Читать книгу Nila - Mark Krüger - Страница 7

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Prolog

Nordwestlich von Mardscha, oberhalb des

Dorfes «Shua Akhdar», Afghanistan 1984

Amin steht auf einer Anhöhe. Er lauscht dem leichten Wind, der wie eine Melodie an ihm vorbeizieht. Stille. Und wieder erklingt ein Ton und verschwindet in der Weite des afghanischen Mittagshimmels. Er atmet tief ein und sieht hinunter ins Tal. In einem kleinen Dorf, einige Fußmärsche im nordwestlich der Stadt Mardscha entfernt, jagen wieder einmal zahlreiche Kinder Hunderten von Drachen hinterher, die bunt und an dünnen Schnüre am Horizont ihre Bahnen ziehen. Eine uralte Tradition. Er lächelt. Auch er war einmal ein Drachenläufer. Seiner Zeit der schnellste.

Er zögert kurz in seinen Gedanken, sieht nach oben, wieder zurück und erinnert sich, viele schöne und verschiedene Drachen gesammelt zu haben. Einige hat er noch zu Hause bei seinen Eltern, andere sind im Laufe der Jahre kaputt gegangen.

Es ist heiß und schwül und der Sommer zeigt sich in seiner trockensten Periode oftmals unberechenbar, dennoch ist es seine Heimat. Wieder atmet er tief ein. Seit der russischen Invasion vor knapp vier Jahren ist kaum noch etwas wie vorher. Der Alltag wird begleitet durch den Krieg. Man fragt die Menschen nicht, ob sie diesen Krieg wollen. Man fragt keine Kinder, ob sie auf Minenfelder spielen wollen. Man erzählt ihnen aber auch nicht, dass es diese Minenfelder gibt. Es ist einfach so, man hat es hinzunehmen. Dennoch ist es seine Heimat. Hier ist es eher ruhig. Ab und zu hört man hier oder da einige Maschinengewehrsalven, ab und an hört man dort oder im nahegelegenen Gebirge von Tschalap Dalan einige Granateneinschläge. Das ist Alltag. Das gehört dazu. Das ist Afghanistan 1984. Seine Augen werden ein wenig traurig, denn er sieht zurück ins Tal, wo die Kinder den bunten Drachen hinterherlaufen, um für kurze Zeit Kinder zu sein. So wie er einmal eines war. Damals vor zirka 15 Jahren. Er lächelt. Seine Entscheidung ist getroffen. Er wird gehen. Er wird Afghanistan verlassen. Für immer. Er will Arzt werden, Menschen helfen, ein anderes Leben führen. Er will nach Amerika. Er war immer schon „irgendwie anders“ als die anderen, hat hinterfragt und war wissbegierig, war zur Stelle, wenn es Menschen schlecht ging und verstand nicht, warum sich sein Leben nur in seinem Land abspielen soll. Jetzt ist er Anfang 20, groß und schlank gebaut, gutaussehend mit seinem kurzen, welligen Haar und seinem gepflegten Dreitagebart. An seiner rechten Augenbraue zieht sich eine kleine Narbe wie ein kleiner Fluss durch ein Tal zu seinem Ohr. Schwach zu erkennen: Er fiel als vierjähriger in den Dorfbrunnen. Zum Glück war dieser damals fast ausgetrocknet, sonst wäre er ertrunken. Natürlich glaubt Amin an Allah. Er wuchs sehr traditionell auf. Er erfüllt seine fünf Gebete am Tag und fühlte sich sehr zeitig mit seiner Religion und dem Koran verbunden, aber dennoch wurde ihm von seinen Eltern beigebracht, alle Menschen dieser Welt zu schätzen, unabhängig davon welcher Religion sie angehören oder nach welchen Traditionen sie leben würden. Akzeptanz und Toleranz sind für ihn der Schlüssel zur Liebe. Dieses Lebensgefühl bekam er sehr zeitig von seinen Eltern beigebracht und darauf ist er sehr stolz. Amin wird wegen seiner sanftmütigen Art im Dorf, in der Stadt, in der gesamten Umgebung sehr gemocht und geschätzt. Gern unterhält man sich stundenlang mit ihm, um interessante Dinge zu erfahren, welche er sich aus zahlreichen Büchern gelernt und erfahren hat. Alle wissen, dass er Arzt werden möchte und rufen ihn seit langem schon «Doktor Amin» oder holen ihn, wenn sich ein Kind einen Splitter eingefangen oder eine alte Frau gestürzt ist. Er genießt es unten in der Stadt von den Frauen angesehen zu werden, auch wenn er sie wegen ihrer Verschleierung selbst nicht sehen kann. Amin streicht sich durch sein Haar und versucht, sich langsam zu verabschieden. Aus der Ferne klingt eine immer lauter werdende, bekannte Stimme zu ihm durch, die ihn aus seinen Gedanken und Erinnerungen reißt. Er lächelt, wendet sich von der Anhöhe und der kleinen Stadt ab und geht langsam in Richtung der Rufe, die ihm gelten. Seine kleine sechsjährige Schwester Nila läuft auf ihn zu, wild mit den Armen wedelnd und verzweifelt seinen Namen rufend.

