Читать книгу Lichtsturm - Mark Lanvall - Страница 5
Die Zuflucht
ОглавлениеKellen fühlte sich sehr merkwürdig. Eigentlich war er sich sicher, tot zu sein. Aber hatten Tote Schmerzen? Kellen hatte Schmerzen. Sie waren bei weitem nicht mehr so stark wie in dem Moment, in dem ihn das Schwert durchbohrt hatte. Aber es tat noch immer weh. Und es war dunkel. Kellen wusste nicht, ob er den wenigen Bildern trauen konnte, die er sah, wenn er es doch hin und wieder schaffte, die Augen zu öffnen. Er sah Fürst Morcant mit wehendem Haar, lächelnd. Die Wolken zogen vorbei mit atemberaubender Geschwindigkeit. Er hörte Domhnalls Husten. Und da war auch wieder die Göttin mit den hellblauen Augen.
„Livan has nerviyen.“ Was diese wunderschönen Worte wohl bedeuteten?
Und wieder Dunkelheit. Ein kühler Wind strich über sein Gesicht - wie bei einem wilden Ritt. Ihm war schwindelig. Und übel. Was geschah mit ihm? Die gezackten weißen Spitzen der Großen Berge zogen an ihm vorbei. Sie waren unter ihm, stachen nach ihm. Unmöglich! Kellen fiel in eine tiefe Ohnmacht.
Als er wieder aufwachte, erschrak er. Aus dem Dunkel war ein fast vollkommenes Weiß geworden - weiß wie frisch gefallener Schnee. Aber wenigstens sah er etwas. Es hatte eine Form. Es war echt. Da war eine Ecke. Kellens Blick folgte einer der Linien bis zu einer runden, großen Vertiefung in der Wand. Ein Erker. Darin befand sich ein nach oben spitz zulaufendes Fenster, eingelassen in das vollkommene, glatte Weiß der Wand.
Kellen setzte sich auf. Er fühlte sich schwach und sein Rücken und seine Brust schmerzten. Aber mehr so, als hätte er sich irgendwo schwer gestoßen. Nicht, als hätte ihm jemand ein Schwert durch den Körper gerammt. Wieder fragte er sich, ob er tot war.
Er lag in einem Bett auf einem weichen Lager, das ebenso weiß war wie die Wände seines Zimmers. Fast kam es ihm vor, als schwebe er inmitten einer warmen Wolke. Kissen und Decke seines Lagers waren dick und flauschig. Feine, fremdartige, kunstvolle Stickereien verzierten den edlen Stoff. So bequem hatte er noch nie geruht. Wo bei Taranis war er? In einem Fürstenhaus? Im Reich der Götter?
Neben seinem Bett stand ein silbernes Tischchen. Dessen Füße sahen aus wie die zarten Beine eines Rehs - nur gewundener waren sie. Darauf standen ein schlichter Wasserkrug und ein Becher. Kellen hatte entsetzlichen Durst. Zweimal schenkte er sich ein und leerte den Becher jeweils in einem Zug. Hatten Tote Durst?
Kellen schlug die Decke zurück. Er trug ein dunkelgrünes, weites Gewand aus einem feinen Stoff. Es reichte ihm bis zu den Waden. Wo waren seine Kleider? Und sein Schwert? Kellen kam sich schutzlos vor. Er stöhnte laut. Es kostete den Häuptling alle Kraft, aufzustehen. Gebückt torkelte er die paar Schritte quer durch den Raum zur Tür. Sie ähnelte dem seltsam geformten Fenster. Die beiden Seiten neigten sich ab Schulterhöhe aufeinander zu, trafen sich und bildeten so eine Spitze, die nur knapp unter der Decke endete. Der neugierige Teil seines Verstandes fragte sich, welchen Sinn eine derartige Konstruktion haben sollte. Vielleicht trugen die Bewohner dieses Hauses hohe spitze Hüte, die sie nicht absetzen wollten, um durch die Tür hindurchzupassen. Aber das war ein alberner Gedanke. Denn die Tür sah wohl nur aus einem einzigen Grund so aus: Sie sollte gefallen, sie sollte schön aussehen. Auf ihre Weise tat sie das, fand Kellen, auch wenn ihm die Vorstellung, allein aus diesem Grund etwas zu gestalten, fremd war.
