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Verfolgt

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Vier Scheinwerfer tauchten den eleganten, stattlichen Mann auf der Bühne in grelles Licht. Er trug einen modischen, anthrazitfarbenen Anzug über einem legeren, weißen Hemd. Der sorgfältig gestutzte schwarze Vollbart nahm den markanten Konturen seines Gesichtes die Härte und unterstrich seine zu hundert Prozent seriöse Aura.

Beängstigend, schoss es Ben Hartzberg durch den Kopf. Er saß im Zuschauerraum und beobachtete den Mann auf der Bühne, seine ruhigen ausladenden Gesten, lauschte seiner sonoren Stimme und fragte sich, ob es wohl überhaupt etwas auf dieser Welt gab, das dieser Mann nicht hätte verkaufen können. Das war kein billiger Betrüger und kein Spinner. Dieser Kerl war ein Vollprofi. Und das machte ihn so gefährlich.

Da! Ben erkannte ein kurzes Zucken am Mundwinkel des Mannes. Nur für den Bruchteil einer Sekunde zeigte er ein abschätziges Lächeln. Triumph und Freude über eine erfolgreich aufgetischte Lügengeschichte ließen sich nie vollständig verbergen. Und der Triumph an diesem Abend hätte für den Mann auf der Bühne größer nicht sein können. Im Zuschauerraum saßen Leute, die schon mit dem festen Vorsatz gekommen waren, ihm zu glauben. Und das taten sie nur allzu gerne. Wie Zombies hingen sie an seinen Lippen, aufnahmebereit mit geöffneten Augen und Mündern. Und der Saal war voll!

Scheiße, das konnte hässlich werden, dachte Ben. Vorsichtig sah er hinüber zu seinem Kumpel Maus, der auf der anderen Seite des Saals ein paar Reihen hinter ihm saß. Sein Blick wurde von einem breiten selbstzufriedenen Lächeln quittiert. Entweder hatte Maus die fanatische Stimmung im Saal noch nicht bemerkt, oder er wollte sie nicht bemerken. Er fläzte respektlos in seinem Klappsessel und verfolgte das Geschehen auf der Bühne mit unverhohlener Verachtung und einer Spur Belustigung. Ben fragte sich, ob er dem eleganten Mann auf der Bühne schon aufgefallen war. Nicht nur wegen seiner legeren Sitzhaltung. Auch sonst war Maus nicht wirklich unauffällig. Ihn als Mix aus Computer-Nerd und Kleinstadt-Rapper zu bezeichnen traf es am besten. Seine viel zu große Jeans hing unter der Basketball-großen Wampe. Dazu trug er ein Bushido-T-Shirt mit Ketchup-Flecken, eine Trainingsjacke und - ausgerechnet heute - eine klischeehaft-große, goldene Kette. Sein Gesicht hätte man für das eines 16-Jährigen halten können, jedenfalls wenn sich Maus gelegentlich rasiert hätte. Nicht einmal die Basecap hatte er abgenommen. Maus lebte das Bild, das er selbst von sich hatte. Hin und wieder war das liebenswert, manchmal aber auch nur peinlich.

„Und ich bitte Sie eindringlich, verehrte Damen und Herren. Nein, ich flehe Sie an: Machen sie nicht den Fehler, den so viele andere Menschen auf diesem Planeten machen. Schließen Sie nicht Ihre Augen! Sehen Sie das Unvermeidbare, das bald geschehen wird! Erkennen Sie den einzig wahren Weg, der sich Ihnen öffnet!“

Markus Zöllner - der elegante Mann auf der Bühne - stellte plötzlich jede Bewegung ein und blickte mit weit geöffneten, durchdringenden Augen in die Menge. Erst als Zöllner sich sicher war, dass er die Aufmerksamkeit aller Zombies im Saal hatte, fuhr er fort.

„Sie werden kommen“, sagte er leise und öffnete dabei betont lässig den Knopf seines Jacketts. „Machen Sie sich bitte nichts vor. Die Zeichen sprechen eine klare Sprache. Sie werden bald kommen. Und dann werden sie wissen wollen, wer auf ihrer Seite steht und wer gegen sie ist.“

Einige Zuschauer nickten eifrig, andere hielten sich angstvoll die Hand vor den Mund.

„Sie werden fragen, wem sie vertrauen können und wem nicht. Denken Sie nicht, dass sie das wissen wollen? Ich an ihrer Stelle würde das wissen wollen.“

Ein paar mehr Zombies nickten. Maus schüttelte grinsend den Kopf. Idiot! Mach nicht alles kaputt. Das hier ist nicht Klingelmännchen. Das hier ist eine Nummer größer. Und gefährlicher.

Zöllner wurde jetzt lauter. Dazu zeigte er mit seinem ausgestreckten Finger wahllos auf seine Zombies.

„Aber was ist mit Ihnen? Stehen Sie auf der Seite der Ankömmlinge? Werden Sie Ihnen helfen? Oder wollen Sie lieber zu denen gehören, die von ihnen vernichtet werden? Wie Würmer im Dreck, die dem Bau einer Schnellstraße im Wege sind?“

Die letzten Worte spie er aus. Auf einer Großleinwand hinter ihm wuchs das Bild eines kohlrabenschwarzen Raumschiffs zu gewaltiger Größe heran. Es wurde unruhig im Stadtteilzentrum. Angst, Unsicherheit, Fragen vermischten sich. Die Zuschauer verlangten nach einer Lösung des Rätsels. Zöllner hatte sie da, wo er sie haben wollte. In den nächsten Minuten würden sie alles tun, was er von ihnen verlangte. Ben wusste, dass es am Ende darauf hinauslief, dass Zöllner ordentlich Geld von ihnen einsacken würde. Es war offensichtlich und es wäre nicht das erste Mal.

