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Der Anschlag

Drei Monate später

Nördlich von Mardscha, Wüstenstraße, Afghanistan, August 2009, abends

Ein alter Paschtune steht an einer Kreuzung auf der nördlichsten Straße von Mardscha und fegt mit einem selbstgebauten Besen Wüstenstaub vom Asphalt. Wie alt dieser Mann sein mag, kann man schlecht schätzen, zu sehr ist sein Gesicht von der Sonne gebräunt und zu sehr erzählen tiefe Furchen auf seiner Stirn zahlreiche Geschichten. Sein einfaches Lehmhaus steht nicht unweit von ihm entfernt.

Ein provisorischer Kasten mit einem kleinen Fenster, einem offenen Eingang, zwei einfachen Zimmern, einem Flachdach und einer selbstgebauten Holzbank davor. Im kleinen, angelegten Garten tummeln sich Ziegen, Schafe, Hühner und blöken und gackern in der immer noch unerträglichen Hitze von 35 Grad Celsius um die Wette.

Fast jedes zweite Haus in Mardscha sieht aus wie dieses. Das eine größer, das andere kleiner. Inmitten dieser einfachen Wüstenstadt kann man hin und wieder etwas Grün erkennen, ansonsten ist sie von heißem, staubigen Sand regelrecht eingeschlossen. Ein dürrer Hund bellt dem alten Mann in kurzen Abständen immer wieder entgegen, gibt aber nach mehrfachen erfolglosen Versuchen die Aufmerksamkeit des Alten auf sich zu lenken entkräftet auf und legt sich hechelnd in den Schatten.

Der Alte hält kurz inne, nimmt seinen Pakul ab, eine traditionelle, weiche Wollmütze, welche im frühen 20. Jahrhundert anzunehmender Beliebtheit gewann und den großen Turban ersetzte, wischt sich den Schweiß von der faltigen Stirn und sieht die Straße entlang.

Am Horizont erkennt er kleine Punkte, die größer werden und in schneller Geschwindigkeit auf ihn zu rasen. Seine alten Augen erkennen nicht mehr so genau, welches Bild sich aus einer Fata Morgana langsam zu einem realen Bild verformt, dennoch blinzelt er gespannt der Sonne und der Straße entgegen.

Die Punkte werden größer und von Sekunde zu Sekunde kann man Motorengeräusche hören, welche lauter werden und erkennbar eine riesige Staubwolke mit sich führen.

Der alte Hund jammert hörbar leise vor sich hin, spitzt die Ohren, steht auf, klemmt seinen Schwanz zwischen die wackligen Beine, läuft ein kleines Stück zur Straße, blickt in Richtung der donnernden Staubwolke, quietscht leise vor sich her, dreht um, läuft wieder zur selben Stelle im Schatten, von wo er kam, schaut noch einmal auf, dreht sich dreimal im Kreis und setzt sich ängstlich auf seinen Platz.

Langsam erkennt der alte Mann, was da auf ihn zukommt, tritt vorsichtig einige Schritte zurück und stützt sich auf den Besen. Im selben Moment rast ein Konvoi bestehend aus drei amerikanischen Humvees und zwei Stryker RV an ihm vorbei. Humvees sind Geländewagen, welche seit 1985 in verschiedenen Variationen als Transport- und Spähwagen eingesetzt werden. Bis vor einigen Jahren ließ die Panzerung dieser Fahrzeuge zu wünschen übrig und bot überhaupt keinen Schutz für die Soldaten, was zum Glück bei den jetzigen Modellen verbessert wurde. Auch an dickere Windschutzscheiben wurde gedacht, welche 7,62 mm Geschossen standhalten sollen.

Die beiden Stryker, wobei einer an der Spitze und einer am Ende des Konvois fährt, sind schnelle Späh-Radpanzer, die zum doppelten Schutz und schnellen Eingreifen in brenzlichen Situationen stets Fahrzeuge sind, auf die man sich im Notfall verlassen kann.

Der alte Mann wird dabei nicht beachtet. In diesen Fahrzeugen interessiert es niemanden, ob er gerade die Straße fegt oder nicht. Ist doch sowieso alles drekkig. Die aufgewirbelte Staubwolke hüllt den Alten komplett ein und schnürt ihm fast den Atem ab.

Sein Pakul wedelt ihm vom Kopf und die wenigen, weißen, dünnen Haare flattern uneins durcheinander. Der alte Hund hat sich längst einen anderen Platz gesucht und ist nicht mehr zu sehen.

So schnell wie die Fahrzeuge kamen, so schnell sind sie auch wieder verschwunden. Die Geräusche der Motoren stummen langsam ab und das Bild am Horizont verwischt sich im Einklang mit der Sonne wieder zu einer Fata Morgana, wird kleiner und kleiner bis es komplett verschwindet.

Der Alte wischt sich den Staub aus seinen Sachen, setzt sich seine Mütze wieder auf, schüttelt ungläubig den Kopf, murmelt irgendwelche Worte in Paschtu vor sich her, nimmt seinen Besen und fegt die staubige Straße noch einmal von vorn.

Der alte Hund kommt aus seinem Versteck hervor, schnuppert ängstlich in den Wind und legt sich wieder in seine schattige Ecke, am Rand des Lehmhauses. Alltag in Mardscha.