Ihm wurde wieder schwindelig und er fröstelte. Der Boden unter seinen nackten Füßen war eiskalt. Keine gute Idee, die Tür zu öffnen und hinauszugehen. Er würde in diesem Zustand nicht weit kommen. Aber bis zum Fenster sollte er es schaffen. Kellen hangelte sich am Bett entlang und erreichte stöhnend das Fenstersims. Sein „Ausflug“ hatte seine letzten Kraftreserven nahezu aufgezehrt, und der Druck in seiner Brust nahm zu. Er kniff die Augen zusammen und blickte hinaus in eine grelle, aber gewaltige Bergwelt. Scharfkantige Gipfel stachen in den Himmel. Bäume, Felsen und breite Schneefelder verbanden sich zu bizarren Formen. Kellen glaubte, die Umrisse eines Pferdes zu erkennen. Und da: Dort war eindeutig das Gesicht eines Kindes.
Kellen rieb sich die Augen. Was tat er da? Er befand sich in einem fremden Zimmer mitten in den Großen Bergen. Und das, was er sah, waren verrückte Fantasiebilder. Aber wie schön sie waren! Vielleicht drängten sie ja deshalb so sehr in sein Bewusstsein, weil der Anblick der Berge sonst zu gewaltig und zu überwältigend war. Kellen hatte immer davon geträumt, diese Riesen einmal aus der Nähe zu sehen. Und nun übertraf es all seine Erwartungen. Er kam sich klein und verletzlich vor angesichts dieser Mächtigkeit und Erhabenheit. So etwas konnten wahrhaftig nur die Götter geschaffen haben.
Aber wo genau war er? Und wer hatte ihm das Leben gerettet und ihn hierher gebracht? Warum war er in diesem Zimmer, in dem sich jeder Fürst mehr als wohl gefühlt hätte?
Erst jetzt wanderte Kellens Blick hinab von den Bergen auf einen großen, mit hellen Steinen gepflasterten Platz. Sein Zimmer musste weit über dem Boden liegen. So hoch, dass Kellen einen Sprung aus dem Fenster nicht überleben würde. Der Platz erstreckte sich über eine Fläche, die bestimmt 100 Pferdelängen durchmaß. Auf der anderen Seite stand ein riesiges Gebäude, das so groß war, dass Kellen das rechte und linke Ende von hier aus nicht erkennen konnte. Und es war unglaublich hoch. Kellen zählte acht Stockwerke. In jedem reihten sich unzählige bienenwabenförmige Erker aneinander, die aus einer schneeweißen, glatten Wand herausragten. Aus einem der vielen Fenster sah eine Gestalt mit langen blonden Haaren hinaus. Kellen vermutete, dass es eine junge Frau war. Genau konnte er das aus der Entfernung aber nicht erkennen.
Offenbar befand sich sein Zimmer sehr weit oben in einem ähnlich großen Gebäude - oder sogar in dem gleichen. Der Häuptling nahm an, dass es den ganzen oder zumindest einen Großteil des Platzes umgab. So etwas Gewaltiges konnte nicht das Werk von Menschen sein!
Überwältigt und verwirrt stieß er sich vom Fenstersims ab, taumelte zurück zu seinem Bett und ließ sich auf das weiche Lager fallen. Er zog die Decke hoch bis zum Kinn. Kellen zitterte vor Kälte und Erschöpfung. Nur allmählich breitet sich die Bettwärme in seinen Gliedern aus und das Zittern ließ nach. Der Häuptling atmete tief ein und gestattete seinem Körper, sich zu entspannen.
In seinem Kopf allerdings wüteten die Gedanken wie ein wilder Sturm. Wie starke Böen zerrten die Fragen an ihm, forderten energisch von ihm, die Antworten zu finden. Sein Verstand aber mahnte ihn zur Geduld. Er war zu schwach noch einmal aufzustehen. Und sein Gefühl sagte ihm, dass er in Sicherheit war. Kellen schlief ein.
