Читать книгу Nila - Mark Krüger - Страница 10

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Die Flucht

An Schlaf ist kaum zu denken. Eric hatte nur kurz die Augen zu, tatsächlich waren es nur ungefähr dreißig Minuten. Er friert, ist hungrig und langsam werden seine Schmerzen fühlbar. Durst und die kaum auszuhaltende Kälte sind fast unerträglich, doch er beißt seine Zähne zusammen.

Die Stille macht ihn wahnsinnig. Er muss weiter.

Nur in welche Richtung soll er laufen? Was, wenn er sich inmitten der feindlichen Linien der Taliban befindet? Was wäre, wenn seine Kameraden und somit die US Army gar nicht nach ihm suchen würde und er vergessen wird?

Tausende Fragen gehen ihm durch den Kopf. Hilflos und ängstlich versucht er, einen Punkt zu finden, von dem aus er seinen Standpunkt in etwa ausmachen kann, aber es funktioniert nicht. Er weiß nicht einmal mehr, von wo er gekommen ist, geschweige denn, wie weit er vom Anschlagsort entfernt ist.

Er ist müde. Wieder sieht er ohne Ziel in die Nacht. Seine Wunden bluten zum Teil immer noch sehr stark und er wird sich seiner verzweifelten und aussichtslosen Lage immer bewusster. Vorsichtig entfernt er einen Streifen Stoff von seiner Wunde am rechten Arm und bemerkt, dass er etwas tun muss. Er muss versuchen, die Verletzung zu verschließen, da sie sich sonst entzünden wird.

Doch hier kann er kein Feuer machen. Eric erhebt sich und dreht sich in alle Richtungen. Die Ruhe ist angsteinflößend. Welcher ist der richtige Weg? Er weiß es nicht. Erst jetzt, nach dem langen Sitzen, spürt er die starken Schmerzen überall, an den Armen, Beinen, am Oberkörper und im Gesicht.

Sein Körper ist ermattet und will ihn kaum tragen. Eric humpelt den Abhang hinauf, hält sich an Felsvorsprüngen fest und zieht sich mit nahezu unsichtbarer Kraft von Stein zu Stein und von Strauch zu Strauch. Sein Stöhnen sind die einzigen Geräusche die ihn in dieser dunklen, kalten und gruseligen Nacht begleiten.

Wieder und wieder sucht er den Blick nach unten in das hinter ihm liegende Tal, um zu sehen, ob er verfolgt wird, doch bis jetzt scheint alles ruhig zu sein. Alle paar Minuten setzt er sich schweratmend an eine Kante und verharrt einige Sekunden, um Kraft zu sammeln, um sich umzuschauen. Er muss weiter. Egal wohin, nur weit weg vom Ort des Anschlags. Eric kämpft sich bis zum kleinen Gipfel hinauf durch und schmeißt sich, oben angekommen, entkräftet in den kalten, staubigen Boden.

Er kann nicht mehr. Minutenlang bleibt er liegen und atmet den feinen, dunklen Sand ein. Sein Mund ist trocken, Speichel kaum vorhanden.

Seine Augen haben sich nach kurzer Zeit an die Dunkelheit gewöhnt und suchen die kleine Fläche des Gipfels ab. Nichts außer Steinen, Distelbüschen und felsigen Klippen. Eric stellt sich wieder auf seine Füße und blickt in die unter ihm liegende Welt.

Es ist friedlich ruhig. In sehr weiter Ferne kann er ein leicht aufflackerndes Licht erkennen. Der Ort des Anschlags. Er hat es weit geschafft und wird nicht verfolgt. Das verschafft ihm einen kleinen Vorteil. Er dreht sich um und blickt in die Dunkelheit. Die kleine Gebirgskette zieht sich auf der anderen Seite wieder abwärts schlängelnd in ein steiniges, kurviges Tal, sodass er nur zum Teil, durch den Mondschein begünstigt, sehen kann, wohin der kleine Bergweg führt. Eric sieht sich um und geht einige Schritte. Plötzlich schreckt er

auf und bleibt starr stehen. Es ist völlig ruhig.

Etwas raschelt. Wie ein Stein steht Eric stumm und bewegt sich keinen Zentimeter.