Der amerikanische Konvoi fährt derweil weiter Richtung Norden, passiert mehrere enge Straßen, verlangsamt sein Tempo und kommt seinem Einsatzgebiet in den Hügeln oberhalb der kleinen Wüstenstadt immer näher. Eine Taliban-Hochburg.

Die Amerikaner haben den Auftrag, den Vorstoß der Taliban zu verhindern, welche sich immer wieder kleine Dörfer zum Ziel suchen, diese einnehmen, Dorfbewohner töten, verschleppen und die Häuser als neue Umschlagplätze, Waffenlager und Verstecke nutzen. Eine sehr gefährliche Mission, die Wachsamkeit, Vorsicht und Aufmerksamkeit voraussetzt, da überall und plötzlich mit einem Angriff der Taliban oder einer Sprengfalle gerechnet werden muss.

Eric sitzt im letzten Humvee mit weiteren sechs Kameraden. Sergeant Melissa Hanson, Mitte 30, verheiratet, 2 Kinder, gutaussehend, liebt mexikanisches Essen, Captain Steven Anderson, der typische Soldat, Oberlippenbart wie damals Magnum und absoluter Patriot, Corporal Mike „Clown“ Carter, Anfang 20, immer einen lustigen Spruch auf Lager, etwas dick und klein und seit dem zarten Alter von 10 Jahren in ein und dieselbe Frau verliebt, hat es ihr aber noch nie gesagt.

Im hinteren Teil sitzen noch Sergeant Peter Brown, Corporal Annie Cunningham am MG und als Fahrer der stets ernste und Kaugummi kauende Denny Edwards. Die Stimmung ist ausgelassen, aber dennoch angespannt.

Mike Carter sieht aus dem Fenster und beobachtet einige Frauen, die langsam und komplett verhüllt in ihren blauen Burkas die Straße entlanglaufen. Er grinst.

«Was meint ihr, tragen sie was unter ihren Kleidchen oder eher nicht?»

Eric und die anderen Jungs lachen und rufen witzelnd aus dem Fahrzeug den Frauen schweinische, sexistische Worte hinterher.

«Hast du kein anderes Thema, Mike, das ist ekelhaft.»,

wirft Melissa Hanson genervt dazwischen.

«Mein Gott, Melissa, lass ihn doch!

Seit wann bist du so verbohrt?

Mich würde das auch mal interessieren. Was meinst du, Eric, tragen die Ladys was drunter oder nicht?»

Sergeant Peter Brown stupst Eric an, der mit seinen Gedanken gerade woanders war.

«Keine Ahnung man, interessiert mich nicht.»

Eric rückt sich seinen Kragen zurecht und fächelt sich ein wenig Luft zu.

Die Hitze in dem Humvee ist unerträglich. Er ist müde und körperlich mit seinen Kräften am Rande des Ertragbaren angekommen. Die Hitze, das Klima und die ständigen Fahrten durch besetztes Gebiet haben bei ihm schon leichte Spuren hinterlassen.

Klar wollte er in Cowboymanier zeigen, was für ein großer Mann in ihm steckt, sein Land verteidigen, John Wayne spielen, der große Befreier sein.

Die Realität sieht aber anders aus und aus einem Cowboy-Indianer Spiel wird sehr schnell purer Überlebenskampf, der für viele Amerikaner und andere Soldaten nicht gewonnen werden konnte und von einigen mit dem Leben bezahlt werden musste.

Eric sieht wieder aus dem Fenster.

Nichts außer Staub und Hitze. Die Straße wird enger und die felsige Landschaft, welche den Rand der Gebirge ausmacht, kommt so langsam zum Vorschein. Mike „Clown“ Carter rutscht ein wenig näher an Sergeant Melissa Hanson heran und legt einen Arm um ihre Schultern.

«Also so ein bisschen rumfummeln könnte ich auch mal wieder.

Was meinen Sie, Sergeant, haben Sie heute Abend schon etwas vor?

Ich könnte ihnen die Sterne zeigen und am Himmel den großen Bären suchen.»

«So weit ist der große Bär gar nicht weg, Mike.»

Eric und die anderen amüsieren sich auf Kosten von Melissa.

Mike zieht sie langsam zu sich und züngelt mit seiner Zunge kurz vor ihrem Ohr rum.

Melissa stößt ihn angewidert zur Seite.

«Fick dich, Mike!

Jetzt weiß ich, warum man dich „Clown“ nennt, Carter. Nur weil du seit zwanzig Jahren nicht an deine „Vorstadt-Pussy“ ran kommst, musst du bei mir nicht deinen Eselstrieb rauslassen.»

Die anderen Jungs fangen an zu kichern, sich abzuklatschen und ein lauter werdendes «Uhhhhhhhh.» zu raunen, während Melissa Eric zuzwinkert, und sich Arme verschränkend entspannt zurücklehnt. Mike verzieht das Gesicht. Sieg für Melissa.

«Nimm dir doch einfach so eine Moslem-Tante. Davon laufen doch hier genug rum… und der Vorteil ist: Du siehst nicht mal, ob die hübsch oder hässlich sind.

Einfach das Beinkleid hoch und los geht`s. Ganz einfach.»

Eric boxt seinem Kameraden in die Seite.