Ob er schon wach war? Larinil versuchte sich vorzustellen, wie es für einen Menschen sein musste, in diesem Zimmer, in dieser Burg wach zu werden. War es beängstigend? War es wie ein schöner Traum, aus dem er nicht erwachen wollte? War ihm kalt? Sie wusste, dass Menschen sehr leicht froren und dass sie sich nicht anders vor der Kälte schützen konnten als durch Decken oder dicke Kleider - meist gefertigt aus den Fellen von Tieren. In ihren Hütten zündeten sie stinkende Feuer an, deren Rauch nur durch die Ritze in den schlecht gebauten Decken abziehen konnte.
Die Kaijadan-Meisterin seufzte. Wie verletzlich diese Geschöpfe waren.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und späte hinein. Er schlief noch immer. Aber nein. Er musste zwischendurch wach gewesen sein. Larinil sah, dass der Becher benutzt worden war. Gut, dann hatte er also schon Gelegenheit gehabt, seine neue Umgebung kennenzulernen.
Larinil zog einen kleinen Schemel aus der Ecke des Zimmers an Kellens Bett heran und nahm darauf Platz. Dann schlug sie die Decke ein Stück zurück und legte beide Hände auf seine Brust. Sie schloss die Augen. Nein, er war noch nicht so weit. So zerstörerisch war das feindliche Schwert gewesen. Zwei Rippen und ein Teil der Lunge waren getroffen. Der Mensch hatte Glück, überhaupt noch da zu sein. Ohne ihre Kraft wäre er vergangen.
„Iniai jal'Nerviy, hunuma ni Larei“, flüsterte sie. „Licht des Lebens. Entfessle deine Kraft!“
Dicke unsichtbare Zungen drangen von Larinils Handflächen aus in Kellens Körper, breiteten sich aus, entfernten, was nicht da sein sollte, und heilten, was noch immer verwundet war. Ihr Werk war nahezu getan. Nun sollte der Mensch von alleine wieder zu Kräften kommen.
Kellen fuhr hoch - schwitzend, mit geweiteten Augen. Auch die Göttin erschrak und zog ihre Hände zurück. Hatte sie ihn berührt? Was war geschehen? Er sah ihr in die Augen. Wie zwei kostbare Edelsteine funkelten sie aus einem ebenmäßigen, zarten Gesicht: Hellblau, glasklar, wunderschön. Kellen konnte einen Moment lang nichts weiter tun, als sie anzusehen: Eine Göttin, kein Zweifel, von übermenschlicher Schönheit. Ihre braunen Haare fielen wie die Bahnen eines besonders leichten Stoffes auf ihre Schultern hinab. Aber da war noch etwas: Die Göttin hatte lange, elegant geformte Ohren, deren Spitzen zwischen den Haaren hervorstachen.
„Bei den Göttern!“, entfuhr es ihm.
Die Göttin lächelte und zog dabei amüsiert die Augenbrauen hoch. Dann legte sie den Kopf auf die Seite und sah ihn prüfend an.
Kellen wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte es überhaupt einen Sinn, etwas zu sagen? Würde sie ihn verstehen? Er erinnerte sich an die wohlklingenden Worte, die er gehört hatte, nachdem ihm ein Schwert durch den Leib gerammt worden war. Er hatte diese fremde Sprache nie gehört. Dennoch stellte er die Frage, die ihn beschäftigte, seit er hier war. „Wo bin ich?“
„In einer Burg in den Bergen, die wir Galandwyn nennen, die Zuflucht. Du bist hier sicher.“
Ihre Stimme war weich und ruhig. Sie sprach seine Sprache so gut, als wäre es ihre eigene. Allerdings klangen einige Laute bei weitem nicht so hart wie bei ihm und bei anderen seines Volkes.
„Fühlst du dich besser?“
Kellen nickte. Es ging ihm tatsächlich viel besser. Der Druck in seiner Brust war verschwunden, ebenso wie der Schwindel. Kellen fühlte sich gesund und ausgeruht. Dabei hätte er tot sein müssen.