Markus Zöllner war ein begnadeter Lügner, ein Demagoge und in direkter Folge ein steinreicher Mann. Seine Geschichte: Eine außerirdische Zivilisation, die der Ochdoi, plante, schon bald auf der Erde zu landen und dort sesshaft zu werden. Die Menschheit wurde dabei - wohlwollend formuliert - als lästiges Geschmeiß empfunden. Trotzdem gab es Hoffnung, nämlich für die Menschen, die die Ochdoi als nützliche Lakaien anerkannten. Und da kam Zöllner ins Spiel. Denn er war einer von ganz wenigen Kontaktpersonen der Außerirdischen auf der Erde - mit dem Auftrag, die Ankunft vorzubereiten und Verbündete unter den Menschen zu finden. Letztere konnten sich auf ein paradiesisches Leben freuen, denn die Ochdoi würden zum Dank schwere Krankheiten ebenso gründlich ausmerzen wie Gewalt, Umweltprobleme, inkompetente Politiker und nervige Chefs.

Diese furchtbar abenteuerliche Geschichte würzte Zöllner mit UFO-Videos, Entführungserlebnissen, Tonaufnahmen von außerirdischen Stimmen und vielen anderen fantasiereichen Details. Natürlich wurde er von den Allermeisten trotzdem für einen Spinner gehalten. Andere aber glaubten ihm. Und es wurden immer mehr. 10.000 sollten es alleine schon in Deutschland sein, ein anderer „Kontaktmann“ in den USA brachte es bereits auf 60.000 bestens vernetzte Ochdoi-Fanatiker.

Maus war vor einem Jahr im Web auf Zöllner gestoßen und hatte seinen Siegeszug seitdem verfolgt. Erst waren es nur ein paar spektakuläre Videos bei YouTube und eine Seite bei Facebook. Dann kamen die ersten Auftritte auf Bühnen und in Talkshows. Schließlich veranstaltete Zöllner Seminare und verkaufte Bücher und DVDs in großen Mengen. Übrigens auch an viele, die sich für schlau und aufgeklärt hielten, aber trotzdem beim Thema „Zöllner“ mitreden wollten.

Markus Zöllner spielte als skrupelloser Hochstapler in der allerersten Liga. Und damit passte er hervorragend ins Beuteschema von Maus, Ben und Viktoria. Jemand musste ihn bloßstellen, musste den Menschen zeigen, was Zöllner wirklich im Schilde führte. Der Zeitpunkt für „Operation Rosswell“ war gekommen.

Ben sah zurück zu Maus. Der amüsierte sich noch immer über Zöllners Riesen-Raumschiff. Herschauen, Idiot! Maus sah ihn an. Sein Lächeln wich schlagartig einem ernsthaften und entschlossenen Gesichtsausdruck. Ben nickte ihm langsam zu. Maus verstand und schickte im Rekordtempo eine SMS los: „R&R“ - die Abkürzung für „Rock 'n Roll“. Das war das Startsignal für Viktoria.

Unglaublich! Es funktionierte von Mal zu Mal besser. Markus Zöllner war zufrieden. Und dabei war ihm völlig egal, ob es an seinem Talent als Redner lag oder daran, dass immer mehr von sich aus bereitwillig diesen Ochdoi-Unsinn schluckten. Dummes Volk! Wohlhabendes Volk! Zöllner hatte keinerlei Skrupel, diese Leute nach Strich und Faden auszunehmen. Er zwang sie ja nicht dazu. Wenn sie zahlten - und sie würden auch an diesem Abend zahlen - dann doch freiwillig. Aus Dummheit, aber freiwillig. Früher hatte er sich immer gefragt, wie so viele Deutsche so naiv sein konnten, auf einen cholerischen Zwerg wie Hitler hereinzufallen - damals vor mehr als 70 Jahren. Und er war sich sicher gewesen, dass so etwas heute in dieser aufgeklärten Zeit nicht mehr passieren konnte. Inzwischen war ihm klar, dass die gleichen Mechanismen immer noch funktionierten und immer funktionieren würden: Unmut, Angst, Zorn und schließlich das Angebot einer einfachen Lösung. Ein passabler Teil der Menschheit war damit zu packen. Er war groß genug, um ihn, Markus Zöllner, zu einem reichen Mann zu machen.

Und damit begann der beste Teil des Abends.

„Wenn das so ist, dann kommen Sie! Treten Sie in den Kreis derer, auf die die Ankömmlinge nicht verzichten können und wollen. Heißen Sie die Ochdoi willkommen! Geben Sie ihnen, was sie wollen! Dann werden sie es Ihnen hundertfach vergelten. Helfen Sie Ihnen! Und helfen Sie mir, damit ich ihnen einen angemessenen Empfang bereiten kann. Sie zählen auf mich.“ Eine kurze Pause. „Und ich zähle auf jeden Einzelnen von Ihnen!“

Tosender Jubel. Zöllner sah, dass ein paar von Ihnen bereits den Geldbeutel gezückt hatten, obwohl er von Spenden noch gar nichts gesagt hatte. Großartig!

Doch dann schlug die Stimmung plötzlich um. Zöllner blickte in ungläubige, verwirrte Gesichter. Die Arme, die ihm eben noch zugejubelt hatten, sackten nach unten. Und mit ihnen die Geldbeutel.