«Da mach ich`s mir lieber selbst.»,

erwidert ein genervter Mike.

«Ihr habt eindeutig zu lange in der Sonne gesessen, Jungs!»

Melissa nimmt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, als der Wagen plötzlich scharf bremst und stehen bleibt. Melissa verliert den Halt und fliegt nach vorn. Der gesamte Konvoi steht.

Plötzliche Stille im Fahrzeug. Melissa setzt sich wieder auf ihren Platz und versucht, wie die anderen, zu erkennen was da draußen vor sich geht.

Im Fahrerbereich versucht Captain Anderson ebenfalls zu erkennen, weswegen der Konvoi steht. Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu und die Sonne ist seit einigen Minuten schon verschwunden. Es wird zunehmend dunkler. Die Gefahr, wenn ein Konvoi zum Stehen kommt, ist bei Dunkelheit dreimal so groß. Nervös rutscht Anderson auf seinem Sitz hin und her. «Was ist da los, verdammt?»

Er sieht nach vorn, kann aber immer noch nichts erkennen. Die anderen Fahrzeuge vor ihnen versperren die Sicht.

«Hier geht es nicht weiter, Sir.»,

bemerkt Denny Edwards und kaut nervös immer schneller auf seinem Kaugummi rum.

«Wir dürfen hier auf keinen Fall stehen bleiben!»,

bemerkt der Captain und sieht nervös in die Außenspiegel, um zu kontrollieren, ob sich hinter ihnen Fahrzeuge nähern.

«Wir können hier aber auch nicht wenden, Sir, die Straße ist zu eng!»

Denny hat sich aufgeregt einen neuen Kaugummi in den Mund geschoben.

«Scheiße.»

Captain Anderson dreht sich zu seinen Männern um.

«Entsichert eure Waffen und haltet die Augen offen! Irgendwas ist hier im Gange.

Auf keinen Fall aussteigen ohne ausdrücklichen Befehl!»

Eric ist nervös und beißt sich auf die Unterlippe. Im Fahrzeug herrscht plötzlich gespenstische Ruhe. Jeder entsichert seine Waffe und hält sie im Anschlag. Captain Anderson nimmt das Funkgerät in die Hand. Er muss in Sekunden entscheiden, was zu tun ist, das Leben seiner Soldaten steht auf dem Spiel.

«Wolf 2 an Wolf 1, was zum Teufel ist da vorne los? Warum geht es nicht weiter? Over… »

«Wolf 1 an Wolf 2, Sir, hier geht nichts mehr.

Ein LKW mit Anhänger steht quer auf der Straße.

Zum Wenden ist es zu eng.

Wir können alle nur langsam zurücksetzen. Over… »

«Verzeichnet ihr irgendwelche Aktivität? Over… »

Anderson ist sichtlich nervös.

«Negativ, Sir, hier ist alles ruhig. Over… »,

tönt es aus dem Funkgerät.

«Das gefällt mir nicht. Verdammt nochmal!»

Captain Anderson funkt das Hauptquartier an. Eine brenzliche Situation.

«Wolf 2 an Basis! Bitte kommen! Ich glaube wir haben hier ein Problem, over… »

«Wolf 2, hier ist Basis, reden Sie!»

«Könnt ihr mal nachschauen, ob ihr irgendwas auf dem Radar habt?

Bewegungen oder feindliche Truppen?

Ein LKW blockiert die nördliche Zufahrtsstraße, wir kommen nicht weiter. Over…»

«Bitte geben Sie die genauen Koordinaten durch, Sir!» Während Captain Anderson die angeforderten Koordinaten an die Basis durchgibt, werden Eric und seine Kameraden im hinteren Teil des Humvees immer nervöser. Die stickige Luft wird zunehmend dünner und die Sicht nach draußen schlechter.

«Na, Mike, dann fällt dein Date mit Frau Sergeant wohl aus was?»

versucht Eric abzulenken, um die angespannte Stimmung etwas zu lockern.

«Ach halt doch deine Fresse, Jones!» kontert Mike aufgeregt zurück.

«Bitte um Bestätigung, aus den Fahrzeugen auszusteigen, um das Gebiet zu sichern! Over… »

Captain Anderson versucht in der Kürze der Zeit eine schnelle Entscheidung zu finden, um seine Soldaten aus dieser schwierigen Situation zu führen.

Eric beginnt langsam nervös zu werden und fühlt sich seltsam beengt.

Er hatte noch nie an Klaustrophobie gelitten, aber jetzt schnürt ihm etwas die Luft ab. Eric hat Angst.

Das erste Mal in seinem Leben hat er Angst. Er nimmt seinen Helm ab und wischt sich mit der Handaußenseite den Schweiß von der Stirn.

«Scheiße, diese Hitze macht mich verrückt. Was ist da draußen los, Herr Gott nochmal?»

«Setzen Sie sofort ihren Helm wieder auf, Soldat!»,

faucht Sergeant Peter Brown Eric entgegen.

Im gleichen Augenblick schreit die Basis durch das Funkgerät:

«Wolf 1, Wolf 2, ich verzeichne extreme Aktivität und Bewegung bei Ihren Koordinaten.

Verlassen Sie sofort die Fahrzeuge! Ich wiederhole: Verlassen Sie sofort Ihre Fahrzeuge!