»Amin! Amin!

Amin!«

In letzter Sekunde kann sich Amin auf seine Knie setzen, um den kleinen Wirbelwind in seiner vollen Geschwindigkeit abzufangen, wobei er fast umgeworfen wird.

»Langsam, kleine Nila, langsam!«

»Amin!«

Nila klammert sich an ihrem Bruder fest und drückt sich mit aller Kraft an seine Schultern. Sie wimmert leise und Tränen laufen ihr über die Wangen.

»Kleine Nila. Kleine, schöne Nila. Du brauchst nicht traurig sein.«

Amin setzt sie vor sich in den Sand und streichelt ihr sanft über ihre Wangen.

»Ich muss für sehr lange Zeit fortgehen.

Das weißt du, oder?«

Sie sieht zu ihm hoch, die Tränen laufen ihr dick über ihr leicht gebräuntes Gesicht und ihr verzweifelter Blick sucht Halt in seinem. Er darf nicht gehen.

»Du lässt mich allein, Amin?

Nimm mich bitte mit, Amin! Bitte!

Ich möchte hier nicht ohne dich sein.«

Ihr Blick wirkt flehend, fast bettelnd, doch Nila weiß, dass sein Entschluss feststeht und sie ihren Bruder für viele Jahre nicht wiedersehen wird. Er hat ihr fast alles beigebracht, lief mit ihr über die Felder, baute mit ihr Baumhäuser oder brachte ihr das Schwimmen bei.

Als sie ein Baby war, trug er sie auf dem Rücken und spielte dann mit den anderen Kindern Fußball. Sie gehörte zu ihm wie ein Körperteil. Wenn einmal ein anderer Junge zu ihm sagte, er soll doch seine Schwester beim nächsten Fußballspiel bitte zu Hause lassen, dann tat er das. Aber dann blieb er auch zu Hause. Amin wurde beim Fußball schnell schmerzlich vermisst und so gingen alle anderen den Kompromiss ein und Nila gehörte ab diesem Moment dazu. Es dauerte nicht lange bis man erkannte, dass Nila etwas außergewöhnliches war. Sie hatte nach ihrer Geburt sehr blaue Augen, wobei ihre Eltern dachten, dass diese sich dann wie bei den meisten in ein dunkles Braun verwandeln würden. Bei Nila war das anders. Ihre Augen wurden von Jahr zu Jahr immer heller, fast türkis. Wenn man sie ansah, war man gefangen und gefesselt zugleich. Sie verzauberte mit ihrer Art alle und jeden, war herzlich und hilfsbereit wie ihr Bruder, aber auch störrisch, direkt und mitunter sehr bestimmend. Wie ihr Bruder wuchs auch sie sehr offen auf. Fernab von strenger Tradition, wobei alle bei ihr eine unerklärliche Ausnahme machten, ihr sogar erlaubten, ohne Burka zu spielen oder sie an einigen Tagen auch zur Schule ließen, damit sie, wie die Jungs, lernen konnte.