Viktoria hatte sich selbst übertroffen. Ein leichtes Flimmern huschte über die Leinwand hinter Zöllner. Aber niemand schenkte ihm zunächst Beachtung, denn das schwarze UFO, das jetzt zu sehen war, unterschied sich in nichts von dem, das vorher zu sehen gewesen war. Erst als ein breiter gelber Strahl aus der Unterseite des Raumschiffs hervorstach und auf die Erde leuchtete, gab es Anzeichen von Verwirrung unter den jubelnden Zombies. Schlagartig still wurde es schließlich, als im Lichtkegel ein kleines zappelndes Männchen hinabschwebte - mit dem Kopf von Markus Zöllner. Der sonst so charismatische „Kontaktmann“ auf der Bühne erstarrte und sah mit wachsendem Entsetzen in die Menge, die auf einmal so anders zu ihm hinaufsah. Zur Anfangsfanfare von 'Raumschiff Enterprise' wuchs das Zöllner-Männchen auf der Leinwand zu übermenschlicher Größe heran. Erst jetzt erkannte man das freche Grinsen in seinem Gesicht und die dick gefüllten Hosentaschen, aus denen ein paar Euro-Scheine heraus segelten. Kichernd drehte sich das Männchen weg und verschwand von der Bildfläche. Das Raumschiff fing nun an zu torkeln und machte schließlich eine üble Comic-artige Bruchlandung. Ein kleiner grüner Außerirdischer mit Fühlern aus dem Kopf spitzte benommen aus den Trümmern hervor und übergab sich lautstark. Das Lachen von Maus ging glücklicherweise im allgemeinen Gemurmel unter. Ben war zufrieden. Dank Viktorias toller Animationen hatte das Geschehen auf der Leinwand nun die volle Aufmerksamkeit. Sogar Zöllner sah hin - unfähig, aus dem Geschehen irgendwelche sinnvollen Handlungen abzuleiten. Stattdessen fing er an zu schwitzen. Schweißperlen standen auf seiner Halbglatze und rannen in kleinen Bächen an seinem fein gestutzten grauen Bart herunter. Die Flecken unter den Achseln wuchsen zu unästhetischer Größe heran. Dabei hatte die „Operation Rosswell“ ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht. Die Raumschiffstrümmer explodierten. Auf den grellen Blitz folgte ein Foto, das die ganze Leinwand ausfüllte. Zu sehen war Zöllner, der außer einer Sonnenbrille und einer besonders bunten Badehose nichts an hatte. Sein Bauch war sonnenverbrannt, was ihn aber nicht weiter zu stören schien, denn zwei hübsche Bikini-Nixen, die er rechts und links im Arm hatte, lenkten ihn erfolgreich davon ab. Es war ein Urlaubsbild - nichts weiter. Aber es passte hervorragend zum zweiten Bild: Zöllner im offenen Porsche-Cabriolet. Und auch zum dritten: Zöllner im Smoking am Spieltisch eines besonders feinen Kasinos, in dem Champagner wie Wasser getrunken wurde. War das der Mann, der sich aufopferungsvoll um das Heil seiner Anhänger und das Wohl eines außerirdischen Volkes kümmern wollte? Die Zombies im Saal murmelten wild durcheinander. Gleich darauf wurden sie wieder leiser, denn sie hatten gut damit zu tun, die Schlagzeile des Zeitungsausschnitts zu lesen, der nun statt der Bilder zu sehen war: „Dreister Betrug an Essener Gastwirtin“. Darunter in kleinerer Schrift: „18-Jähriger erschwindelt sich mit Lügengeschichte 9000 DM“. Dann der Titel einer Stadtillustrierten, die es schon lange nicht mehr gab: „Von Märchen und Moneten - Wie Markus Z. ans große Geld kam“. Und schließlich: „Münchhausen von Essen verurteilt“. Darunter wieder in etwas kleinerer Schrift: „Sechs Monate Jugendhaft für Markus Z. nach dreistem Betrug“.

Ben kannte die Geschichte: Zöllner hatte eine gutgläubige Wirtin als junger Kerl gehörig geleimt und dabei sowohl Fantasie als auch ein ordentliches Maß an krimineller Energie bewiesen. Er sei auf der Flucht, sowohl vor der Polizei als auch vor seinen beiden Onkels. Die hätten ihn und seine Mutter schwer misshandelt und ihr Geld gestohlen. Anschließend sei es ihnen gelungen, die Sache so darzustellen, als habe er, Zöllner, die Taten begangen. Auch das war schon eine abenteuerliche Geschichte. Zöllner rührte aber mit Geheul und großen Augen das gutmütige und einsame Gemüt der Wirtin. Sie glaubte ihm, verköstigte ihn drei Tage lang und gab ihm schließlich Geld - für einen ordentlichen Anwalt, der die Dinge zurechtrücken sollte. Zöllners Betrug flog auf, weil die Wirtin darauf bestand, selbst mit dem Anwalt zu reden - noch bevor sich Zöllner absetzen konnte.

Aus den Schlagzeilen auf der Leinwand ging die ganze Geschichte zwar nicht hervor, die Zombies erkannten aber den Kern der Sache: Markus Zöllner war ein Betrüger. Oder zumindest wollte ihnen jemand das weismachen.

Das Gemurmel schwoll wieder an, als die Leinwand hinter dem Kontaktmann der Ochdoi schlagartig schwarz wurde. Jemand hatte den Stecker gezogen. Ein paar Zombies versuchten vergeblich, sich mit empörten Zwischenrufen Gehör zu verschaffen. Der Tumult war perfekt und Ben hoffte, dass Maus und er selbst die Szene mit den Knopfkameras am Kragen und am Base-Cap ordentlich eingefangen hatten. Die Youtube-Gemeinde verlangte keine ausgefeilten Video-Clips nach allen Regeln der Kunst. Aber das Material musste erkennbar sein und authentisch wirken.

Vier junge, kräftige Kerle in schwarzen T-Shirts tauchten plötzlich im Zuschauerraum auf und ließen sich von wütenden Zombies zeigen, wo Maus saß. Mist. Er war aufgeflogen. Das war gar nicht gut. Ben winkte ihm vorsichtig zu. Nichts. Maus war so fasziniert von dem Durcheinander, dass er weder ihn noch den näher kommenden Schlägertrupp wahrnahm.

„Das, liebe Freunde, war das Werk blinder, dummer Menschen“. Zöllner zeigte ebenso empört wie energisch auf die dunkle Leinwand. Er hatte sich wieder gefangen. „Sie wollen die Wahrheit nicht sehen. Und mehr noch: Sie wollen sie verhindern, indem sie uns, die Aufrechten, mit Lügen und Schmutz bewerfen.“

Ben kramte sein Handy heraus. Er musste Maus warnen. Sie mussten beide hier raus. Und zwar möglichst sofort.

„Ich frage Sie: Wollen wir das zulassen? Wollen wir den Ochdoi sagen, wenn sie hier sind: Oh, tut uns leid, dass wir nicht für euch da sind. Denn wisst ihr, die anderen wollten leider nicht mitspielen.“

Geschrei. Empörte Rufe. Nur noch ganz wenige Zombies sahen dem Treiben ratlos zu. Ein älterer Mann schüttelte fassungslos den Kopf. Alles hätte doch so einfach sein sollen. Jetzt war es kompliziert. Er wurde grob von den vier Schlägern beiseitegeschoben. Keine 15 Sitze trennten sie noch von Maus. Sein Handy klingelte und vibrierte, aber entweder hörte er es nicht, oder er wollte es nicht hören. Nicht jetzt.