Sie müssen da raus! Over… »

Captain Anderson sieht zu seinem Fahrer und schreit blitzschnell, ohne zu zögern in den hinteren Fahrbereich.

«Männer! Waffen griffbereit, Nachtsicht an und sofort raus aus dem Fahrzeug! Sucht euch Schutz neben der Straße in Abständen von fünf Metern! Los, los, los!»

Ehe Eric begreift, was geschieht und sich seinen Helm wieder aufsetzen kann, gibt es eine ohrenbetäubende, gewaltige Explosion und ein greller, weißer Lichtkegel erhellt für Millisekunden den Abendhimmel.

Das Einzige, was Eric noch mitbekommt, ist ein Schlag und ein Blitz, ehe er aus dem Fahrzeug geschleudert wird. Der Humvee ist auseinandergerissen und der komplette Konvoi wird bei der gewaltigen Explosion innerhalb eines kurzen Augenblickes komplett zerstört. Kurze Stille.

So gewaltig dieser Moment auch war, so ruhig sind die unmittelbaren Sekunden danach. Nur das laute Knistern von brennenden Fahrzeugen kann man jetzt noch hören.

Überall riecht es nach verbranntem Gummi, Benzin oder verkokeltem Fleisch. Soweit das Auge im erhellten Gebiet reicht, liegen zahlreiche Trümmer verstreut in der Gegend herum, und das, was von den Fahrzeugen noch übrig ist, steht lichterloh in Flammen.

Leichen von amerikanischen Soldaten mit abgetrennten Gliedmaßen und zerfetzten Körpern versinnbildlichen einen fürchterlichen Platz des Grauens.

Eric hat überlebt. Er weiß nicht, wie, aber er hat überlebt, allerdings noch nicht registriert, was gerade geschehen ist.

Er liegt unter einer Seitentür des zerstörten Humvees. Benommen und unwirklich wahrgenommen, woher dieser Knall kam und was das für eine Explosion war, bewegt er sich langsam unter der Tür hervor.

Orientierungslos versucht er, auf die Beine zu kommen. Mehrere Metall- und scheinbare Knochensplitter von seinen Kameraden stecken in seinem Gesicht und in seinem rechten Bein, sein linkes Ohrläppchen ist zerfetzt, am Oberkörper klafft eine zirka 10 Zentimeter lange, tiefe Fleischwunde, und außerdem haben sich dort mehrere Fetzen seiner Uniform in seine Haut gebrannt, weswegen er sich geistesgegenwärtig unter Schmerzen die Jacke auszieht.

Die Erkennungsmarke ist so heiß, dass sie fast schmilzt. Er reißt sie sich vom Hals und schmeißt sie mit der Jacke weg. Schwarz vor Augen versucht er die Orientierung zu finden, hält sich an einigen Fahrzeugteilen fest und sackt zurück auf die Knie.

Die Bilder kommen wieder. Ängstlich sieht er sich um und registriert das Chaos. Es ist das blanke Entsetzen. Tränen aus Angst, Verzweiflung und des Schmerzes schießen aus seinen Augen. Er wimmert leise.

Was ist hier geschehen? Wo ist der Konvoi?

Wo sind seine Kameraden? Eric hält sich die Hände vor sein Gesicht. Er kann es nicht begreifen.

«Oh mein Gott, oh mein Gott!»,

stammelt er vor sich hin und versucht sich einen kleinen Überblick zu verschaffen. Plötzlich entdeckt er Mike «Clown» Carter. Er sitzt ungefähr zehn Meter von ihm entfernt.

Mikes Oberkörper ist von kleineren Granat- und Trümmersplittern übersät, beide Beine sind abgetrennt. Er blutet stark aus den Ohren, aus der Nase, aus dem Mund und blickt teilnahmslos geradeaus. Mike lebt. Eric schleppt sich mit letzter Kraft kriechend zu ihm und setzt sich unter Schmerzen dazu. Mike röchelt leise und spuckt Blut.

«Was ist hier passiert, Eric?»,

stottert Mike kaum verständlich und versucht Eric anzusehen, doch er kann ihn nicht erkennen. Seine Augen sind gläsern, seine Wahrnehmung nur noch verschwommen, seine Lebensfreude und seine Hoffnung verschwunden. Mike hat kaum vorstellbare Verletzungen erlitten, aber durch den Schock bedingt kaum Schmerzen.

Er beginnt zu zittern und spuckt immer mehr Blut.

«Was ist hier passiert, Eric?»,

stammelt er noch einmal und zittert seinen Blick zu seinem Kameraden.

«Scheiße, Mike, ich weiß es nicht!

Minen schätze ich, ein Sprengsatz.

Versuche, nicht zu viel zu reden! Die holen uns hier gleich raus.»

Mike versucht zu lachen. Er glaubt seinem Freund kein Wort, versucht sich mit den Armen abzustützen, merkt, dass er sich nicht von der Stelle bewegen kann, sieht erschrocken zu sich herunter und registriert, dass er keine Beine mehr hat und sein Oberkörper nahezu zerfetzt ist. Er beginnt laut zu schreien und zu weinen, greift nach Eric und bittet ihn um Hilfe. Doch Eric kann ihm nicht helfen.

Er kann jetzt nur für ihn da sein. Eric versucht ihn zu beruhigen.