Doch am heutigen Tag ist sie vor allem ein kleines Mädchen, das ihre langen schwarzen Haare wild zu zwei Zöpfen zusammen gebunden und Angst davor hat, ihren geliebten Bruder für immer zu verlieren.

»Nimm mich bitte mit, Amin.«,

fleht sie ihn wieder an.

»Das geht leider nicht, kleine Nila.«,

erwidert Amin und spürt ihre Enttäuschung tief im Herzen.

»Ich werde nach Amerika gehen. Das weißt du doch. Ich werde Medizin studieren und irgendwann einmal ein guter Arzt sein. Dann kann ich Menschen helfen, denen es nicht so gut geht. Verstehst du das, Nila?«

Sie schaut ihn an und nickt zaghaft.

»Es hat nicht jeder diese Chance, weißt du?

Und deshalb muss ich diese Möglichkeit einfach nutzen. Dann geht es uns allen später einmal viel besser.» Amin wischt ihr die Tränen von den Wangen und streicht ihr die Strähnen von der Stirn, welche die Zöpfe beim Rennen verlassen hatten.

»Werde ich dich auch ganz bestimmt wiedersehen, Amin?

Versprichst du mir das?«

»Ja, das verspreche ich dir. Wenn ich einmal ein richtiger Arzt bin, dann hole ich euch nach. Einverstanden? Ich hole dich, Mama und Baba nach Amerika.»

Amin wusste, dass es unwahrscheinlich, ja, fast unmöglich war, seine gesamte Familie irgendwann einmal gemeinsam nach Amerika zu holen, aber was hätte er diesem kleinen Mädchen sagen sollen?

Wahrscheinlich wäre der Glanz in ihren Augen erloschen und ihr Herz für immer gebrochen. Er gab ihr Mut und Hoffnung als letzten Begleiter mit auf den Weg in ihre Zukunft, die so ungewiss war wie der Flügelschlag eines Vogels durch einen Wüstensturm.

Amin setzt sich direkt vor Nila und greift in seine Hosentasche.

Vorsichtig holt er ein kleines Päckchen hervor, eingewickelt in einem kleinen Stück persischer Seide, legt das Päckchen in seine geöffnete Hand und streckt es ihr entgegen.

»Das hier ist für dich.»,

sagt er leise und deutet ihr, das Päckchen zu öffnen. Erfreut und verwundert sieht sie ihren Bruder an.

»Für mich?

Was ist das?«

»Öffne es, dann siehst du es!«

Aufgeregt nimmt Nila das Päckchen aus seiner Hand und beginnt vorsichtig, den feinen, roten Stoff zur Seite zu schlagen.

Eine aus reinem Gold gefasste Schatulle kommt zum Vorschein, welche ihre Augen noch mehr glänzen lässt.

Sie sieht Amin wieder fragend an.

»Öffne sie!«

Amin zeigt ihr die kleine Öffnung mit dem verzierten Verschluss an der Seite, den sie vorsichtig hochschiebt. In der kleinen Schatulle befinden sich zwei hellblaue, wunderschön geschliffene, olivengroße, glänzende Steine, welche in ein goldenes Gestell eingearbeitet wurden und mit orientalischen Mustern verziert zu einer schmalen, goldenen Kette führen, die jeweils auch, alle drei Zentimeter, kleine blaue Steine als Verzierung trägt.

Nila ist gerührt und überwältigt von der Schönheit dieses Schmuckstückes, so sehr, dass sie kurz alles um sich herum vergisst.

So etwas derart Schönes hat sie noch niemals gesehen, geschweige denn daran gedacht, dass es so etwas gibt.