Er versucht zu erkennen was es ist und konzentriert seine Augen auf den Busch unmittelbar vor ihm. Er atmet ruhig und seine Augen bewegen sich in Zeitlupe auf den kleinen Distelbusch zu. Schwach erkennt er langsam die Silhouette eines kleinen Tieres. Eric steht ganz ruhig und fest. Er hat Hunger.

Er sieht genauer hin und erkennt ein etwa fünfzig Zentimeter großes Murmeltier, welches auf einen Holz herumkaut. Es hat Eric noch nicht bemerkt, scheint ihn aber zu riechen, da es immer wieder nervös um sich blickt. In kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit fasst Eric behutsam an seinen Gürtel und greift nach seiner Pistole.

Mit einem leichten Umlegen des kleinen Hebels entsichert er die Beretta gekonnt und wickelt nahezu geräuschlos einen großen fetzen Stoff um den Lauf der Waffe, um somit einen möglichen Schuss zu dämpfen und um damit seinen eigenen Standort nicht zu verraten.

Das Murmeltier wiegt sich immer noch in Sicherheit und kaut weiterhin gemütlich auf dem Holz herum. Mittlerweile strahlt der Mond so hell, dass Eric das Tier ganz genau erkennen kann.

Er streckt seine blutverschmierten Arme nach vorn, legt seine rechte Hand mit der Pistole auf die linke Handfläche, atmet tief ein und hält die Luft an.

In diesem Moment entdeckt ihn das Murmeltier und blickt ihm direkt in seine Augen.

Ehe es die Situation einer Gefahr begreift und losrennen kann, drückt Eric einmal ab.

Ein kurzer, dumpfer Schuss hallt durch die ruhige Nacht und hinterlässt ein kleines Echo in den Schluchten der Gebirgswege. Das Murmeltier läuft einige kurze Meter gerade aus und bricht dann getroffen zusammen. Seine Hinterbeine und der lange Schwanz zucken noch einige Sekunden bis das letzte bisschen Leben den kleinen Körper verlässt.

Eric steckt die Pistole ein und wickelt den Fetzen Stoff wieder fest um eine seiner Wunden am Arm.

Er geht auf das Murmeltier zu und betrachtet es. Er hat Hunger, nur kann er auf diesem kleinen Felsen auf keinen Fall ein Feuer machen. Er packt das Murmeltier beim Schwanz und geht einige Meter weiter.

Vor ihm erstreckt sich auf einmal auf einer Länge von schätzungsweise zehn Metern eine zirka mannesbreite Spalte im Boden und scheint die Öffnung zu einer Art Höhle zu sein. Vorsichtig nähert er sich und legt sich flach hin, um hineinzusehen.

Es ist stockdunkel und nichts ist zu erkennen. Viel zu gefährlich, um hinab zu klettern. Eric steht wieder auf und läuft am Rand der Spalte den Weg etwas hinab, wobei ihm ein kleiner Felsvorsprung, eine Art Ausbuchtung, auffällt, so als wäre sie herausgestemmt worden.

Sie dient hervorragend dazu, um in die Spalte zu sehen. Er hält sich am Rand fest, klettert Fuß vor Fuß setzend in die Ausbuchtung und hockt sich hin. Er kann immer noch nichts erkennen. Aufgeregt wandert sein Blick wieder nach oben.

Wenn er jetzt ein Streichholz entzünden würde, dann ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, entdeckt zu werden, da er sich tiefer im Berg befindet. Würde er das Hölzchen schnell in die Höhle halten, würde man überhaupt nichts erkennen, aber es würde für ihn ausreichen, um festzustellen, was sich unter der Spalte befindet. Entschlossen greift Eric in seine Seitentasche und holt die zum Glück vorhandene Schachtel Streichhölzer heraus.

Er legt sich flach auf den Bauch, rutscht noch einige Zentimeter nach vorn, nimmt sich ein Streichholz und entzündet es. Seine Hände schützen sofort die kleine aufwühlende Flamme, die sich langsam einen Weg am Hölzchen nach oben sucht und die Fläche unter Eric erhellt. Er bewegt das Feuerchen etwas herunter und erkennt eine Höhle direkt unter der Spalte, vielleicht ein, zwei Meter.

Sie reicht schätzungsweise zehn Meter hinein und ist genauso lang. Es ist kein Problem, sich hinabzulassen. Eric pustet das Feuer aus und zögert nicht. Schnell stützt er sich an der linken Seite der Spalte ab, hängt sich an den Felsen, den toten Körper des Murmeltieres um seinen Hals gelegt, und lässt sich in die Höhle fallen. Jetzt ist es stockfinster.