«Gottverdammte Scheiße, wo sind meine Beine?

Wo sind meine Beine?

Eric? Wo sind meine Beine?»

Mike beginnt wie wild mit seinen Armen zu rudern.

«Meine Beine… wo sind meine Beine?

Was haben die mit meinen Beinen gemacht?»

Immer wieder sieht Mike an sich herunter. Nach und nach begreift er die Situation.

«Versuche dich zu beruhigen, Mike! Bitte! Die holen uns hier gleich raus, aber du musst dich beruhigen! Schhhhhh, ruhig, Mike. Bitte.»

Eric legt ihm seine Hand auf die Stirn und redet langsam und leise auf ihn ein.

«Oh nein, meine Beine.

Ich will meine Beine wieder…»

«Du musst ruhig atmen, Mike! Ganz ruhig atmen! Versuch es! Schhhhhhh, so ist gut. Atme tief und ruhig. Noch mal…. tief und ruhig. So ist das genau richtig…. Schhhhhhh, tief und ruhig, so ist gut, schhhhh, tief und ruhig. Siehst du es geht doch. Genau richtig so, atme ganz langsam!»

Mike beruhigt sich und starrt wieder geradeaus.

Er atmet ruhiger und langsamer. Tränen laufen über seine Wangen. Eric streicht ihm behutsam über den Kopf, über die Stirn und wischt ihm das Blut von den Lippen. Vor ein paar Minuten lachten sie noch gemeinsam über einige Jungenwitze und jetzt sitzt er sterbend vor ihm. Die Realität sieht eben doch anders aus. Krieg ist grausam, barbarisch, hebt die schlechtesten Eigenschaften von Menschen hervor und hat nichts mit John Wayne zu tun. Eric versucht, sich nichts anmerken zu lassen.

«Ich habe solche Angst, Eric.

Ich habe solche Angst.»

Mike wird leiser und zittert immer wilder.

Eric versucht, ihn zu halten, zu beruhigen und bemerkt dabei, dass sich ein langes Metallstück durch Mikes Hüfte gebohrt hat.

«Oh man, Mike.»

«Ja… ich bin hier, Eric, ich laufe schon nicht weg.»

Mike hat auch jetzt seinen Humor nicht verloren und haucht das letzte bisschen Leben aus seinem Körper. Er sieht Eric an und lächelt, als ob er genau in diesem Moment seinen Frieden mit allem gemacht hat.

«Ich habe Angst, Eric.»

«Ich weiß. Aber ich bin bei dir. Ich bin hier, siehst du? Ich bin hier.»

Eric rückt ein wenig zu Mike heran und umschließt fest seine Hand.

Seinen Arm hat er um ihn gelegt und seinen Kopf vorsichtig an seine Schulter gedrückt.

«Ich bin hier, Mike. Und jetzt ganz ruhig!

Wir warten bis sie uns holen.»

Für einen Augenblick gibt es das Gefühl von absoluter Ruhe und Zufriedenheit. Eric drückt Mike fest an sich und hält ihn in seinen Armen. Er spürt wie aufgeregt Mike atmet, und er spürt, wie die letzte Luft durch seinen Körper strömt.

«Ich will zu meiner Mama. Ich will zu meiner Mama. Bring mich zu meiner Mama.

Ich will nach Hause zu meiner Ma… ma… .»

Die letzten Worte verstummen. Der Körper in Erics Arm hat aufgehört zu zittern, der Griff in seiner Hand wird locker. Mike ist tot.

Mike wollte nach der Army als Komiker nach Hollywood auf die Bühne und die Menschen zum Lachen bringen. Er war lebenslustig, stets fröhlich und unglücklich verliebt. Er war neunzehn Jahre alt und hatte geplant, seinen zwanzigsten Geburtstag während seines nächsten Fronturlaubes in seiner Heimat, Alabama, mit all seinen Freunden und seiner Familie zu feiern.

Stattdessen ist er gerade auf dieser staubigen Straße nördlich von Mardscha in den Armen eines Kameraden gestorben. Im Krieg für sein Land. Mit unerfüllten Träumen.

Eric bleibt noch eine kurze Zeit in dieser Position mit Mike sitzen, bevor er ihm sanft die leeren Augen schließt und mit Stoffresten vorsichtig abdeckt.

«Leb wohl, mein Freund.»,

flüstert Eric ihm ein letztes Mal zu, küsst ihn auf die Stirn und setzt sich neben ihn.

Er greift in seine Hosentasche, griffelt suchend darin herum, findet eine Zigarette und zündet sie mit seinen letzten zwei Streichhölzern nervös an.

«Was mache ich hier überhaupt?»,

spricht er zu sich selbst und atmet den Rauch des Tabaks tief ein. Es wirkt beruhigend. Er sieht jetzt selbst zu sich herunter. Vom Schock und Adrenalin überrannt bemerkt er erst jetzt seine eigenen schweren Verletzungen.

Sie müssen schnell versorgt werden, sonst könnte es auch für ihn selbst gefährlich werden. Doch wo zum Teufel war er hier? Wie war seine Position und wie sollte er allein hier wieder wegkommen? Den letzten Zug der Zigarette genießend wird Eric plötzlich aus seinen Gedanken gerissen.