Wieder starrte er in das wunderschöne Gesicht der Göttin. Der Häuptling konnte nicht anders. Ihre Haut war hell, rein und glatt. Kein Bildhauer könnte so etwas Vollkommenes schaffen. Sie sah jung aus. Aber sie strahlte die Weisheit und Selbstsicherheit einer Königin aus. Oder die einer Göttin.
Kellen war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Die einfachen Leute fielen manchmal vor den Fürsten auf die Knie, um zu zeigen, dass sie ihre Macht anerkannten. Aber das hatte er nie getan und es kam ihm auch jetzt falsch vor. Ebenso falsch allerdings, wie die Göttin unentwegt wortlos anzustarren.
„Du redest nicht viel, Häuptling Kellen.“ Die Göttin lächelte wieder. Es war ein ermutigendes Lächeln, wenn auch ein wenig spöttisch. „Ich vermute, es liegt daran, dass du die vielen Fragen in deinem Kopf zuerst in die richtige Reihenfolge bringen willst. Das ist klug. Der Weise reist mit seinem Boot auf den Wogen eines Baches, der Dumme nimmt den Wasserfall.“
Kellen sah sie überrascht an. So also redeten die Götter? Er fragte sich, ob das die Druiden wussten, die in oft wirren Worten über den Willen der Götter faselten. Kellen vermutete, dass sie absichtlich so wirr sprachen, um deutlich zu machen, dass nur sie allein es waren, die den Willen der Götter deuten konnten. Das war eine Frage von Macht.
Kellen räusperte sich. „Verzeiht mir!“, sagte er mit einer leichten Verbeugung. „Aber ich bin verwirrt. Es ist so vieles passiert. Und ich bin mir nicht sicher, was davon echt ist und was nicht.“
Die Göttin setzte sich wieder. Ihre Bewegungen waren fließend wie die einer Tänzerin und auch wenn es nur ein einfacher Hocker war: Sie saß darauf so stolz und aufrecht wie auf einem Thron. Sie trug ein seltsames Gewand aus einem leichten, grünen Stoff. Von Schultern und Taille fiel er in großen Fransen hinab, die in leicht variierenden Grüntönen gefärbt waren. Aus der Nähe betrachtet sah dieses Kleid nach einem hoffnungslosen Durcheinander aus, als Ganzes verlieh es der Göttin die Aura eleganter Verwegenheit. Ein silberner Gürtel, an dem ein reich verzierter Dolch hing, tat das Seine dazu. Im Kontrast dazu war die Göttin - trotz der Kälte - barfuß.
Kellen kam die Göttin dennoch nicht unnahbar vor. Der Häuptling glaubte, sogar etwas Neugier in ihren fremdartigen Augen entdeckt zu haben.
„Ich bin echt, wenn das eine deiner Fragen ist“, sagte sie. „Mein Name ist Larinil vom Volk der Elvan jal'Iniai. Manchen nennen uns 'Lichtwesen'. Und: Ja, du bist am Leben. Ein Schwert hat dich durchbohrt. Mit den Kräften des Lichts und mit viel Glück ist es mir gelungen, dich zu heilen. Darüber bin ich froh.“
„Ich auch“, lachte Kellen. Einen Moment später war er sich nicht sicher, ob diese Reaktion nicht ein wenig zu respektlos war. „Ich danke Euch, dass Ihr mir das Leben gerettet habt“, fügte er schnell und ernst hinzu und deutet wieder eine Verbeugung an.
Larinil nickte. „Das ist sehr höflich von dir, Häuptling Kellen. Aber nicht angemessen. Meine Aufgabe war es, den Fürsten und dich lebend hierher zu bringen. Das hätte ich fast nicht geschafft. Anders gesagt: Das Schwert hätte dich nie treffen dürfen. Am Ende haben wir also beide Glück gehabt.“
Kellen sah sie fragend an. Larinil sprach von Glück, von einer Aufgabe, von den Kräften des Lichts. Übermenschlich war sie. Ein „Lichtwesen“ nannte sie sich selbst. Aber war sie auch eine Göttin? Kellen hatte den Namen Larinil noch nie gehört.