„Ja, das können wir natürlich tun. Wir können ihnen sagen, dass wir verunsichert waren. Dass wir nicht so genau wussten, ob der Dreck, der über ihre Freunde auf der Erde ausgeschüttet wurde, womöglich sogar stimmte. Wissen Sie, was die Ochdoi darauf antworten werden?“

Noch sieben Sitze. Die Schläger drängelten sich an einer dicken Frau vorbei. Mein Gott, Maus. Geh ran, schau her! Verschwinde endlich!

„Sie werden gar nicht antworten. Sie werden uns vernichten. Denn sie brauchen niemanden, der die Wahrheit verdrängt. Sie brauchen niemanden, der nicht bereit für sie ist.“

Zustimmung! Angst. Ein paar der Zombies vergruben ihr Gesicht in den Händen.

Noch drei Sitze.

Ben musste etwas tun. Er sprang auf und schrie: „Will denn niemand diesen schleimigen Lügner von der Bühne werfen! Ich muss gleich kotzen!“

Kein guter Plan. Aber der einzige, der ihm auf die Schnelle eingefallen war. Hunderte Augen sahen ihn an - die meisten voller Hass, Abscheu, Entsetzen. Nur in den Augen der vier Schläger stand finstere Entschlossenheit. Maus war unwichtig geworden. Sie hatten ein neues Ziel.

Und Ben hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Schneller, als er es für möglich gehalten hatte, erreichte er den Ausgang des Saals. Dort stellte sich ihm ein mutiger Ochdoi-Zombie mit Zopf und einem lächerlichen Schnurrbart unter der Nase in den Weg. Ben drückte ihm die Knöchel seiner rechten Hand in den Solarplexus und versetzte ihm mit der flachen, linken einen heftigen Stoß. Der Zombie stöhnte und stürzte. Ohne sich umzusehen, rannte Ben weiter. Er war jetzt in der Eingangshalle des Zentrums. Zu seiner Erleichterung war sie leer. Und die Doppelglastür nach draußen war auch nicht verschlossen. Gut! Ben hörte schweres Keuchen hinter sich, bevor er ins Freie stürzte und in die klare, kühle Abendluft eintauchte.

Die vierspurige Straße vor ihm war leer - erstaunlich, um diese Zeit. Er rannte auf die Fahrbahn. Erst jetzt wurde ihm klar, warum das so problemlos ging. Links von ihm in etwa 50 Metern Entfernung nahm er eine stillstehende Wand aus Autos wahr - alle befüllt mit ungeduldigen Menschen, deren Gedanken sich im Wesentlichen um die baldige Heimkehr nach einem anstrengenden Arbeitstag drehten. Eines der Hindernisse auf ihrem Weg schaltete gerade von Rot auf Gelb um. Motoren heulten auf. Ben rannte noch schneller. Ein schwarzer Peugeot hupte vorsorglich, auch wenn er noch gar nicht in Schlagdistanz war. Ben sprang über den schmalen Mittelstreifen, der von der Fahrbahn durch Bordsteine abgesetzt war. Der Blechlawine entkam er damit gerade so. Was jetzt aber kam, erinnerte ihn vage an ein Computerspiel aus den 80er Jahren, in dem man einen Frosch heil über eine Straße bringen musste. Der Außenspiegel eines Kleinlasters touchierte unsanft seine Schulter - begleitet von einem tiefen empörten Hupton. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in seinem Oberarm aus. Im gleichen Moment schlitterten zwei gebremste Reifen schrill quietschend über den Asphalt. Der Peugeot kam nur Zentimeter vor ihm zum Stehen. Ben ignorierte die wüsten Beschimpfungen des Fahrers und erreichte mit einem letzten großen Schritt den sicheren Gehsteig. „Ja also, geht's noch?“, empörte sich dort eine mit Einkaufstüten beladene Frau.

Erst jetzt nahm sich Ben die Zeit, nach seinen Verfolgern zu sehen. Die gute Nachricht war: Keiner von ihnen hatte sich auf die Straße gewagt. Die schlechte: Die vier Schläger hatten trotzdem nicht vor, ihn ziehen zu lassen. Einer starrte ihn hasserfüllt an, die anderen scannten mit nervös hin- und herwandernden Pupillen nach einer Lücke im steten Fluss der blechernen Feierabend-Heimkehrer.

Ben hatte nicht vor, die nächste Rot-Phase abzuwarten. Er rannte weiter. Nach zwei Blöcken bog er rechts in eine deutlich schmalere Straße, die in erster Linie zum Tiefgarageneingang eines Vier-Sterne-Stadthotels führte. Ben spielte mit dem Gedanken, sich in der Garage zu verstecken. Aber nein. Sollten die vier nicht darauf hereinfallen, saß er dort möglicherweise in der Falle. Und weit und breit war niemand, der ihm gegen die vier überirdisch motivierten Schläger hätte helfen können. Ben hatte es in Karate zwar vor Jahren bis zum grünen Gürtel gebracht. Bisher hatte er aber noch nie Gelegenheit gehabt auszuprobieren, ob er deshalb ähnlich unbesiegbar war wie die Helden im Fernsehen. Wohl eher nicht, sagte ihm der weniger draufgängerische Teil seines Verstandes. Er ließ die Garageneinfahrt links liegen und lief stattdessen weiter geradeaus die Straße entlang. Ohne echtes Ziel und ohne allzu große Hoffnung, Zöllners Schlägern zu entkommen. Denn allmählich ging ihm die Puste aus. Verdammt. Er war keine 25 mehr. Dazu kam, dass sich mit jedem Schritt seine Knöchel-Verletzung am linken Fuß zurückmeldete. Vor acht Jahren hatte Ben auf dem Weg in die U-Bahn eine Treppenstufe übersehen und war derart unglücklich umgeknickt, dass zwei Sehnen gerissen waren. Auch zwei Operationen später war es nicht mehr so wie vorher. Ben hatte immer wieder Schmerzen, sobald er den Fuß über einen Spaziergang hinaus belastete. Andere verletzten sich wenigstens beim Sport, auf schwarzen Pisten oder beim Zweikampf mit dem gegnerischen Stürmer. Ben passierte es beim Herabsteigen einer Treppe. Wie banal! Wie typisch für sein Leben!