Fahrzeuge nähern sich. Viele Fahrzeuge. Geistesgegenwärtig greift er nach einer Pistole, die vor ihm im Dreck liegt, sichert sich umliegende Magazine, steckt sie in die seitlichen Hosentaschen zu den anderen und robbt bis zum Rand der Straße an einen Abgrund. Jetzt hört er auch Stimmen.

Stimmen und Fahrzeuge, die näherkommen.

Er weiß noch nicht, ob er erleichtert sein soll. Obwohl er selbst einige schwere Verletzungen davongetragen hat, ist sein Verstand hellwach, und dieser sagt ihm gerade «So schnell können unsere Jungs nicht hier sein!»

«Fuck off!»

Eric kriecht weiter, stellt sich aber schnell auf seine wackeligen Beine und humpelt zu dem kleinen Abhang. Er klettert ihn etwas hinunter und versteckt sich hinter einem Busch.

Von dort aus hat er einen Überblick über das Geschehen und Schutz davor, entdeckt zu werden. Wer kommt da auf ihn zu?

Vorsichtig blickt er durch die trockenen Zweige hindurch. Zwei Jeeps, wahrscheinlich russischer Herkunft aus den achtziger Jahren, halten mit quietschenden Reifen auf der staubigen Straße. Eric sieht genau hin. Er ist aufgeregt und hat Angst.

Immer wieder schaut er durch die Äste und duckt sich dann vorsichtig ab. Plötzlich hört er Männerstimmen. Arabische Männerstimmen. Scheinbar sind das Taliban Kämpfer. Eric erkennt innerhalb von Sekunden, in welcher Gefahr er sich befindet und verhält sich ganz ruhig. Er versucht nicht einmal zu atmen. Er hat keine Zweifel: es sind die Taliban!

Mehrere von ihnen springen schwerbewaffnet mit MGs oder AK- 47- Maschinenpistolen aus den Jeeps und sehen sich um.

Wenn er jetzt einen Fehler macht, das weiß er, dann wird er diese Nacht nicht überleben. Er muss sich ruhig verhalten. Die Taliban, schätzungsweise zehn bis fünfzehn Mann, laufen die Explosionsstelle ab und sehen sich in aller Ruhe um.

Unter Ihnen ist ein Kämpfer, ungefähr 50 Jahre alt, groß gewachsen und langem schwarzen Bart. Er scheint ihr Anführer zu sein. Eric kann sofort erkennen, dass dieser Taliban zu allem fähig ist.

Er sieht äußerst brutal aus und genießt augenscheinlich den größten Respekt unter den Männern. Nachdem sich alle sorgfältig umgesehen haben, sammeln sie sich in der Mitte des Anschlagzentrums und reißen gemeinsam die Arme nach oben.

Einige schießen mit ihren Gewehren in die Luft, andere schreien «Allahu Akbar! Allahu Akbar!»,

Gott ist groß, in den, durch die brennenden Wracks erhellten Abendhimmel. Eric atmet wieder schwerer. Er weiß nicht, was er tun soll, verhält sich aber so ruhig es nur geht. Vorsichtig schaut er immer wieder zu der Gruppe von Männern, um nichts zu verpassen.

Sollten sie auf ihn zukommen, muss er rennen. Rennen, um zu überleben. Wohin, hat er keine Ahnung. Er umklammert krampfartig seine Pistole, um sich im Notfall den Weg freizuschießen, so wie es die Helden in Hollywoodfilmen machen, doch begräbt er diesen Gedanken sofort wieder. Die Realität ist kein Film.

Wahrscheinlich würde er nicht einmal zum Abfeuern seiner Pistole kommen. Er hätte niemals gedacht, dass sich Angst so furchtbar anfühlt.

Ein Gefühl aus Lähmung, Sprachlosigkeit und endlos scheinender Taubheit im gesamten Körper.

Er kann kaum einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn in irgendeiner Form eine Möglichkeit in Betracht ziehen, wie er sich aus dieser Lage wieder befreien soll. Soll er warten, bis die Taliban wieder abziehen und solange auf ärztliche Versorgung verzichten? Seine Wunden sind schwer.

Das linke Ohrläppchen zerfetzt, Splitter überall, eine tiefe, immer noch stark blutende Wunde am Oberkörper. Wie lange würde seine Kraft reichen? Könnte er sich zu Fuß bis zur Basis zurückschleppen? Ohne sichere Schussweste, ohne Gewehr, sondern nur mit einer Beretta M9 bewaffnet?

Ohne Schutz und Hilfe, und das auch noch verletzt? Keine gute Vorstellung. Unmöglich. Plötzlich werden die arabischen Stimmen wieder lauter, aggressiver und angespannter. Eine Art Tumult bricht aus.

Vorsichtig sieht Eric durch den Busch, um zu beobachten, was vor sich geht, doch er kann nichts erkennen. Langsam zieht er sich noch ein wenig höher. Frauenschreie sind zu hören und hallen wie ein Echo durch die Nacht.

Eric schreckt zusammen und sieht genauer hin. Ihm bleibt fast das Herz stehen, als er sieht, was gerade passiert. Wie durch ein Wunder hat Melissa Hanson den Anschlag ebenfalls überlebt.