„Dann war es also kein Zufall, dass ihr uns am Bachlauf begegnet seid und Brams Krieger getötet habt“, stellte Kellen fest.
Larinil lächelte. „Kein Zufall.“
„Ihr müsst uns gefolgt sein.“ Der Häuptling runzelte die Stirn. „Ohne dass wir etwas davon gemerkt haben.“
Larinil nickte wieder. „Ihr werdet alle Antworten bekommen. Und ihr werdet verstehen, was geschehen ist und auch das, was noch geschehen wird.“
Sie sah ihn ernst an. Versteckte sich da Scham in diesen vollkommenen Zügen? Oder sogar Angst?
Der Krieger in Kellen mahnte den neugierigen Jungen zur Vorsicht. Etwas sagte ihm, dass die Geschichte hier noch nicht zu Ende war. Wer waren diese Wesen? Was hatten sie vor? Und noch eine Frage quälte ihn: „Wo sind Domhnall und Fürst Morcant?“
Larinil wirkte erleichtert. Das war offenbar eine der Fragen, die sie gerne beantworten wollte.
„Ich bring dich zu ihnen. Aber vorher solltest du dir etwas Wärmeres anziehen. Es ist kalt.“ Sie öffnete eine große Schublade unter Kellens Bett. Der Häuptling staunte. Er hätte überall nach seinen Sachen gesucht, aber zuallerletzt direkt unter seinem Lager.
Larinil schien Kellens Verwunderung zu amüsieren. Lächelnd stand sie auf.
„Hier findest du alles, was du brauchst. Ich warte draußen.“
Anders als die meisten in seinem Volk hatte Kellen keine Schwäche für bunte Kleider. Er trug normalerweise Hemd und Hose aus grobem Stoff und einen Umhang aus Wolle. Wenn überhaupt, dann ließ er die Sachen schwarz oder dunkelbraun färben. Und sogar das Kastenmuster auf seiner Hose, das seinen Status verriet, war schlichter als üblich. Kellen mochte Eitelkeit ebenso wenig wie Prahlerei und Machtgehabe. Als Häuptling wollte er in seinem Dorf wegen seiner Taten respektiert werden und nicht, weil er aussah und sich benahm wie ein Pfau.
Ob er die Kleider mochte, die er jetzt trug, war ihm deshalb noch nicht so ganz klar. Hemd und Hose waren weit geschnitten, dunkelblau und aus einem ähnlich dünnen Stoff wie Larinils Kleid. Er fand feste, schwarze Stiefel, die bis knapp unter die Knie reichten, und einen langen, schwarzen Umhang. Die Kleider waren federleicht, aber trotzdem robust und erstaunlicherweise auch warm. Zu seiner Erleichterung hatte Larinil ihm seine bronzene Mantelspange, sein Schwert und den dazugehörigen Gurt gelassen. Kellen war dankbar dafür, auch etwas Vertrautes gefunden zu haben. Und mehr noch: Dass sie ihm die Waffe gelassen hatte, sprach dafür, dass er hier kein Gefangener war. Dem Häuptling war klar, dass dies absichtlich geschehen sein musste. Vielleicht, um sein Vertrauen zu gewinnen. Andererseits: Bewaffnet oder nicht - hatten diese Wesen wirklich etwas von ihm zu befürchten? Kellen erinnerte sich an den Kampf am Bachlauf. Larinil tötete schneller als einer ihrer Feinde das Wort „Gnade!“ hätte sagen können. Oder waren das etwa doch Trugbilder gewesen, geschuldet dem Umstand, dass Kellen dem Tod näher gewesen war als dem Leben?
Larinil stand an einer Brüstung zwischen zwei Säulen. Als er auf sie zukam, musterte sie ihn zufrieden. Ganz so, wie jemand, der mit einem vollendeten Werk zufrieden war. Kellen fühlte sich unwohl. Blaue, feine Kleider kamen einem Pfau ziemlich nahe.