Solch eine Schwärze ist unbeschreiblich. Langsam tastet er sich von der Spalte weg in das Höhleninnere, um rückwärts die Höhlenwand zu erfühlen.

Seine schweren Stiefel scharren die kleinen Kiesel zur Seite, seine verletzten Arme stützen so gut es geht seinen Körper und ziehen ihn weiter in die kleine Höhle. Nach wenigen Augenblicken lehnt Eric sich geschafft und erschöpft an die Wand. Das Murmeltier hat er neben sich auf den Boden geworfen. Er verschnauft etwas und spürt, wie sich sein Puls erholt. Kurz Zeit zum Nachdenken.

Was in Gottes Namen ist passiert? Alle seine Kameraden sind tot, er selbst auf der Flucht und niemand, einschließlich er selbst, weiß, wo er sich befindet. Eine Situation, die zwar oft während der Grundausbildung trainiert wurde, aber niemals als sehr wahrscheinlich eingestuft, und demnach nicht allzu sehr intensiviert wurde.

Eric kennt viele Überlebenstechniken, dennoch ist seine jetzige Situation eine andere.

Er kann ein paar Tage überleben, keine Frage, vorausgesetzt, er findet Wasser, aber wo soll er ohne Orientierung hingehen? Er kann die Position der Explosion erkennen, doch weiß er nicht, aus welcher Richtung er und sein Konvoi kamen.

Seine nächsten Handlungen müssen genau überlegt und geplant sein, ansonsten hat er kaum Überlebenschancen. Doch zu allererst muss er wieder zu Kräften kommen, seine Wunden oberflächlich behandeln und sich etwas ausruhen. Dafür ist die kleine Höhle ideal. Eric tastet den Boden ab und sucht sich vertrocknetes Holz und Strauchreste zusammen, legt sie auf einen Haufen und entzündet sie zu einem kleinen Feuer.

Er fühlt sich in Sicherheit, denn die Höhle befindet sich unterhalb des Berges, und somit kann man das Feuer nicht erkennen. Außerdem erreicht das Flackern der Flammen nicht einmal den Rand der Spalte, da er den Eingang mit seinem Hemd abgehangen hat.

Dem Murmeltier hat er das Fell abgezogen, es auf einen Stock gespießt und diesen direkt in das Feuer gelegt.

Nach mehrmaligem Wenden schneidet er sich hin und wieder ein Stück Fleisch heraus, welches unter einer ungenießbaren Fettschicht schlummert, aber erstaunlicherweise genießbar süß schmeckt, wenn man den Geschmack von erdigem Wildfleisch etwas ausschaltet.

Den mit Blut gefüllten Magen des Murmeltieres hat er zuvor herausgeschnitten und sich in den Mund tröpfeln lassen, um Flüssigkeit aufzunehmen.

Hätte er sich die Nase nicht zugehalten, dann hätte er sich schüttelnd übergeben. Aber es hilft und gibt ihm Kraft. Und das ist das Wichtigste. Sein kleines Überlebensmesser liegt ebenfalls im Feuer und wird zum Glühen gebracht, um sich damit die größte Wunde ein wenig zu verschließen.

Er muss versuchen einer Entzündung vorzubeugen. Nachdem auch das nach einigen, schmerzvollen Versuchen provisorisch erledigt ist, lässt er das Feuer ausglimmen, deckt sich mit seiner Jacke, die am Eingang hing, zu und versucht, ein wenig zu schlafen. Er schließt die Augen und beginnt an zu Hause zu denken.

An den Apfelstrudel seiner Mom, den sie zum Abkühlen auf das Fensterbrett stellt und somit die ganze Nachbarschaft aus ihren Häusern lockt, den Angelausflügen mit Andy und den Footballwürfen im Garten mit seinem Dad. Ein Diners Inn wäre jetzt auch nicht schlecht. Lächelnd und in Gedanken an die Heimat schläft er müde ein.

Zartgelbe, orange und rote Farbtöne geben der Höhle am frühen Morgen etwas Licht und lassen Eric das erste Mal blinzeln. Er hat ruhig und fest geschlafen. Es dauert einige Augenblicke bis er registriert, wo er sich befindet und was geschehen ist.