Nicht darüber nachdenken, Ben! Er erlaubte sich einen Moment lang, das Tempo zurückzunehmen und über die Schulter zu schauen. Die vier Schläger bogen gerade in die Straße ein - ohne zu zögern und ohne Anzeichen von Erschöpfung. Das waren nicht irgendwelche Jungs aus dem Pool der Ochdoi-Zombies. Die Kerle wussten, was sie taten. Ben fragte sich, ob die vier überhaupt an Zöllners Außerirdischen-Kram glaubten, oder vielleicht auch nur an das Geld, dass er ihnen zahlte.

So oder so: Ben brauchte einen Plan B, wenn er aus der Sache heil herauskommen wollte. Denk nach! Ein bestimmt zweieinhalb Meter hoher Holzzaun trennte eine kleine Parkanlage von der Straße ab. Ben erinnerte sich. Bis vor Kurzem hatten Junkies die Anlage nach Einbruch der Dunkelheit für ihre Flucht aus der Realität genutzt. Mit der Folge, dass in Büschen und im Sand des kleinen Spielplatzes immer mal wieder alte Spritzen gefunden wurden. Die Münchner Ordnungsbehörden ließen die Anlage daraufhin umzäunen und jeden Abend absperren. Auch jetzt war sie verschlossen.

Ben hatte eine Idee. Es war eigentlich mehr ein Szenario, das sich in seinen Adrenalin-durchfluteten Gehirnwindungen manifestierte und diesmal den vernünftigen Teil völlig unterdrückte. Aber für Zweifel war es jetzt ohnehin zu spät. Ben öffnete die Schnalle seines Gürtels und zog ihn aus den Schlaufen. Mit der Linken griff er sich im Vorbeirennen einen gelben, schmutzigen Plastikhocker. Er stand unter der Ladefläche eines Kleinlasters und war dort nach dem Ausladen vergessen worden - oder aber niemand rechnete ernsthaft damit, dass er gestohlen werden könnte. Für Ben war er genau zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Er stellte den Hocker dicht an den Zaun heran und ging in die Knie. Im Augenwinkel sah er die vier Schläger, die sich ihm gefährlich schnell näherten. Von unten zog Ben den Gürtel durch ein in die Trittfläche gestanztes Loch unterhalb des Plastikgriffes - so lange, bis sich die Schnalle dort fest verhakte. Sehr gut! Jetzt sprang Ben auf den Hocker und band sich das andere Ende des Gürtels um den linken Fuß. Er kam nun mühelos mit den Händen an die Oberseite des Zaunes. Ben packte zu und zog sich stöhnend hoch. Spreißel und Kanten schnitten in seine Finger. Trotzdem gelang es ihm, das rechte Bein über den Zaun zu bringen. Keuchen, Schritte, drangen an sein Ohr. Er hatte keine Zeit mehr. Ben kam sich wie ein Stück Wäsche vor, das jemand zum Trocknen über den Zaun geworfen hatte. Alle möglichen Stellen seines Körpers taten ihm weh, aber immerhin lag er stabil. Stabil genug, um das andere Bein mitsamt dem Hocker nach oben zu ziehen. Er packte ihn und warf ihn auf die andere Seite des Zauns. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment griffen kräftige Hände nach ihm. Sie griffen ins Leere, denn Ben kippte bereits dem Hocker hinterher.

Er landete mit viel Glück auf beiden Beinen. Trotzdem war der stechende Schmerz, der dabei durch seinen angeschlagenen Fuß fuhr, betäubend. Zorn wallte in ihm auf. Verdammt! Was sollte das alles? Warum ließen ihn diese Dumpfbacken nicht einfach in Ruhe? Zu gerne hätte Ben die vier nach allen Regeln der Karate-Kunst vermöbelt. Einfach so. Wie die Helden im Fernsehen. Kein guter Gedanke, denn in der Realität nahmen solche Versuche leider kein schönes Ende. Und außerdem: Der Trick mit dem Hocker war doch auch nicht schlecht, wenn er es sich recht überlegte. Immerhin hatte er seine Verfolger abgehängt. Jedenfalls bis auf Weiteres.

Ben klemmte sich den Hocker unter den Arm und humpelte so schnell es ging los, so lange, bis ihm Dickicht und Dämmerung Schutz boten. Auch wenn es die vier über den Zaun schaffen sollten, würden sie Mühe haben, ihn zu finden. Ben schöpfte Hoffnung. Er holte sein Handy aus der Jacke und drückte die Wahltaste.

Maus war nach dem ersten Freizeichen dran. „Mann, Alter. Wo steckst du? Viktoria wollte schon nach Hause, um eine Kerze für dich anzuzünden. Frag besser nicht, wen oder was sie damit beschwören will.“

„Halt die Klappe und hör zu!“, zischte Ben ein wenig zu scharf. Dann sagte er ihm, wo er ihn mit dem Auto abholen sollte.

„Jawohl! Liix hat zugeschlagen!“, jubelte Maus und streckte die rechte Faust in die Höhe. Mit der linken griff er zeitgleich in eine Tüte Currywurst-Chips.

Ben stöhnte und schlug sich die Hand auf die Stirn - und zwar nicht nur, weil ihm der Knöchel noch immer höllisch wehtat. Er saß auf einem speckigen, ausgefransten Sessel in der Zweizimmerwohnung von Maus. Sein Fuß lag auf einem Holzschemel, den Viktoria vorher mit zwei Kühlakkus „gepolstert“ hatte.

„Technisch gesehen war die Operation Rosswell ein voller Erfolg“, kicherte Viktoria. „Wir haben uns nach allen Regeln der Kunst in sein Notebook gehackt, die Mov-Datei ausgetauscht und zum richtigen Zeitpunkt gestartet. Und sogar die Videos, die ihr gedreht habt, sind ziemlich brauchbar.“

„Na also“, quittierte Maus mit vollem Mund. Currywurst-Chips-Brösel kullerten auf den braun-beige-gestreiften Teppich, der vor 30 Jahren einmal modern und damals vermutlich auch noch sauber gewesen war. „Alles hat doch astrein geklappt. Wie im Film, Alter. Liix hat zugeschlagen!“ Wieder reckte er die Faust nach oben.“

„Liix wäre beinahe gründlich vermöbelt worden“, entgegnete Ben mürrisch. „Zumindest der Teil von Liix, der so aussieht wie ich.“ Er wäre gerne laut geworden, fühlte sich dazu aber zu schwach. Und der Schreck saß ihm noch immer in den Knochen. Verdammt! Hätte sich Maus nur einen Ticken unauffälliger benommen, dann wäre es gar nicht so weit gekommen.