„Du siehst stattlich aus, Häuptling Kellen“, sagte Larinil schmunzelnd. „Ich hoffe, auch du bist mit den Kleidern zufrieden, die ich für dich gewählt habe.“
Kellen kämpfte einen leichten Anflug von Zorn nieder. Der Gedanke daran, dass eine fremde Frau bestimmte, welche Sachen er trug, war ihm fremd.
Mühsam brachte er ein „Natürlich“ hervor und beließ es dabei. Die Sorge um sein Aussehen war längst nicht so groß wie seine Neugier.
Kellen wollte Galandwyn kennenlernen, die weiße Burg in den Bergen. Er trat neben Larinil und hatte nun einen freien Blick in den Hof. Der Häuptling hatte sich nicht getäuscht: Das Gebäude, das er vom Fenster aus gesehen hatte, umfasste nahezu den gesamten Innenhof. Es gab bestimmt hundert Erker, dazwischen Säulengänge und an der Oberseite des Hofs einen riesigen Balkon und darunter ein bestimmt drei Mann hohes Tor. Die Front dieser Gebäudeseite verlief gerade - anders als die viel längeren Flanken. Sie verjüngten sich allmählich zum Inneren des Hofes hin und machten nach ein paar hundert Pferdelängen schließlich einen leichten Knick. Trichterförmig verengten sich die Gebäudeseiten nun auf ein weiteres großes Tor zu, das dem anderen genau gegenüberlag. Und noch etwas fiel Kellen erst jetzt auf. Direkt hinter der gegenüberliegenden Gebäudeseite ragte eine steile Felswand empor. Die Burg schmiegte sich förmlich an den schroffen Berg. Der Häuptling war überwältigt. Er kannte zweistöckige Häuser und Festungen mit Holzpalisaden und Schutzwällen. Aber so etwas hatte er noch nicht gesehen. Alles war weiß wie Schnee und nahezu perfekt gearbeitet. Keine Risse, keine Löcher, kein Dreck.
Larinil warf ihm einen amüsierten, aber gleichzeitig zufriedenen Blick zu. Sie schien es zu genießen, ihn so erstaunt und beeindruckt zu sehen. Sie kam ihm immer weniger wie eine Göttin vor. Sie war schön, fremdartig und erhaben. Aber sie hatte auch etwas Menschliches an sich. Besonders jetzt, da sie direkt neben ihm stand und Kellen feststellte, dass sie fast einen Kopf kleiner war als er. Seltsam. Bis vor Kurzem hätte er sein Schwert darauf verwettet, dass sie größer war als er.
Sie gingen acht Stockwerke weit die Treppe hinab und traten durch eine weitere spitzbogige Tür hinaus in den Hof. Vier Lichtwesenmänner gingen an ihnen vorbei und sahen ihn dabei neugierig an. Die Männer trugen Hosen statt Kleider, ansonsten hatten sie ähnliche Gewänder wie Larinil - aus weiten, leichten Stoffen in kräftigen Farben. Ihre Augen waren grün, braun und blau, wie bei Menschen, aber allesamt ungewöhnlich hell. Und ihre Ohren waren spitz.
Kellen nickte ihnen zu und sie erwiderten den Gruß, sagten aber kein Wort.
„Das ist der Wohntrakt“, erklärte Larinil. „Alle Elvan jal'Iniai von Galandwyn leben hier.“ Sie blieb stehen, damit sich Kellen umsehen konnte. Die Gebäudeflanke, in der sein Zimmer lag, glich der gegenüberliegenden wie ein Ei dem anderen. Und auch hier ragte dahinter eine gewaltige Steilwand in die Höhe. Die Burg lag ganz offensichtlich in einer Schlucht und war damit von mindestens zwei Seiten her unangreifbar. Kellen war einmal mehr beeindruckt.