Die Taliban ziehen die Schwerverletzte, schreiende Melissa aus einem sicher geglaubten Versteck und schleifen sie einige Meter an den Haaren über den Boden. Ihre Schreie sind entsetzlich. Sie brennen sich sofort bei Eric ein. Er dreht sich um und beißt sich in die Faust. Er kann sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen? Wieder sieht er zurück.

Der Chef dieser Truppe geht mit langsamen Schritten mehrfach um Melissa herum. Sie hat Todesangst und wimmert kläglich um Gnade.

Sie weint in einem kaum vorstellbaren Ton, ihre Augen wandern abwechselnd von einem Taliban zum nächsten. Sie will sagen «Helft mir! Bitte, helft mir!»,

doch ihr flehender Blick wird ignoriert.

Eric sieht sich in der Pflicht. Wieder setzt er sich zurück, unterhalb des Busches und beißt sich in die Faust, Tränen schießen ihm aus den Augen. Er will ihr helfen. Doch er kann ihr nicht helfen, ohne selbst dabei zu sterben. Er richtet sich auf, blickt zu Melissa, umklammert seine Pistole noch fester, noch entschlossener und setzt sich wieder zurück, um in seine Armbeuge zu schreien. Niemand hört ihn.

Niemand bemerkt ihn. Er muss ihr helfen. Er muss ihr irgendwie helfen. Er fühlt sich schäbig und hilflos. Immer wieder sieht er zurück.

Er wird wütend und hält es kaum noch hinter diesem Busch aus. Er pustet leise Luft aus seinen Lungen und sieht wieder zurück zu Melissa.

Doch was er jetzt sieht, lässt seinen Atem erfrieren und seinen Glauben an die Menschheit verlieren. Der Anführer der Taliban zieht ohne Vorwarnung ein großes Messer, fast eine Art Machete, unter seinem Gewand hervor und schlägt kurz und knapp mit drei gezielten Schlägen gegen den Hals von Melissa. Eric hält sich die Hände vor den Mund.

Tränen laufen über sein Gesicht. Er schreit ohne Ton. Seine Augen sind weit geöffnet. Melissa kann nur noch ächzende, gurgelnde Laute von sich geben und ehe Eric begriffen hat, was geschieht, hat der Taliban ihren Kopf von den Schultern getrennt und hält ihn triumphierend und schreiend in die Höhe. Melissa ist tot. Ermordet von den Taliban. Ermordet wie ein Schwein. Geschlachtet. Eric rutscht langsam zurück zum Abhang. Er zittert, hyperventiliert, übergibt sich leise mehrfach und lehnt sich geschockt zurück. Er versteht nichts mehr. Er versteht nicht, wo er ist, warum er hier ist, er versteht nicht, wieso das alles geschieht. Er muss sich sammeln. Er muss bei klarem Verstand bleiben.

«Großer Gott, Melissa! Es tut mir so leid!»,

stammelt er leise vor sich her und zieht sich wieder langsam und vorsichtig zum Busch hoch.

Die Taliban haben Melissa auf bestialische Weise ermordet und in den Straßengraben geworfen, wie Müll, den man wegwirft.

Das ist die grausame Realität in diesem Krieg.

Eric sieht sich um. Er weiß, dass er nur noch eine kurze Zeit abwarten muss bis die Taliban verschwinden. Dann wäre er erst einmal in Sicherheit und der Hilfstrupp womöglich auch nicht mehr weit. Leise beobachtet er, wie die Kämpfer auf die Jeeps springen. Um genauer zu erkennen, ob alle wegfahren, greift er mit der rechten Hand unkontrolliert in den Busch und zieht sich noch ein Stück höher. Er muss sich sicher sein. Plötzlich knackt es, der Ast gibt nach und mit einem lauten Knall stürzt Eric ungebremst in die unter ihm liegende Schlucht.

Mehrere Büsche, kleine Bäume und hügelige Plateaus am Abhang mindern den Aufprall und schützen ihn somit vor schwereren Verletzungen auf den Weg in das ungefähr vierzig bis fünfzig Meter unter ihm liegende Tal. Innerhalb von ein paar Sekunden ist alles vorbei und er landet hart auf mehreren kleineren Eschenbüschen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und zig Schnittwunden an seinen Armen und an der Stirn landet er auf dem Rücken.

Eric besinnt sich sofort und ist hellwach.

«Verdammt die haben mich gehört!»

Er versucht sich aus dem Eschenbusch zu befreien, zerreißt sein Unterhemd noch mehr und springt auf den Boden. Es ist stockfinster.

Es braucht eine kurze Zeit, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ohne zu zögern kriecht er einige Meter hinter einen Felsen und sieht hinauf zum Abhang. Haben sie ihn entdeckt?

Zur selben Zeit an der Anschlagsstelle

Durch das Knacken, den Aufprall von Eric auf den Felsen und seiner leisen, dumpfen Schreie, sind die Taliban auf ihn aufmerksam geworden und laufen mit durchgeladenen Waffen zum Hang, an dem Eric vor einigen Minuten noch saß.

Sie halten Taschenlampen hinab, um etwas zu erkennen und schießen mehrfach in die Dunkelheit. Mesut, der Kommandant der Taliban, kommt dazu, sieht nach unten und hockt sich vor den Busch. Mit seiner Hand wischt er langsam über den trockenen Boden. Bluttropfen. Überall sind Bluttropfen. Er nimmt etwas Blut zwischen die Finger, riecht daran und wischt seine Hand an seiner Hose ab.

