sein an sich, sondern markiert die Beziehung zu einem Nicht-mehr oder Noch-nicht15

Steht Hauntology deshalb in gewisser Weise für einen Versuch, das Übernatürliche zu neuem Leben zu erwecken, oder handelt es sich nur um eine rhetorische Figur? Ein Ausweg aus dieser wenig hilfreichen Opposition eröffnet sich, wenn wir bei Hauntology an das Wirken des Virtuellen denken und das Gespenst nicht als etwas Übernatürliches begreifen, sondern als ein Wirken ohne (physische, körperliche) Existenz. Die großen Theoretiker der Moderne, Freud ebenso wie Marx, haben verschiedene Arten einer solchen gespenstischen Kausalität entdeckt. Die spätkapitalistische Realität, bestimmt durch die Abstraktionen der Finanzsphäre, ist zweifellos eine Welt, in der Virtualitäten wirken, und das vielleicht ominöseste »Gespenst« Marx’ ist das Kapital selbst. Doch auch die Psychoanalyse ist eine »Geisterwissenschaft«, wie Derrida in den Interviews in Ghost Dance unterstreicht, schließlich untersucht sie, wie der Nachhall von Ereignissen zum Wiedergänger wird und in der Psyche herumspukt.

Ausgehend von Hägglunds Unterscheidung zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht lassen sich somit vorläufig zwei Richtungen von Hauntology isolieren. Die erste bezieht sich auf ein aktuales Nicht-mehr, das jedoch als Virtualität bleibt: im traumatischen »Wiederholungszwang«, als fatales Muster. Die zweite Richtung bezieht sich auf das in seiner Aktualität noch nicht Geschehene, das virtuell indes immer schon wirksam ist: ein Attraktor oder eine Antizipation, die gegenwärtige Verhaltensweisen formt. Das von Marx und Engels in den ersten Zeilen des Kommunistischen Manifests beschworene »Gespenst des Kommunismus« ist genau solch ein Spuk: eine Virtualität, die durch ihr angedrohtes Kommen bereits dazu beiträgt, den gegenwärtigen Zustand zu untergraben.

Marx’ Gespenster ist nicht nur ein weiteres Moment in Derridas philosophischem Projekt der Dekonstruktion, sondern steht zugleich für die konkrete Auseinandersetzung mit einem unmittelbaren historischen Kontext, der Auflösung des sowjetischen Machtbereichs. Genauer gesagt geht es um die Auseinandersetzung mit dem angeblichen Verschwinden der Geschichte, wie das Francis Fukuyama in seinem Buch Das Ende der Geschichte verkündet hatte.16 Was würde passieren, nun, da der real existierende Sozialismus zusammengebrochen war und der Kapitalismus auf ganzer Breite dominierte, ohne dass seinem Anspruch auf Weltherrschaft durch die Existenz des anderen, verschwundenen Blocks ent­gegengewirkt würde – abgesehen vielleicht von kleinen widerständigen Inseln wie Kuba oder Nordkorea? Das Zeitalter des »kapitalistischen Realismus« – geprägt durch die weithin geteilte Überzeugung, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe – wird nicht länger vom Gespenst des Kommunismus heimgesucht, sondern von dessen Verschwinden.17 Derrida beschreibt das so:

»Es gibt heute in der Welt einen dominierenden Diskurs. […] Dieser herrschsüchtige Diskurs nimmt oft die manische, jubilatorische und beschwörende [incantatoire] Form an, die Freud der sogenannten Phase des Triumphs in der Trauerarbeit zuschrieb. Die Beschwörung [incantation] wiederholt sich und wird ritualisiert, sie hält auf Zauberformeln und hält sich an Zauberformeln, wie jede animistische Magie es will. Immer wieder intoniert sie die alte Leier und den Refrain. Im Rhythmus des Gleichschritts ruft sie: Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus!«18

