Читать книгу Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt - Mark Lambertz - Страница 28
Gravierende Unfälle sind oft das Resultat der Kombination von hoher Komplexität und starker Kopplung.
ОглавлениеZur Abrundung dieses Denkmusters soll die Anwendung des Gesetzes der erforderlichen Varietät am Beispiel der Vermeidung von Großunfällen illustriert werden. Wie bereits in Abb. 1.2 zu den Gefahren des Internets der Dinge illustriert, sind viele gravierende Unfälle, die meist durch relativ kleine Fehler ausgelöst werden, das Resultat des Zusammenspiels von Komplexität (linke Seite der Gleichung) und Kopplung (rechte Seite der Gleichung). Wenn die Komplexität zunimmt, ergibt sich eine Vielzahl neuer Teile. Sind diese eng miteinander gekoppelt, beispielsweise durch bereichsübergreifende Prozesse, so erfolgt auch bei kleinen Fehlern eine Kettenreaktion, die das Ganze unkontrollierbar macht. Wenn ein Unternehmen komplexer wird, so versucht das Management oft intuitiv, diesem Trend durch Zentralisierung zu begegnen. Dies ist aber genau die falsche Reaktion. Um die Kontrolle zurückzugewinnen, muss bei der Gestaltung solcher Systeme die Komplexität so einfach wie möglich gehalten werden (Varietätsreduktion), und die Kopplung muss lose sein (Varietätsgenerierung).
Die Ausführungen zum ersten Denkmuster der Komplexitätsbewältigung sollen mit einigen Beobachtungen aus einer etwas ungewohnten Sicht abgeschlossen werden. Komplexität ist keine objektive Eigenschaft eines Systems, sondern abhängig von der Perspektive und damit der Systemabgrenzung des Beobachtenden. Führungskräfte können Komplexität aufbauen, sei es durch schieres Unvermögen oder durch bewusste Manipulation. Ersteres hat als Ursache meist mangelnde methodische oder Sachkompetenz. Eine konsequente Umsetzung der Erkenntnisse zum ersten Denkmuster (siehe unten) kann hier weiterhelfen. Etwas anders liegt der Fall bei der Manipulation. CLEARFIELD und TILCSIK (2018, 67) führen als Beispiel das Unternehmen Enron an. Das Unternehmen baute Modelle, um den «wahren» Wert ihrer Vermögenswerte zu ermitteln. Bei Großprojekten trafen sie Annahmen, welche Einkünfte sie über die kommenden Jahre generieren könnten. Diese verbuchten sie als unmittelbare Geldflüsse, ohne solche je erzielt zu haben. Damit manipulierten sie den Aktienkurs und schließlich auch die Boni. Dieses sogenannte «mark-to-market accounting» (den Marktwert ansetzen) erhöhte nicht nur die Komplexität, sondern macht aus Enron ein eng gekoppeltes System – mit den bekannten Konsequenzen des Bankrotts.
CLEARFIELD und TILCSIK (2018) argumentieren weiter, dass Sicherheitssysteme oft die wichtigste Quelle von Systemversagen seien. Diese Systeme weisen meist einen so hohen Komplexitätsgrad auf, dass die Verantwortlichen dadurch völlig absorbiert werden und die einfachen Gefahrensignale ignorieren. Denn jedes komplexe System produziert schwache Signale, wenn es aus dem Ruder zu laufen droht. Wie diese entdeckt werden können, wird in Kapitel 4 gezeigt. [29]
Für das Denken und Handeln der reflektierenden Praktiker bedeuten diese Erkenntnisse Folgendes:
— Unterscheide zwischen komplizierten und komplexen Problemen, und richte dein Vorgehen auf deren spezifische Charakteristika aus!
— Lasse dich nicht von «Big Data» zu einer reduktionistischen Sicht komplexer Probleme verleiten!
— Gehe komplexe Probleme stets im Geiste des «Gesetzes der erforderlichen Varietät» an, die Gleichung von Varietätsreduktion und Varietätsgenerierung muss aufgehen!
— Lerne von der Natur den geschickten Umgang mit Komplexität!
— Vermeide zerstörerische Kettenreaktionen – sorge für lose Koppelung in komplexen Systemen!