»Das ist ja wunderschön.«

Sie hält die Kette in die Sonne und blinzelt vorsichtig durch die Steine hindurch, die in unsagbarer Schönheit in einem traumhaft hellen Blauton schimmern.

»Woher hast du diese Kette?«

»Sie wurde extra für dich angefertigt, Nila.«

Nila ist mehr als gerührt und fällt ihrem Bruder um den Hals. Sekunden später sieht sie sich die Kette noch einmal in der Sonne von allen Seiten genau an.

»Die Steine sind zwei Aquamarine.

Zwei Edelsteine, die ich auf einer Medina in Kabul sah. Sie erinnerten mich so sehr an deine Augen, dass ich sie mitnehmen musste.

Die Kette habe ich dann aus mehreren Gliedern zusammenfügen und an Aquamarinsplittern, sowie einer kleinen verzierten Fassung befestigen lassen. Diese Kette gibt es nur einmal. So wie dich Schwesterchen .«Er nimmt ihr die Kette aus der Hand und legt sie ihr um den Hals.

»Weißt du, was dein Name bedeutet, Nila?«

Behutsam greift sie an die beiden Steine und sieht ihn fragend an.

»Nein, das weiß ich nicht.»

«Nila bedeutet blauer Edelstein und kleine Königin. Mama und Baba gaben dir den Namen wegen deiner seltenen blauen Augen.«

»Das wusste ich nicht.«

antwortet sie leise und sieht wieder auf ihre Kette. »Sieh mich an, Nilaherz!«

Zögerlich und traurig sieht sie ihrem Bruder in die Augen.

»Sei immer wie eine Königin! Hilf den schwachen und armen Menschen, die dir auf deiner Lebensreise begegnen, egal welcher Herkunft, und lass niemals Schlechtigkeit in dein Herz!

Versuche, Streit aus dem Weg zu gehen oder versuche, mit Worten oder deiner sanften Art zu schlichten, zu beruhigen, zu klären!

Sei deinen Eltern stets ein gutes Kind, anderen ein Vorbild, ohne von dir selbst abzuweichen und Allah immer eine liebende Tochter!«

Er nimmt sie in seine Arme und hält sie einige Sekunden lang fest.

»Versprichst du mir das?«

»Das verspreche ich dir liebster Bruder.«,

flüstert sie traurig.

»Keine Angst, was das Leben für dich vorbereitet hat Nila. Allah hat einen guten Plan für dich. Bitte nimm diese Kette niemals ab! Sie soll dich beschützen. Wenn du sie trägst, bin ich stets bei dir und Allah,

Al Hamdulele, wird über dich wachen.«

Amin küsst seine Schwester auf die Stirn, nimmt sie an die Hand und beide gehen in das nur einige hundert Meter entfernte Dorf, in dem das Haus ihrer Eltern steht.

Die Eltern von Amin und Nila, Zhora und Abdullah Said, sind sehr liebevolle und fürsorgliche Eltern. Während Abdullah Said das Geld für seine Familie mit Viehzucht und Obstanbau zu verdienen versucht, kümmert sich Zhora liebevoll um ihre Kinder und den Haushalt.

Aufgrund des trockenen Klimas und der vielen Gebirge in Afghanistan kann die Bevölkerung nur schätzungsweise zehn Prozent des Landes für die Landwirtschaft nutzen, was wiederum viel Arbeit und ständiges Fernbleiben, oftmals tagelang, von Abdullah Said zur Folge hat.

Neuerdings werden, um die Felder zu bewässern, aufwendige Kanäle errichtet, welche sich mitunter hunderte Kilometer über das Land erstrecken.

Abdullah Said arbeitet außerdem einmal im Monat auf einer Cannabisplantage, weil er der Meinung ist, mit dem Cannabis mehr Geld verdienen zu können.

Zur Verwunderung von Zhora bringt er an diesen Tagen allerdings nie mehr Geld mit nach Hause.