Er setzt sich auf und zieht sich langsam sein mit Blut verkrustetes Hemd über. Es ist kalt in der Höhle, das Feuer längst erloschen und die Realität in seine Gedanken zurückgekehrt.

Seine Wunden schmerzen, aber sind einigermaßen unter Kontrolle gebracht und durch die kleine Mahlzeit in der Nacht zuvor hat er sich ein wenig gestärkt. Er muss weiter. Er weiß zwar nicht wohin, doch muss er sich ein Bild der Lage verschaffen. Vorsichtig klettert Eric aus der Höhle zurück an die Oberfläche und sieht hinunter auf die weite Fläche der trockenen, afghanischen Steppe.

Steppen und Halbwüsten bedecken den größten Teil des Landes, oft fehlen hier zusammenhängende Pflanzendecken.

Nur im Bereich von Wasserläufen tritt – ähnlich Oasen – dichte Vegetation auf, ansonsten dominieren Steppensträucher wie Disteln, Kameldorn und andere Büsche die Landschaft. Wasser zu finden dürfte für Eric nicht das größte Problem sein, denn das Gewässernetz ist relativ dicht. Vom Zentralgebirge verlaufen die bedeutendsten Flüsse des Landes nach allen Seiten. Tief eingeschnittene Gebirgsflüsse bilden ihre Oberläufe. Weite Schluchten wechseln mit breiten Talbecken, in denen die Flüsse verwildern und große Schotter- und Sandbecken besitzen.

Die Flussunterläufe durchziehen mit meist trägem Lauf die Steppen- und Wüstengebiete und versiegen – insbesondere im Süden – oft in salzhaltigen Sümpfen und Erdseen. Allerdings führen viele der kleineren Flüsse nur zur Regenzeit und Schneeschmelze Wasser, das dann schnell ansteigt, für Überschwemmungen sorgt und im Sommer die Gewässer völlig versiegen lässt.

Hin und wieder verirren sich Hyänen, Schakale und Wölfe aus dem Norden in der kleinen Gebirgskette oder die vom Aussterben bedrohten Schneeleoparden suchen eine Unterkunft für die Nacht.

Eric hat sich das linke Hosenbein abgeschnitten und zum Schutz vor dem starken Wind um seinen Kopf gewickelt. Ab Mai herrscht in Afghanistan der sogenannte «Wind der 120 Tage»,

welcher kontinuierlich mit wechselnder Stärke bis Ende September weht.

Er kommt als heißer, kontinentaler Wind aus den Steppen Turkmenistans und kühlt beim Aufstieg an den iranisch- afghanischen Gebirgen etwas ab, erwärmt sich dann auf dem Weg in den Süden wieder und beschert somit den südwestlichen Beckenlandschaften eine Tageshöchsttemperatur von bis zu 50 Grad Celsius. Die Temperaturschwankungen sind extrem. Während der afghanische Sommer am Tage heiß und trocken ist, sinkt die Temperatur nachts mitunter bis zum Gefrierpunkt.

Der heutige Morgen ist klar und ruhig, der Blick in das Tal weit. Eric kann erkennen, welchen enormen Weg er zurückgelegt hat und sieht als kleine, winzige Punkte den Ort des Anschlags in der Ferne. Seine Augen wandern den Horizont ab und versuchen noch einmal den Weg nachzuvollziehen und aus welcher Richtung er mit dem Konvoi kam.

Doch das erscheint ihm ein unmögliches Unterfangen, denn er hatte während der Fahrt kaum aus dem Fenster gesehen. Plötzlich zuckt er zusammen und wirft sich auf den Boden. Seine Hände krallen sich im steinigen Sand fest, sein Kinn liegt im Staub und mit einigen geschickten, schnellen Bewegungen zieht er sich hinter einen Strauch.

Der Schreck ist so heftig, das sich dabei sein Hosenbein vom Kopf löst und vor ihm den Abhang hinunter weht.

Eric verhält sich still. Langsam nimmt er seinen Kopf hoch und sieht durch die Äste hinunter in die Schlucht und erkennt, nur einige hundert Meter von ihm entfernt, zwei Geländewagen mit einer Ladefläche und zirka zehn bewaffnete Männer darauf.