Seine Augen werden kalt, gefühlslos und dunkel. Er verharrt mit steifem Blick in das Tal sehend und beißt sich auf die Zähne, so dass seine Kiefermuskeln zum Vorschein kommen.

Auf Persisch redet er in einem ruhigen Ton zu seinen Männern.

«Wir haben hier ein angeschossenes Schwein ohne Orientierung. Dreckig, hilflos, hungrig und verletzt. Wir sollten es einfangen und schlachten!»

Mesut steht auf und dreht sich zu den Anderen.

«Lasst uns hier verschwinden, bevor man uns entdeckt! Sicherlich haben sie uns via. Satellit längst ausfindig gemacht.

Dieses ungläubige amerikanische Schwein kann nicht weit kommen. Dort unten gibt es nichts außer Wüste.

Nachts wird er frieren und am Tag kommt die Hitze.

Wir müssen morgen nur den Spuren folgen… irgendwann finden wir ihn… «

Mesut reißt entschlossen seine Arme nach oben und brüllt voller Hass seinen Männern entgegen.

«…und dann bekommt er seine gerechte Strafe. Inschallah! Inschallah! Allahu Akbar!

Allahu Akbar! Allahu Akbar!»

Die Taliban schreien so grauenvoll und angsteinflößend, dass Eric hinter dem kleinen Felsen bei jedem Wort zusammenzuckt.

Man hat ihn bemerkt, das ist klar. Man weiß scheinbar auch, dass er noch lebt, das ist ihm auch klar.

Immer wieder sieht er ängstlich hinauf, um zu erkennen, ob man ihm bereits folgt. Scheinbar nicht. Er atmet kurz durch und betrachtet langsam seine Wunden. Er ist ziemlich schwer verletzt und muss an einigen Stellen genäht und grundversorgt werden, doch hat er zu allererst seine Sicherheit im Kopf.

Das Adrenalin in seinem Körper tut sein Bestes, damit er keine Schmerzen spüren muss, doch die Angst bleibt. Die pure Angst.

Er weiß weder, wo er ist, noch in welche Richtung er laufen soll. Er weiß nur, dass er hier so schnell es irgendwie geht, verschwinden muss, um sich im Falle einer Verfolgung durch die Taliban einen kleinen Vorsprung zu verschaffen.

Eric steht langsam auf, sammelt sich und läuft über hügelige Abschnitte und felsige Untergründe einfach los. Er blickt nicht zurück. Er sammelt seine letzte Kraft und versucht, nur zu laufen.

Zu laufen und zu laufen. Er erinnert sich an das letzte Gespräch mit Andy. Er lächelt entschlossen und wird schneller. Er läuft, wie sein Freund es gesagt hat. Einfach nur laufen. Nicht zurückblicken, nicht mutig sein, nur laufen. Laufen um sein Leben.

Es bleibt ihm ja gar nichts anderes übrig. Eric rennt, stürzt, steht wieder auf, dreht sich um und rennt weiter. Er bleibt an kleinen Büschen hängen, reißt sich immer mehr Wunden, atmet kurz durch und läuft weiter. Er ist in größter Lebensgefahr, das ist ihm bewusst, aber er weiß auch, dass seine Kameraden und Vorgesetzten nach ihm suchen werden.

Das macht ihm Mut, das lässt ihn wachsen, das gibt ihm für einige Minuten neue Kraft. Nach zahlreichen gefühlten Kilometern und endlos scheinenden hügeligen Schluchten und Felsen fühlt er sich einigermaßen sicher und hat einen großen Vorsprung erkämpft. Er bleibt stehen und lehnt sich an einen Baum am Rande eines kleinen Gebirgszuges, der sich nach oben zu schlängeln scheint. Entkräftet sieht er die Felsen entlang. Er schüttelt mit dem Kopf.

Diesen Aufstieg schafft er heute nicht mehr. Aber er muss. Ängstlich sieht er in die Richtung zurück, aus der er kam. Keine Lichter, keine Schreie, keine Motorengeräusche. Sie folgen ihm nicht.

Noch nicht. Eric sackt auf den Boden und beginnt bitterlich zu weinen, zu zittern und zu krampfen. Er muss alles irgendwie verarbeiten, den Schmerz rauslassen, versuchen zu verdrängen. Er braucht neue Kraft, muss sich orientieren. Er denkt an den grausamen Tod von Melissa und wie sie Minuten vorher noch gescherzt haben.

Eric ist im Krieg angekommen. Patriotismus verspürt er nicht mehr. Er trägt eine Mischung aus Hass, Angst und endloser Leere in sich und muss dennoch versuchen, seine Gedanken wach zu halten. Er muss überleben. Aus seinem zerfetzten Hemd reißt er sich kleine Stoffstreifen heraus um seine schwereren Wunden einigermaßen zu versorgen, Blutungen zu stoppen oder provisorisch zu reinigen.

Er hat weder Wasser, noch etwas zu essen. Das einzige, was Eric jetzt noch hat, ist sein Lebenswille und der Gedanke daran, nach Hause zu kommen. Er lehnt sich an den Felsen und ruht sich aus.

Wo ist er nur gelandet?

Nila

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