Sie macht sich keine Gedanken darüber, ob er selbst das Cannabis rauchen oder anderweitig konsumieren würde, weil er, angeboten, auf Opiumfeldern zu arbeiten, stets antworte: »Mit diesem Dreckszeug will ich nichts zu tun haben.«

Allerdings sitzt er oftmals zwei Tage nach der Arbeit auf dem Cannabisfeld auf der Bank vor ihrem Haus und grinst vor sich her und scheint mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Natürlich lässt seine Frau ihn in Ruhe und spricht ihn nie darauf an.

Immer noch besser als ein Mann, der sie schlägt, obwohl Abdullah Said auch das niemals tun würde. Zhora und Abdullah Said wurden von ihren Eltern miteinander verheiratet, als sie 10 Jahre alt und er 18 Jahre alt waren.

Sie war sehr ängstlich am Tag der Hochzeit, aber mit seiner sanftmütigen, ruhigen Art nahm er ihr schon nach wenigen Momenten die Angst.

Er verstand es nicht, warum er fortan mit einem Kind zusammenleben sollte, da er doch Fußball spielen und mit seinen Freunden unterwegs sein wollte, aber er übernahm ziemlich schnell Verantwortung für Zhora und sorgte ab diesem Moment für sie.

Zhora war eine kleine Frau, etwas dicker gebaut, aber hatte ein schönes Gesicht.

Sie lächelt den ganzen Tag, singt Lieder und hin und wieder kann man sie beobachten, wie sie ihrem Mann nach vielen Jahren Ehe verliebte Augen macht.

Nila hat das Aussehen eher von ihrer Mutter, doch die Augenform und vor Allem die Farbe hat sie definitiv von ihrem schlacksigen, schlanken und für sein Alter entsprechend gut aussehenden Vater Abdullah Said. Seine Augen sind nicht so sehr hellblau wie die von Nila, aber für einen Afghanen eben selten: blau.

Beide begrüßen es, dass ihr Sohn Amin nach Amerika geht, um Arzt zu werden, sie selbst haben nie eine Schulbildung genossen, dennoch blicken sie auch mit Wehmut und Sorge in die Zukunft.

Sie wissen, welche Bindung zwischen Nila und Amin besteht und müssen nun versuchen, einen Ausgleich zu finden, was sicher schwierig sein wird. Heute, seinem letzten Tag zu Hause, wollen sie für Amin ein Fest geben und haben alle Bewohner aus der Umgebung eingeladen um ihn gebührend in die neue Welt zu schicken.

Lämmer und Hühner wurden extra für diesen Anlass geschlachtet und von den Frauen zubereitet, verschiedene Fladenbrote gebacken und traditionelle Gerichte in verschiedenen Variationen zubereitet.

Auf den festlich geschmückten Decken auf den Böden befinden sich am Abend zahlreiche Speisen, wie den Chalau und Bata, zwei verschiedene

Reisarten, der eine als Beilage verwendet, der andere kurzkörnig und schmierig gekocht, sowie gefüllte Gebäckstücke, Reisdesserts (Shola genannt) und die Fleischsorten, die neben Huhn und Lamm außerdem noch zubereitet wurden, wie Kamel und Rind.

Zhora kochte eine Lieblingsspeise von Amin, die Dopyasa, eine Art Kebab, wobei man das Fett der Fettschwanzschafe verwendet.

Neben vielen Obstsorten, wie Weintrauben und Melonen, liegen mehrere Sorten Panir, heller Käse, sowie grüner und schwarzer Tee gewürzt mit Kardamom, einem Ingwer ähnelnden Gewürz in Verbindung mit gezuckerten Mandeln, auf den Tellern.

An diesem Abend sitzen, wie immer, die Männer auf der einen Seite und die Frauen auf der anderen Seite. Viele angeregte Unterhaltungen finden statt, überall wird gelacht und zur Musik einer Rubab, dem traditionellen afghanischen Musikinstrument, getanzt oder gesungen.