Fünf andere Männer stehen vor den Fahrzeugen und zeigen mit den Fingern in verschiedene Richtungen. Eric versucht, genauer hinzusehen und erkennt dabei den selben Mann wie am Vorabend bei dem Anschlag. Den Mann, der ihr Anführer zu sein scheint.

Schnell zieht er seinen Kopf zurück. Sie haben ihn verfolgt, ihn ins Gebirge getrieben, um ihn am Morgen wieder herauszulocken.

Eric beginnt zu zittern. Seine Augen wandern unkontrolliert hin und her. Er muss überlegen.

Er muss verdammt nochmal schnell überlegen. Noch haben sie ihn nicht entdeckt. Geistesgegenwärtig robbt er rückwärts zurück zum Höhleneingang und verschwindet langsam aus dem Sichtfeld der Taliban. Er springt noch einmal in die Höhle, wickelt sich einige Fleischstücken in kleine Stoffreste, steckt diese ein und klettert zurück auf den Felsvorsprung. Er darf jetzt keine Zeit verlieren.

Ohne sich noch einmal zu den bewaffneten Männern umzudrehen läuft er so schnell er kann den kleinen, steinigen Abhang auf der anderen Seite entlang und stolpert über die passierbaren Passagen der kleinen Gebirgskette in Richtung Nordwesten weiter hinab. Er rennt um sein Leben. Wieder einmal. Ohne Orientierung. Ohne Ziel. Nur mit dem Willen, zu überleben.

Der Kommandant der kleinen Taliban- Gruppe, Mesut, ist derweil bis an den Fuß des Berges herangefahren und aus seinem Fahrzeug gesprungen. Entschlossen und mit durchgeladenen Waffen folgen ihm seine Anhänger. Ohne zu zögern läuft er einige Meter nach oben und bleibt grinsend vor dem Ärmel von Erics blutverschmierten Hemd stehen. Er bückt sich, hebt es auf, riecht daran und läuft wieder zurück zu seinen Männern.

«Ein Amerikaner in einem fremden Land hinterlässt immer Spuren. Seine Stiefel führten uns hierher, sein Blut wird uns zu ihm führen.»

Mesut wirft den Stofffetzen zu seiner rechten Hand, Abdul, einem zwanzigjährigen, ungebildeten und äußerst brutalen Anhänger seines Glaubens, welcher alles dafür tun würde, um Ungläubige zu töten und um Allah ein Opfer zu bringen. Er trägt, wie die meisten einen schwarzen, langen Vollbart und schreckt vor keiner Brutalität zurück. Ungläubige sind in seinen Augen weniger als Tiere und wie selbige zu schlachten. Mitleid ist ein Fremdwort für ihn.

«Hinter dem Gipfel gibt es nichts weiter als Wüste, Steppe und ein kleines Dorf. Wenn er diesen Weg gewählt hat, dann muss er dort vorbei.

Er hat nichts zu essen und nichts zu trinken. Es gibt keine weiteren Möglichkeiten, außer zu sterben.»,

ruft Mesut und läuft in Richtung der Fahrzeuge zurück. «Dann haben wir ihn bald.»,

erwidert Abdul und befehligt den Rest der Männer zurück auf die Ladefläche der Autos zu springen.

«Inschallah, so Gott will!»,

spricht Mesut zu sich, steigt auf der Beifahrerseite eines der Fahrzeuge ein und winkt seinen Leuten, langsam die Fahrt aufzunehmen, um die kleine Gebirgskette zu umfahren.

Zur selben Zeit, einige hundert Meter entfernt, Stelle des Anschlags

Colonel Jackson ist schon sehr lange in Afghanistan dabei, hat viele Soldaten kommen und gehen sehen und musste leider oft miterleben, dass einige ihr Leben ließen.

Sein Haar wurde erst in den letzten Monaten schneeweiß, erklären kann er es sich nicht, aber es stört ihn auch nicht, macht es ihn ja augenscheinlich attraktiver, womit er absolut kein Problem hat.

Er hat schon viele Kriegsschauplätze besucht, wurde damals als junger Soldat im Irakkrieg eingesetzt und wurde mit so manch einer schlimmen Situation durchaus konfrontiert, was ihn heute weniger schnell aus der Ruhe kommen lässt. Dieses Mal verschlägt es ihm die Sprache und es lässt den sonst sehr redegewandten und geradeaus denkenden US-Soldaten verstummen.