Marx’ Gespenster formuliert eine Reihe von Überlegungen, welche medialen (und post-medialen) Technologien das Ka­pital in seinem nunmehr globalen Hoheitsgebiet zum Einsatz bringen wird. Hauntology scheint insofern keineswegs exotisch, sondern der »Techno-Tele-Diskursivität«, »Tech­no-­Tele-Ikonizität«, der »Simulakra« und »synthetischen Bild­er« durchaus angemessen. Hauntology bezieht sich, die Erörterung solcher »Tele‑«Dimensionen zeigt es, auf eine Krise von Raum und Zeit gleichermaßen. Theoretiker wie Virilio oder Jean Baudrillard hatten schon länger darauf hin­gewiesen – und Marx’ Gespenster wäre insofern auch als eine Auseinandersetzung Derridas mit diesen Denkern zu lesen –, dass jene »Tele-Technologien« Raum und Zeit kollabieren lassen und räumlich entfernte Ereignisse dem Pub­likum augenblicklich präsentieren. Die »Tele-Techno­lo­gie« allerdings, deren Entwicklung Raum und Zeit am radikalsten zusammenschrumpfen ließ, den Cyberspace des Internet nämlich, erlebten weder Baudrillard noch Derrida in all ihren Auswirkungen – oder besser gesagt, in all ihren Auswirkungen bislang. Doch begegnen wir hier einem Motiv, warum im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Hauntology und Popkultur zueinander in Beziehung gesetzt werden sollten: Es war der Moment, da das Internet begann, Rezeption, Distribution und Konsum in der Kultur – und insbesondere in der Musikkultur – in einem bislang unbekannten Ausmaß zu dominieren.

Auf Musik bezogen hat Hauntology bei Kritikern wie Simon Reynolds, Joseph Stannard oder mir in erster Linie eine Ansammlung von künstlerischen Positionen bezeichnet. Die Betonung liegt dabei auf dem Ausdruck »Ansammlung«, denn diese Künstler – darunter etwa William Basinski, das Label Ghost Box, The Caretaker, Burial, Mordant Music oder Philip Jeck – haben sich in gewisser Weise auf einem Terrain getroffen, ohne einander eigentlich zu beeinflussen. Gemeinsam ist ihnen nicht so sehr ein Sound als vielmehr eine bestimmte Sensibilität, eine existentielle Ausrichtung. Diese Hauntologen sind erfüllt von einer überwältigenden Melancholie; und sie beschäftigen sich intensiv mit der Art und Weise, wie Technologie Erinnerung materialisiert. Die Faszination gilt Fernsehaufzeichnungen, Vinyl- und Tonbandaufnahmen und insbesondere dem Klang solcher im Niedergang begriffenen Technologien. Eine solche Fixierung auf die materialisierte Erinnerung führt zum vielleicht auffallendsten klanglichen Erkennungszeichen der Hauntologen: dem Knistern und Knacken, wie es die Vinyloberfläche erzeugt. Das Knacken ruft uns in Erinnerung, dass wir eine Zeit hören, die aus den Fugen ist; es durchkreuzt in uns die Illusion der Präsenz. Die normale Ordnung des Hörens wird umgekehrt, eine Ordnung, in der wir es, wie Ian Penman es einmal formuliert hat, gewohnt sind, dass das »Re‑«, die Re-Präsentation der Aufnahme unterdrückt wird.19 Und neben dem Umstand, dass es sich um eine Aufnahme handelt, rückt auch die Technologie des benutzten Abspielsys­tems ins Bewusstsein. Durch den hauntologischen Sound schwebt zudem nicht selten der Unterschied zwischen analog und digital: Im Äther des digitalen Zeitalters rufen viele hauntologische Tracks die Körperlichkeit analoger Medien in Erinnerung. Natürlich sind auch MP3-Dateien »materiell«, doch ihre Materialität bleibt uns weithin verborgen, im Gegensatz zur taktilen Qualität von Vinylplatten und sogar noch CDs.

Ganz zweifellos trägt die Sehnsucht nach einer solchen Materialität älterer Ordnung zu der Melancholie bei, die hauntologische Musik transportiert. Die tieferen Ursachen dieser Melancholie benennt indes der Titel eines Albums von James Leyland Kirby: Sadly, The Future Is No Longer What It Was. Hauntologische Musik erkennt implizit an, dass die Hoffnungen, wie sie die elektronische Avantgarde oder die euphorische Dance-Szene der 1990er befördert hat­ten, sich verflüchtigt haben – die Zukunft ist nicht nur nicht eingetreten, sondern scheint überhaupt nicht länger möglich. Doch zugleich steht die Musik für die Weigerung, das Verlangen nach der Zukunft aufzugeben. Diese Weigerung ver­leiht der Melancholie eine politische Dimension, insofern sie es ablehnt, sich mit dem begrenzten Horizont des kapitalistischen Realismus zu arrangieren.

Gespenster meines Lebens

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