Amin sitzt neben seinem Vater, doch seine Augen suchen nach seiner kleinen Schwester, die ihm bei solchen Festen meist nicht von der Seite weicht. Amin beugt sich zu seinem Vater.

«Baba, hast du Nila gesehen?

Seit ich ihr die kleine Kette geschenkt habe und wir zurück zum Dorf kamen, scheint sie verschwunden zu sein.

Hätte ich ihr die Kette nicht schenken sollen? Oder wäre es besser gewesen ich hätte mich erst morgen von ihr verabschiedet?»

Abdullah Said hielt in seinem Gespräch mit dem Dorfältesten inne und beruhigte Amin.

«Lass sie, Amin!

Sie braucht Zeit, um zu verstehen das du erwachsen bist und deinen eigenen Weg gehen wirst.

Sie ist hin und her gerissen, macht sich Vorwürfe, dass du wegen ihr gehst oder sie etwas falsch gemacht hat. Wir alle haben es ihr erklärt.

Sie wird es irgendwann verstehen.

Sie ist noch ein kleines Mädchen und kann mit den Gefühlen eines Verlustes schwer umgehen.

Sie hat sich sehr über dein Geschenk gefreut. Alles wird gut, mein Sohn. Und nun iss, soll mir doch kein Amerikaner sagen, dass ein dürrer Afghane Medizin studieren will oder dass es in Afghanistan nichts zu essen gibt.»

Abdullah Said tätschelt seinem Sohn auf den Hinterkopf, während er seiner Frau traurig in die Augen blickt, die ihn ungefähr zehn Meter entfernt beobachtet.

Auch die beiden müssen einen Verlust verarbeiten und wissen nicht, wann oder ob sie Amin jemals wiedersehen werden. Noch einmal suchen Amins Augen den Horizont und die naheliegenden Häuser ab, doch Nila kann er nicht entdecken.

Der Abend neigt sich in den Morgen und dieser begrüßt den neuen Tag mit einer herrlichen Morgenröte über den Dächern des afghanischen Tschalap Dalan Gebirges.

Amin hat die ganze Nacht nicht geschlafen.

Noch immer liegt er auf dem Dach seines Elternhauses, einer kleinen Lehmhütte mit zwei Zimmern, und schaut zum Himmel. Ist es richtig, was er tut?

Soll er seine Familie zurücklassen, um aus seinem Leben etwas Besseres zu machen?

Wer sagt ihm denn, dass es dort besser ist?

Er hat weder einen anerkannten High- School- Abschluss, geschweige denn ein Stipendium, noch eine Wohnung oder viel Geld. Er hat nichts außer einem Koffer, seine Kleidung und die Adresse eines fernen Verwandten in Chicago. Zweifel überkommen ihn. Die langen Gespräche mit seinem Vater und mit seiner Mutter fallen ihm ein und er spürt, dass er der erste in seiner Familie ist, der etwas Großes schaffen kann! Arzt will er werden. Menschen helfen, seine Familie, seine Mutter, seinen Vater und die kleine Nila stolz machen!

«Genau. Arzt will ich werden!»

Amin springt auf und schreit es noch einmal entschlossen in die Morgenröte.

«Ich, Amin Abdullah Said, werde Arzt!

Ich werde Arzt werden und meine Familie stolz machen! Bei Allah, und dann komme ich zurück und hole sie alle zu mir!»

Als sich Amin am Morgen verabschiedet, ist das komplette Dorf versammelt, um ihm Lebewohl zu sagen. Die Frauen singen, die Männer stehen stumm herum, nicken anerkennend oder schlagen ihm respektvoll auf die Schultern.

Amin geht wortlos auf seine Mutter Zhora zu, küsst sie auf beide Wangen, um sie Sekunden später ihrem Schmerz allein zu überlassen.

Es fällt ihm sichtlich schwer. Abdullah Said singt ein leises Klagelied und darf öffentlich zu seinen Tränen stehen, die er auch nicht zurückhält.