„Deine Flucht war aber irre, Ben“, murmelte Viktoria und rückte, ohne von ihrem Notebook aufzusehen, ihre altmodische Hornbrille zurecht. „Sieht gut aus, was du mit deiner Kamera aufgenommen hast. Macht sich bestimmt gut bei YouTube.“

„Viktoria, ich ...“ Ben brach den Satz mit einem Seufzen ab. Es hatte keinen Sinn. Die beiden würden den Ernst der Lage ohnehin nicht verstehen. Für sie war das Leben wie ein ausgedehntes und überaus realistisches Internet-Rollenspiel. Und Ben Hartzberg gehörte zum Team und spielte mit bis zum … Game Over. Und warum das alles? Auf diese Frage konnte sich Ben nicht einmal selbst eine vernünftige Antwort geben. Und falls es ihm doch eines Tages gelingen sollte, würde sie ihm sicher nicht gefallen.

Ben hatte die beiden vor zwei Jahren auf einer Games Convention in Freimann, im Münchner Norden, kennengelernt. Damals hatte er für 15 Cent pro Zeile Berichte aus den Stadtteilen für ein Anzeigenblatt geschrieben. Der Job war einer von vielen gescheiterten Versuchen, seiner verkorksten Existenz einen Sinn zu geben. Er führte natürlich zu nichts - außer zu Maus und Viktoria, die ihm an diesem Abend zugehört hatten. Geduldig, beinahe interessiert hatten sie sich von ihm die Geschichte seines absurden Absturzes aus der Welt der Besseren und Wichtigeren erzählen lassen und darüber gelacht. Sie hatten nicht etwa Verständnis geheuchelt, keine guten Tipps heraus gekramt. Sie hatten sich auch nicht betreten abgewandt. Maus und Viktoria hatten einfach nur gelacht. Ben war das damals reichlich seltsam vorgekommen. Erst hatte er sich geärgert, dann aber mitgelacht. Und es hatte ihm verdammt gut getan. Bis dahin war er im Selbstmitleid beinahe ersoffen. Jetzt konnte er seine Existenz endlich einmal als das sehen, was sie tatsächlich war: ein Witz.

An diesem Abend war Liix gegründet worden, eine Gruppe von Web-Aktivisten, die sich der Wahrheit verschrieben hatten und der Jagd auf all die, die aus der Unwahrheit Profit schlagen wollten. Der Name war die wenig originelle Abwandlung des englischen 'leaks'. Die große Ähnlichkeit zu 'Wikileaks' nahmen die drei dabei billigend in Kauf. Ihr größter Erfolg bisher war, einen selbstgerechten Stadtrat zum Rücktritt gezwungen zu haben. Der Mann war nicht müde geworden, soziale Ungerechtigkeiten zu finden und anzuprangern, wo nicht immer welche waren. Außerdem warf er der Münchner Geschäftswelt pauschal illegale Geschäftspraktiken vor. Maus tat sich ein bisschen in der Blogger-Szene um und fand heraus, dass er sich damit tatsächlich auskannte: Der Stadtrat hatte eine Vergangenheit als Schutzgeldeintreiber, wovon es sogar ein Video gab. Liix hatte zugeschlagen. Liix, die Gruppe, die allerdings auch nach zwei Jahren immer noch aus genau drei Aktivisten bestand.

„Keiner wird das Video sehen wollen. Zöllner hat zu schnell und zu gut reagiert. Und die Leute im Saal kaufen ihm sowieso alles ab, was er sagt.“ Ben versuchte noch einmal, die Euphorie der beiden in vernünftige Bahnen zu lenken.

Maus, der in seiner lange zurückliegenden bürgerlichen Existenz einmal auf den Namen Sven Werrn gehört hatte, erhob sich schwerfällig und ließ dabei die leere Chipstüte zu Boden gleiten. Mit einer für seine Verhältnisse schnellen Bewegung nahm er Viktoria das Notebook ab und hielt es Ben vor die Nase. Auf dem Display war Zöllner zu sehen - und zwar in dem Moment, in dem hinter ihm das Raumschiff explodierte. Er zuckte heftig zusammen. Sein Blick zeigte Hilflosigkeit, Verwirrung und Entsetzten. Fast hätte er einem leidtun können.

„Alter. Warum, glaubst du, hab ich darin den Clown gegeben? Der Kerl hat mir direkt in die Kamera gesehen. Besser geht es nicht!“, sagte Maus und betonte den letzten Satz überdeutlich. „Scheißegal, was danach passiert ist. Das hier reicht völlig. Der schwitzt vor Angst. Er hat Panik. Das ist keiner, dem man sein Geld geben will. Das ist ein supergeiles Video - egal, was du sagst. Mach dich mal wieder locker, Mann! Liix hat zugeschlagen!“

Ben rieb sich die Augen. Er musste sich eingestehen, dass Maus nicht so ganz daneben lag. Vielleicht war die Aktion ja doch nicht umsonst gewesen. Vielleicht war aus den Videos doch etwas ganz Brauchbares zu machen. Ben wusste, dass Viktoria das hinbekommen würde. Wenn nicht sie, wer sonst?

Viktoria war der kreative Teil von Liix und außerdem die Freundin von Maus.

