Читать книгу Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt - Mark Lambertz - Страница 27
Die Bewältigung von Komplexität erfordert das Zusammenspiel von optimaler Vereinfachung und Weiterentwicklung eigener Optionen!
ОглавлениеWie ist nun bei der Bewältigung von Komplexität vorzugehen? Wir sprechen hier bewusst von der «Bewältigung» der Komplexität und nicht von der Lösung eines komplexen Problems. Eine solche gibt es nämlich aufgrund der angeführten Argumente nicht, es gibt lediglich eine Annäherung an einen Idealzustand. Wegweisend für den Umgang mit Komplexität ist das «Gesetz der erforderlichen Varietät» von Ross ASHBY (1970, 207), wobei die Varietät die Vielfalt möglicher Zustände des Systems misst. Das Gesetz besagt, dass zur Bewältigung der Varietät einer Problemsituation eine mindestens gleich große Varietät durch die reflektierenden Praktiker aufgebaut werden muss. Abbildung 1.6 illustriert diesen Zusammenhang, wobei die Problemsituation bewusst amöboid als schwer fassbar dargestellt wird, während das Rechteck des Managements dessen begrenztes Instrumentarium abbildet.
Abbildung 1.6 Das Gesetz der erforderlichen Varietät (nach ASHBY, 1970) [26]
Um die Varietät ausgeglichen zu gestalten, gibt es zwei Möglichkeiten: Vereinfachung der Entscheidungssituation (Varietätsreduktion) und Stärkung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten (Varietätsgenerierung). Um die volle Wirkung zu entfalten, müssen diese beiden kombiniert werden.
Der Schlüssel zur Vereinfachung der Entscheidungssituation mit dem Ziel der Varietätsreduktion liegt in der Erkennung von Mustern. Die Forschung zur Selbstorganisation und zur Evolution von komplexen Systemen gibt hierzu wichtige Hinweise. Es geht um die Identifikation von Regelmäßigkeiten im Fluss von scheinbar ungeordneten Ereignissen und Prozessen. Systemgrenzen sind nicht vorgegeben, sie können neu gezogen werden, indem bereichsübergreifend in Wirkungsketten gedacht wird. Emergente, spontan entstehende, sich selbst verstärkende Entwicklungen sind stets das Resultat von Rückkoppelungen, die tiefere Einblicke in die Eigendynamik der Entscheidungssituation ermöglichen. «Power Laws» (TALEB 2008) sind empirische Gesetzmäßigkeiten der Skalierung, die oft gegen die Inituition und reduktionistische Erklärungsversuche verstoßen. Schließlich gibt es auch bei komplexen Entwicklungen Konstellationen, sogenannte «pockets of order» (JOHNSON, 2009), die eine Prognose ermöglichen. Diese Zusammenhänge sind auf der linken Seite der Abb. 1.6 festgehalten und werden im weiteren Verlauf des Buches illustriert. [27]
Abbildung 1.7 Komplexitätsbewältigung auf der Basis des Gesetzes der erforderlichen Varietät
Wegleitend für Varietätsreduktion im Unternehmenskontext ist folgende Aussage von Steve Jobs (ISAACSON, 2011): «Einfachheit ist die höchste Form der Raffinesse ... Es erfordert eine Menge harter Arbeit ... etwas Einfaches zu schaffen, die Herausforderungen zu verstehen, die dem Ganzen zugrunde liegen, und eine elegante Lösung zu entwickeln.» Voraussetzung ist ein grundlegendes Verständnis der Spielregeln der Entscheidungssituation. Im Unternehmen geht es dabei um die Geschäftslogik, die Umweltdynamik und die Unternehmenskultur. Die Geschäftslogik beinhaltet die konstituierenden Prinzipien der Unternehmensführung und die speziellen Ausprägungen der jeweiligen Unternehmenskonstellation. Konkret, wer die Grundlogik unternehmerischer Tätigkeit – beispielsweise niedergelegt im Konzept des Shareholder Value (RAPPAPORT, 1998) – und die branchenspezifischen Anforderungen an das Unternehmen nicht versteht, wird nicht in der Lage sein, diesen Mangel durch Maßnahmen der Varietätsgenerierung wettzumachen. Das Gleiche gilt für die Umweltdynamik und die Unternehmenskultur. Wie Clayton CHRISTENSEN (2003) gezeigt hat, sind Unternehmen stets durch disruptive Angriffe der Wettbewerber in ihrer Lebensfähigkeit bedroht. Disruptionen laufen nach bestimmten Mustern ab, die rechtzeitig als Ausdruck der Umweltdynamik erkannt werden müssen. Die Unternehmenskultur schließlich ändert sich je nach Lebensphase des Unternehmens, in der Pionierphase gelten andere Spielregeln als in der Reifephase. Erst wer sich ein klares und einfaches Bild des Zusammenspiels von Geschäftslogik, Umweltdynamik und kulturellem Wandel verschafft, hat die Varietät der Problemsituation so reduziert, dass der Aufbau der eigenen Varietät in Angriff genommen werden kann.
Auf der rechten Seite der Abb. 1.7 sind Ansatzpunkte der Varietätsgenerierung durch das Management festgehalten. Die Forschung zu Komplexität und Selbstorganisation stellt auch hier eine Vielzahl von Hinweisen für die Unternehmensführung bereit. «Tipping Points» sind Ansatzpunkte, bei denen mit relativ kleinen Eingriffen eine große Wirkung erzielt wird (GLADWELL, 2006). Hierarchische Organisationsformen dominieren immer noch unsere Wirtschaft. Aber auch die Natur lehrt uns – wie bereits im Prolog gezeigt –, dass in vielen Fällen eine lose Kopplung gegenüber starren Strukturen viele Vorteile hat. In der digitalen Welt verliert das Modellieren stetig an Bedeutung, an seine Stelle tritt das Experimentieren. Pilotversionen werden im Markt getestet und stetig weiterentwickelt, bis das fertige Produkt stimmig ist. Und schließlich gewinnt der gezielte Einbau von Fehlern zunehmend an Bedeutung, um die Anpassungsfähigkeit (Resilienz) zu testen. [28]