Der Gebäudeteil an der Front des Hofs war offenbar dem Burgherren vorbehalten. Die Säulen und Erker waren reicher verziert als die anderen und der große Balkon über dem Tor diente offenbar als Rednertribüne. Und als Schießstand, sollten Feinde in den Wohnhof eindringen. Ja, auch das machte Sinn, dachte Kellen. Die Bogenschützen könnten sich auf voller Breite aufstellen und hätten freies Schussfeld auf das gegenüberliegende Tor, das im deutlich engeren Bereich des Hofes lag. Dort durchzubrechen war tödlich. Und wer es trotzdem schaffte, auf den regneten von den Erkerfenstern und Säulengängen tonnenweise Geschosse herab. Diese Burg war nicht nur schön, sie war auch nach taktischen Gesichtspunkten meisterhaft geplant worden.
Larinil führte ihn durch das Tor unter dem Burgherrentrakt. Sie kamen in ein tunnelartiges Gewölbe, das von ein paar Fackeln erleuchtet war und bestimmt zehn Pferdelängen maß. Am Ende war ein weiteres Tor, das etwas kleiner war als das erste, aber dafür deutlich massiver. Es stand offen und Larinil und Kellen gingen hindurch.
Es machte der Kaijadan-Meisterin Freude, den Kelten-Häuptling zu beobachten. Anfangs hatte sie sich Sorgen gemacht. Wie würde er auf all das reagieren? Noch nie hatte ein Mensch Galandwyn von innen gesehen. Diese Geschöpfe lebten in kleinen, schmucklosen Hütten. Sie trotzten der Natur mühevoll ab, was sie zum Überleben brauchten. Und noch bevor sich die Blüte ihres Lebens entfalten konnte, war es zu Ende. Vernichtet durch Krankheit oder, was noch sinnloser war, durch die Hand eines Feindes. Larinil hatte Angst, dass Galandwyn ein solches Geschöpf in den Wahnsinn treiben könnte. Dass Vollkommenheit für die Unvollkommenen untragbar sein würde. Aber so war es nicht. Jedenfalls nicht bei Kellen. Der Häuptling war überwältigt. Aber er betrachtete die Dinge mit unverhohlener Neugier. Es lag ein Glanz in seinen dunklen Augen, wie sie ihn von Kindern kannte, die sich ungehemmt freuten.
Larinil hatte ihn in den heiligen Bereich der Burg geführt, in den Gartenhof Jolywan. Der hinterste Teil Galandwyns war allein der Schönheit gewidmet, im Halbkreis eingerahmt und geschützt von steilen Felswänden war er das Herz der Zuflucht. Weder Kampf noch Leid noch Hässlichkeit sollten hier ihren Platz haben. Wer hierher kam, war dem Licht näher als irgendwo anders in dieser Welt. Für Larinil war Jolywan der Vollkommenheit sehr nahe.
Der Garten hatte etwa die doppelte Fläche des Wohntraktes. Hohe, dichte Tannen und Fichten verbargen das Grau der Felswand und vermittelten den Eindruck, eher auf einer Waldlichtung zu sein als in einem Felsenkessel. Auf der linken Seite des Gartens lagen Blumenbeete wie ein sich immerzu wölbender und wieder abflachender bunter Teppich. Die Farben hatten ihre Ordnung - nicht in dem Sinne, dass sie streng voneinander getrennt waren. Im Gegenteil: Sie waren vermischt, aber dabei harmonisch aufeinander abgestimmt. Die Natur hätte so etwas niemals alleine hervorbringen können, dachte Larinil. Aber sie würde es lieben. „Finde die Schönheit, strebe nach Vollkommenheit - die Pflicht der Elvan jal'Iniai.“
Larinil und Kellen liefen über einen kurz geschnittenen Rasen und wandten sich dann der rechten Seite des Gartenhofs zu. Die Kaijadan-Meisterin bemerkte, dass der Mensch den Anfang des schmalen Wasserfalls suchte, der sich aus schwindelerregender Höhe die Felswand hinabstürzte. Sanft rauschend ergoss er sich in einen kleinen halbrunden See, der an den Seiten mit weißen Steinen befestigt war. Eine drei Ellen breite Rinne führte das Wasser vom See aus geradewegs zur Burg, wo es in einem Loch unterhalb der Mauer verschwand. Zwei verspielte Brücken spannten sich im Bogen über die Rinne. Beide waren gerade breit genug, um zwei Spazierenden nebeneinander Platz zu bieten. Die Brücken waren mit Pfaden verbunden, die sich ziellos zwischen Blumenbüschen, Sträuchern und Steinstatuen hindurchschlängelten. Einer der Pfade führte auf einen mannshohen künstlichen Hügel, auf dessen Scheitel ein kleiner Pavillon mit einer Bank darin stand. Ein anderer endete vor einer spitzbogigen Tür im Felsmassiv - der Zugang zu einem in den Berg gehauenen Treppenhaus, über das man zu zwei übereinanderliegenden Galerien gelangte.