Geschockt steht er mit einigen Soldaten an der Explosionsstelle, seine Mütze in der Hand, und schüttelt wortlos den Kopf. Mehrere Schützenpanzer mit schweren MGs, einige Humvees und zahlreiche Soldaten sichern das Gebiet ab.

Zwei AH-64-Apache- Kampfhubschrauber sind bereits auf den Weg, um den Ort aus der Luft zu schützen, Hubschrauber, die sich der Colonel am Vortag als Schutz für seine Soldaten

gewünscht hätte und die eigentlich auch hätten bei der Aufklärungsmission dabei sein müssen. Doch das klärt der Colonel später.

«Ein Bild des Grauens!»,

spricht er leise zu sich und ruft Corporal Ben Jenkins zu sich.

«Gibt es Überlebende, Jenkins?»

Der junge Soldat afrikanischer Herkunft muss den Colonel enttäuschen.

«Nein Sir, es gibt keine Überlebenden.»

«Können wir alle Leichen bergen?»

«Nein, das können wir leider nicht.»,

antwortet Ben Jenkins leise.

Colonel Jackson dreht sich zu dem jungen Soldaten.

«Was meinen Sie damit?»

«Sir, die ersten vier Fahrzeuge hat es völlig zerrissen, da gibt es nichts mehr zu finden. Nur ein Haufen Kohle und Asche. Captain Anderson, Hanson, Brown und Edwards scheinen im letzten Humvee verbrannt zu sein, aber man kann die Namensschilder zum Teil noch erkennen. Corporal Carter liegt davor, auch kein schöner Anblick.»

Der Colonel setzt sich seine Mütze wieder auf und tätschelt Ben Jenkins auf die Schulter.

«Schaffen wir sie nach Hause!»

«In Ordnung, Sir… »

Noch bevor Ben Jenkins ausreden kann, schreit ein anderer Soldat dazwischen.

«Oh mein Gott! Oh verflucht, diese Schweine! Diese gottlosen, verdammten Schweine!»

Colonel Jackson und Jenkins laufen zu ihm rüber und schrecken sofort zurück. Andere Soldaten halten sich die Hände vor den Mund oder übergeben sich. Hinter dem letzten Schützenpanzer, in einem Straßengraben, liegt die Leiche von Melissa Hanson. Ihr Kopf einige Meter weiter.

«Sie haben ihr den Kopf abgeschnitten! Diese Barbaren, diese Tiere!»

Stumm stehen die Soldaten um die entstellte Leiche von Melissa Hanson. Einige müssen sich setzen, andere schütteln unfassbar mit dem Kopf.

«Um Himmels Willen, nun deckt sie doch einer zu!»,

befiehlt der Colonel und dreht sich zu Ben Jenkins der mit einem Weinkrampf zusammengebrochen ist.

«Diese verdammten Taliban. Das sind Tiere. Tiere sind das. Ich schwöre euch, wenn ich einen von denen in die Finger kriege, ich reiß denen das Herz raus und stopf es ihren Kindern ins Maul.»

Ben Jenkins reibt sich die Augen. Er ringt nach Luft. Der Colonel zieht ihn hoch und von der toten Melissa Hanson weg.

«Ist gut. Ist schon gut. Lassen sie ihre Wut raus.

Das ist nicht schlimm. Wir waren alle schon mal an diesem Punkt.»

Der Colonel nimmt den jungen Soldaten in den Arm, versucht ihn zu beruhigen und befiehlt anderen Soldaten, Melissas ihren Leichnam endlich abzutransportieren.

«Kommen Sie, Jenkins, lassen sie uns hier verschwinden!»

Während Jackson und Jenkins sich von der Anschlagsstelle entfernen, um zu den Fahrzeugen zurückzukehren, kommt ihnen Sergeant Anna Scott, rothaarig, gut gebaut, Ende zwanzig und Vollblutsoldat, aufgeregt entgegen.

«Sir, wir haben soweit alles für den Abtransport vorbereitet und sind fertig. Die meisten Leichen, soweit das ging, sind geborgen. Na ja, außer in den vorderen Fahrzeugen, das wird alles so abtransportiert, wie es ist. Man sieht, dass alle Soldaten noch auf ihren Plätzen sitzen, aber da erkennt man nichts mehr, Sir.»