Ben fand das bemerkenswert, denn optisch passte sie überhaupt nicht zu ihm. Viktoria war recht klein, hatte aber eine sportliche Figur und ein überaus hübsches Gesicht. Würde sie nicht diese hässliche Brille tragen und ihre blonden Haare mit bunten Klammern zu einem undefinierbaren Etwas drapieren, sie wäre ein Hingucker auf jeder Party. Allerdings wusste Ben, dass sich Viktoria nichts aus Partys machte und in ihrem Leben wohl auch noch nicht auf allzu viele eingeladen worden war. Nicht deshalb, weil sie meistens in sich gekehrt vor sich hin schwieg. Es waren wohl eher die Momente, in denen sie gerade nicht schwieg. Viktoria war berüchtigt für unpassende Kommentare und entlarvende, spitzfindige Bemerkungen, die sie gerne ohne jegliche Vorwarnung abfeuerte. Wen es traf, war ihr dabei völlig egal. Aber sie saßen immer. Ben hatte das oft genug am eigenen Leib erfahren. Und er kannte die Geschichten, die ihm Maus über sie erzählt hatte.

„Aber ich hatte doch recht!“, protestierte sie gerne leise, wenn ihr Maus einmal mehr einen versauten Abend zum Vorwurf machte, sie danach aber gleich wieder tröstend in den Arm nahm. Viktoria war merkwürdig, wie eigentlich alle bei Liix. Und sie hatte ein paar außergewöhnliche Fähigkeiten. Kaum jemand konnte so verdammt gut mit Videos und Computern umgehen wie sie.

Es war Zeit, sie arbeiten zu lassen.

„Du kriegst das schon hin, Viktoria“, sagte Ben und wuchtete sich stöhnend aus dem Sessel. Der Heimweg würde anstrengend werden.

Maus hielt ihm seine fettige Pranke hin.

„Alter, mach Dich locker, okay? Wir waren heute klasse! Ich schwör's.“

Ben schlug ein.

Der Heimweg war anstrengend - und schmerzhaft. Sein Knöchel war inzwischen so sehr angeschwollen, dass Ben die Schnürsenkel öffnen musste. Maus hatte ihn mit seinem altersschwachen Honda die dreihundert Meter zwischen dem grauen Beton-Block, in dem er wohnte, bis zur S-Bahn-Station gefahren.

„Kein Problem. Ich schaff das“, hatte Ben ihm zum Abschied nachgerufen, ohne selbst wirklich daran zu glauben. Mit verzerrtem Gesicht schleppte er sich die Treppe hinunter, durchlief im Schneckentempo die nach Urin stinkende Straßenunterquerung. Mehrmals stützte er sich widerwillig gegen das ergraute alte Graffiti, das die Wände überzog. Ein abgerissener alter Mann kam ihm entgegen, sah ihn mit alkoholverhangenem Blick an und kratzte sich mitleidig den Bart. Dann beschloss er aber, sich um seine eigenen Sorgen zu kümmern und ging ohne ein Wort vorbei. Ben war dankbar dafür. Er wollte nur noch nach Hause.

Als sich Ben endlich auf den glatten Kunststoff des Sitzes der S1 in Richtung Hauptbahnhof fallen lassen konnte, stand ihm Schweiß auf der Stirn. Einen Moment lang war er versucht, seinen angeschlagenen Fuß auf das Polster gegenüber zu legen, entschied sich aber dagegen. Er durfte es sich nicht zu bequem machen. Er musste noch einmal umsteigen und an die anderthalb Kilometer, die zwischen dem Bahnhof in Gauting und dem Campingplatz lagen, wollte er gar nicht erst denken.

Erfolgreich kämpfte er einen Anflug von Selbstmitleid herunter. Diese Phase hatte er hinter sich gelassen. Es führte zu nichts. Ebenso wenig, wie seine dunklen Gedanken mit Alkohol zu betäuben. Ben hatte das versucht. Es hatte funktioniert - einen Abend lang. Aber am nächsten Tag hatte der Trübsinn sein Bewusstsein wieder zurückerobert. Und zur Verstärkung hatte er heftige Kopfschmerzen mitgebracht. So sehr sich Ben einen Fluchtweg herbeisehnte: Das war er jedenfalls nicht.

Stattdessen versuchte er es mit der von Maus verfeinerten Blues-Methode. Vereinfacht gesagt ging es dabei darum, das eigene Elend anzunehmen, sich aber nichts daraus zu machen. Maus hatte herausgefunden, dass in den klassischen Blues-Songs überdurchschnittlich oft die Zeile „my baby, she left me ...“ vorkommt - in dieser oder ähnlicher Fassung. Der Umstand, verlassen worden zu sein, hielt die Blues-Sänger aber trotzdem nie davon ab, ihre Songs mit ordentlich Power und einem gewissen Frohsinn vorzutragen. Eine Haltung, die sich auf das ganze Leben übertragen ließe, meinte Maus.

„Du hast mir mal erzählt, dass du Blues zum Kotzen findest“, hatte Viktoria unvermittelt eingewandt, was Maus aber nur mit einem Achselzucken quittiert hatte. Ben gefiel die Idee trotzdem. Und manchmal funktionierte sie sogar.

Der Kerl am anderen Ende des Waggons erregte Bens Aufmerksamkeit. Nicht etwa, weil er sich auffallend benahm oder so aussah. Im Gegenteil: Er trug einen schmucklosen grauen Anzug und dazu ein Hemd ohne Krawatte. Seine Haut war fahl und die dünnen Haare ergraut. Ob man ihn in Farbe oder Schwarzweiß fotografiert hätte, es hätte im Ergebnis keinen Unterschied gemacht. Er las Zeitung. Zwei zusammengekniffene Augen blickten über eine große Hakennase hinweg auf das, was in dem Blatt geschrieben stand. Der Mann war geradezu auffallend unauffällig. Und noch etwas irritierte Ben. Vielleicht irrte er sich ja. Aber hatte der Mann, seit sie in Neuperlach zusammen eingestiegen waren, auch nur ein einziges Mal umgeblättert?

Ben redete sich ein, dass er Gespenster sah. Was beschäftigte er sich mit einem zeitungslesenden Mann? Er hatte andere Sorgen. Er musste umsteigen. Aus dem Pochen wurde ein scharfes Stechen, als er auftrat. Ben stöhnte leise auf und hangelte sich an den Lehnen und der Haltestange bis zu Ausgang. Kurz bevor sich die Tür wieder schloss, stolperte er auf den Bahnsteig. Blitze zuckten vor seinen Augen. Ben versuchte sie wegzublinzeln, aber es gelang ihm nicht.