Er nimmt das Gesicht seines Sohnes in beide Hände und küsst ihn mehrfach auf die Wangen und auf seine Stirn.

«Allah sei mit dir, mein Sohn. Allah sei mit dir, mein Sohn.»

Amin kann seine Tränen nicht bei sich halten, schämt sich aber seiner Gefühle und versucht, sie zu verschleiern.

Er fällt seinem Vater um den Hals und küsst ihm dankend die Hände und die Stirn.

Er sieht in das liebe Gesicht seines Vaters, der ihn noch einmal die Wangen tätschelt.

«Sei ein guter Junge, Amin, und mach uns stolz!

Allah wird wissen, wann wir uns wiedersehen.»

«Das werde ich, Baba,

das werde ich. Allah sei mit dir Baba.

Allah sei mit Mama.“

Er nimmt seinen Koffer, wendet sich von Abdullah Said ab und geht zum Bus.

Kurz bevor er den Bus besteigt dreht er sich aber noch einmal zu seinem Vater um und ruft ihm zu:

«Baba, hast du Nila gesehen?

Geht es ihr gut?

Passt auf sie auf!»

Abdullah Said winkt ihm beruhigend zu und lächelt. «Mach dir keine Gedanken, Amin.

Sie ist ganz in der Nähe.“

Traurig steigt Amin auf die erste Stufe des russischen PAZ 672- Busses, Baujahr 1960, und blickt noch einmal in die Menge.

Er kann Nila nicht entdecken.

Schweren Herzens winkt er allen noch einmal zu und geht durch den Bus bis zur letzten Sitzbank und verstaut seinen Koffer über sich.

Der Bus hat noch mehrere Stationen vor sich und muss noch viele Menschen aufnehmen.

Aus diesem Grund zögert der Fahrer auch nicht und fährt sofort los. Ein letzter Blick zu seinen Eltern, ein letzter Blick zu seinem Dorf.

Traurig winkt er ein letztes Mal und dreht sich danach ab. Der Weg über die anliegende Straße ist holprig und uneben, deshalb hält der Fahrer alle paar hundert Meter an. Nach ungefähr fünf Minuten Schüttelfahrt hört Amin wieder diese bekannten Töne. Ein leises Rufen.

Ein lauter werdendes Rufen. Ein verzweifeltes, lautes Schluchzen. Schreie, die seinen Namen formen.

Nila. Er dreht sich um und sieht wie Nila hinter dem Bus herläuft, weint, schreit und winkt.

Ihre Knie sind blutig, weil sie schon öfter gefallen ist, aber das macht ihr nichts aus. Hunde begleiten sie bellend, andere Bewohner schütteln wieder einmal die Köpfe, als sie Nila sehen, doch das alles ist ihr egal. Sie läuft wie der Wind dem Bus hinterher. Sie sagt auf Wiedersehen. Amin drückt von innen beide Hände an die Scheiben, auch er kann sich nicht beherrschen und weint.

«Sei tapfer, kleine Nila!

Keine Angst, kleine Nila, ich komme wieder.

Bei Allah, ich komme wieder!»,

ruft er so laut er kann, im Wissen verbleibend, dass sie ihn nicht hört. Der Bus wird schneller und Nila langsamer. Nach noch 100 Metern bleibt sie entkräftet stehen und streckt ihre linke Hand in den Himmel, während die rechte Hand ihre Kette hält. Ihre Augen sind mit Tränen gefüllt und sehen aus wie das Blau des endlosen Ozeans. Sie atmet tief und schnell und blickt dem Bus noch lange hinterher, bis er als Punkt am Horizont verschwindet und auch der Abschied von Minute zu Minute in die Vergangenheit reist. Nila aber bleibt stehen und sieht zum Himmel. Sie schließt die Augen, lächelt kurz, atmet ein und atmet aus, dreht sich um und geht langsam zurück nach Hause.

Sie wird Amin nie wiedersehen.

Nila

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