Der Colonel nickt.

«Gut Anna, dann sind wir hier vorerst fertig. Lassen sie uns aufbrechen!»

Jackson wendet sich ab und will zu seinem Jeep laufen, als er von Anna Scott aufgehalten wird.

«Sir, es gibt da noch was!»

Der Colonel dreht sich wieder um.

«Sergeant?»

Anna Scott ist etwas irritiert, wechselt den Blick zwischen dem Colonel und Ben Jenkins, dieser zuckt mit den Schultern und sie erläutert die Situation.

«Nun ja, Sir, ich weiß nicht so richtig, wie ich ihnen das sagen soll.»

Der Colonel kommt zurück.

«Soldat, wir haben hier jetzt keine Zeit, um lange Reden zu halten. Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann raus damit! Also, was ist los?»

«Sir, es fehlt ein Soldat, Sir!»,

stottert Anna Scott.

Jackson ist verwundert.

«Wie meinen Sie das?»

«Wir haben die Erkennungsmarken von Corporal Eric Jones gefunden, doch er selbst ist nirgends zu entdecken. Keine Leiche, Sir!»

Colonel Jackson schüttelt mit dem Kopf.

«Moment mal, SIE haben doch selbst gesagt, dass man in den ersten Fahrzeugen niemanden mehr identifizieren kann. Wieso sind sie sich dann so sicher, dass dieser Soldat fehlt? Vielleicht saß er ja genau in einem dieser Fahrzeuge?»

Anna schüttelt mit dem Kopf und zeigt auf die letzten Wrackteile.

«Ziemlich unwahrscheinlich, Sir, denn die Männer der zweiten Spähtruppe sind felsenfest davon überzeugt, dass Corporal Jones in den letzten Humvee eingestiegen ist… und soweit wir wissen, gab es keinen offiziellen Stopp bei der Fahrt, außer kurz vor der Explosion.»

«Zeigen sie mir mal die Marken, Sergeant!»

Anna übergibt dem Colonel die Marken. Der Colonel betrachtet sie akribisch genau, fällt aber ein schnelles Urteil.

«Hm, an einigen Stellen geschmolzen. Ein Zeichen dafür, dass Jones der Explosion zum Opfer fiel.»

Beide werden durch einen Soldaten unterbrochen.

«Colonel, Sir, wir haben die Uniformjacke und den Rucksack von Eric Jones gefunden. Beides zerfetzt und angebrannt Sir. An manchen Stellen seiner Jacke… nun ja, an manchen Stellen klebt verbranntes Fleisch, Sir.» Jackson dreht sich zu Anna Scott.

«Da haben wir unsere Antwort, Anna. Er ist tot. Genau wie die anderen. Lassen sie uns fahren!»

Wieder wendet sich der Colonel ab, um zu seinem Jeep zu gehen.

«Bei allem Respekt, Sir. Es gibt aber keine Leiche.»,

antwortet die entschlossene Anna Scott.

Colonel Jackson dreht sich abermals zu ihr um, nimmt seine Mütze wieder ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und sammelt seine Worte. Er weiß, dass sie Recht hat.

«Sie haben Recht, Sergeant. Wir werden die Untersuchung abwarten und genau prüfen, ob Jones fehlt oder nicht. Sollte dabei herauskommen, dass er nicht tot ist, dann werden wir ihn finden. Aber glauben sie mir, das hier hat niemand überlebt… und wenn doch… » der Colonol unterbricht und sieht zu dem kleinen Gebirge rauf.

« …und wenn doch, dann sollten wir alle für ihn beten.»

Eric hat keine Ahnung, wie lange er gelaufen ist. Ohne sich einmal umzudrehen hat er eine weitere, große Strecke über felsige Wege, steinige Abgründe und scheinbar unpassierbare Gebirgsspalten hinter sich gelassen. Er spürt seine Beine nicht mehr, und die bereits höher stehende Sonne zerfrisst und verbrennt ihm jeden klaren Gedanken. Die Schmerzen seiner Wunden sind zurück, der Durst allgegenwärtig und die Angst ein ständiger Begleiter.

Nach zahlreichen Kilometern in das nordwestliche Landesinnere erreicht er erneut einen kleinen Abgrund, von wo aus er in ein kleines Tal gucken kann. Dort liegt das abgelegene Dorf Shua Akhdar.

Nila

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