„Alles in Ordnung?“ Der Polizist sah ihn misstrauisch an. Seine Daumen steckten in dem Gürtel, an dem auch seine Automatik hing. Er trug ein grünes Barett, das er martialisch bis über sein rechtes Ohr gezogen hatte. Er musste seinen Job lieben.

„Alles okay“, presste Ben hervor. „Ich habe Schmerzen. Eine Verletzung am Fuß. Ist aber nicht so schlimm.“

Der Polizist nickte langsam, ließ aber darüber hinaus offen, ob er Ben glaubte oder nicht.

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte er pflichtbewusst, trollte sich dann aber zum Glück wieder, nachdem Ben den Kopf geschüttelt hatte. Ben wollte keine Hilfe. Besonders nicht von einem Polizisten, der womöglich auf die Idee kommen könnte, Fragen zu stellen. Immerhin hatte Liix eine genehmigte Veranstaltung gestört und dabei heimlich Videos aufgenommen. Der Polizist hatte von all dem sicher keine Ahnung, trotzdem hatte Ben keine Lust darauf, mit ihm mehr Worte zu wechseln als unbedingt notwendig.

Den Rest des Wegs legte er überwiegend auf einem Bein zurück. Ben konnte kaum mehr auftreten. Wann immer es ging, stützte er sich ab und nahm die Hände zu Hilfe. Aber es war mühsam und dauerte lange.

Zum Glück kam sein Anschlusszug schnell. Der pochende Schmerz hatte sich im ganzen Bein ausgebreitet, als Ben sich ein weiteres Mal in den S-Bahn-Sitz fallen ließ. Er schloss die Augen und atmete durch. Er würde spät nach Hause kommen. So viel war sicher. Als er die Augen wieder öffnete, war da wieder der schwarzweiße Mann mit der Zeitung. Als hätte er sich, so wie er da saß, aus dem anderen Zug hierher gebeamt. Diesmal war es die andere Abteilseite. Aber er saß wieder genau so da, dass er freien Blick in den Waggon und damit auch auf ihn hatte. Und er blätterte wieder nicht um.

Ben dachte an Zöllner. Hatte er ihn etwa aufgespürt? Aber wie? Sie hatten keine Spuren hinterlassen. Und seine Verfolger hatte er im Park abgehängt. Ben überlegte, ob er den Mann ansprechen sollte. Aber was, wenn er doch nur rein zufällig denselben Weg hatte? Ja, so war es vermutlich. Ben entspannte sich und versuchte sich einen dicken schwitzenden Blues-Sänger in einer rauchigen düsteren Kneipe in New Orleans vorzustellen.

Der schwarzweiße Mann ließ die Zeitung sinken. Die unvermittelte Bewegung ließ Ben zu ihm hinsehen, und ihre Augen trafen sich für die Dauer eines Herzschlags. Zu schnell sah der Mann wieder weg und starrte unsicher auf sein Handy, das er aus der Seitentasche seines Anzugs gekramt hatte. Mit dem Finger aktivierte er auf seinem Bildschirm eine gespeicherte Nummer und hielt sich das Gerät ans Ohr, wobei er zu offensichtlich darauf bedacht war, nicht mehr in Bens Richtung zu blicken. Ihm fiel nichts Besseres ein, als auf das dunkle Schwarz seines Seitenfensters zu schauen, in dem sich der Innenraum und natürlich auch Ben spiegelten. Erschrocken wanderten seine Augen zur Decke und blieben auf der Werbung für eine Zeitarbeitsfirma haften. Dilettant! Wenn alle von Zöllners Zombies so vorgingen, konnte eigentlich nicht viel passieren, dachte Ben. Oder doch! Ben korrigierte sich. Der Mann telefonierte schließlich nicht zum Spaß. Er sagte jemandem Bescheid. Ben konnte die geflüsterten Worte nicht verstehen, aber er war sich sicher, dass nun jemand wusste, dass er, Ben, kurz davor war, am Gautinger Bahnhof aus dem Zug zu steigen. Oder bildetet er sich das doch alles nur ein? Ben beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Er war schwach und fußlahm. Noch eine Verfolgungsjagd würde er ohnehin nicht schaffen.

Heiße, messerscharfe Nadeln stachen in seinen Knöchel, als er auftrat, um den Waggon zu verlassen. Bens Schläfe pochte und er begann zu schwitzen. Mühsam arbeitet er sich zu einer Bank auf dem Bahnsteig vor und ließ sich darauf niedersinken. Er schloss einen Moment die Augen und gestattete den Schmerzen wieder ein, zwei Gänge zurückzuschalten. Verdammt. Das wird ein langer Weg, schoss es ihm durch den Kopf. Der Campingplatz, auf dem er gerade lebte, lag am Ortsrand. Bis dahin waren es mehr als zwei Kilometer. Ben lief die Strecke normalerweise gerne. Aber nicht jetzt! Nicht so!

Der fast leere Zug setzte sich wieder in Bewegung und nur wenige Sekunden später verschwand das Rauschen und Kratzen der metallenen Räder auf den Gleisen gemeinsam mit der fahlen Zugbeleuchtung im Dunkeln.

Es war still. Ein sanfter Luftzug kühlte Bens Stirn und er fragte sich, ob es vielleicht eine gute Idee war, die Nacht auf der Bank zu verbringen. Er sah sich um. Außer ihm war nur ein älteres Ehepaar ausgestiegen und schweigsam und eilig hinter der Ecke des beigen Bahnhofgebäudes verschwunden. Von dem schwarz-weißen Mann war nichts zu sehen - und auch nicht von den Schlägern, die Ben vor wenigen Stunden durch halb München gejagt hatten. Er atmete durch.

„Du siehst scheiße aus, mein Junge.“

Ben erschrak und fiel dabei fast von der Bank. Vergeblich scannte er den leeren Bahnsteig nach der Quelle der Stimme.

„Hinter dir, Benedikt. Und ich hab nicht vor, dir etwas zu tun.“

Der füllige Schatten eines Mannes im dunklen Mantel zeichnete sich dürftig von der Wand des Bahnhofs ab - genau da, wo es weder das Licht des Mondes noch das der beiden bescheidenen Bahnsteiglampen hinschaffte. Ben kannte die Stimme. Es war die seines Vaters. Aber das war unmöglich. Sein Vater war tot.

Lichtsturm

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