Larinil blieb stehen und zeigte in Richtung der oberen Galerie. Zwei Gestalten standen dort, mit den Händen auf das weiß schimmernde Geländer gestützt und angestrengt in ihre Richtung blickend.
„Dort oben sind deine Gefährten, Häuptling Kellen. Sie werden überrascht sein dich wohlauf zu sehen.“
Der Mensch sah sie an und nickte ihr dankbar zu. „Du kommst nicht mit?“, fragte er.
Larinil schüttelte den Kopf.
„Dann bleibt das Rätsel also bis dahin ungelöst.“
Sie nickte. „Ja, bis dahin. Aber wir sehen uns bald wieder.“
„Ich verstehe“, schmunzelte Kellen. „Der Weise reist auf den Wogen eines Baches, der Dumme nimmt den Wasserfall.“
Larinil lächelte. Dann drehte sie sich um und ließ Kellen allein.
Fürst Morcant und Domhnall waren tatsächlich überrascht, dass er noch am Leben war. Dem Fürsten sah es Kellen an den hochgezogenen Augenbrauen an. Der Krieger fand dagegen deutliche Worte: „Bei den Ahnen, Häuptling. Du müsstest tot sein!“
Kellen lachte. „Es braucht mehr als das Schwert eines Wilden, um mich umzubringen.“
„Große Worte, Häuptling. Ich habe gesehen, wie dich das Schwert durchbohrt hat. Das ist Zauberei.“
Angst und Zweifel standen Domhnall im Gesicht. Er hatte Dinge gesehen, die unglaublicher waren, als alles, was ein Traum ihm hätte vorgaukeln können. Jetzt stand auch noch Kellen vor ihm, in fremdartiger Kleidung und offenbar völlig unversehrt.
Dann aber entspannten sich seine Züge wieder etwas.
„Du bist es wirklich, Häuptling, oder?“
Kellen nickte. „Nenn mich Kellen, du großer Krieger. Bei allem, was wir erlebt haben, und wohl noch erleben werden!“
Der mächtige Kerl brummelte missmutig. Dann packte er Kellen und drückte ihn erleichtert an seine breite Brust. Der Häuptling ließ ihn gewähren. Der Kampf am Bachlauf, die Lichtwesen, die Burg. All das musste Domhnall mindestens so sehr verwirrt haben, wie ihn. Er brauchte etwas, das seine Welt wieder auf vertraute Pfeiler stellte.
„Larinil hat mich geheilt“, erklärte Kellen, nachdem ihn der Krieger wieder freigegeben hatte. „Sie verfügt über besondere Kräfte.“
„Larinil?“ Morcant sah ihn fragend an. Wie immer sagte er nicht mehr, als notwendig war. Aber trotzdem war etwas anders: Das Gesicht des Fürsten hatte an Härte verloren. Es war entspannt. Die Augen musterten Kellen interessiert. Und es lag auch etwas Traurigkeit in ihnen, da war sich der Häuptling sicher.
„Larinil ist der Name des Lichtwesens, das mich gerettet hat. Sie hat mich hierher gebracht. Habt ihr sie nicht gesehen?“
Domhnall nickte. „Doch. Was uns wundert, ist, dass du ihren Namen kennst. Bisher hat niemand mit uns gesprochen. Ich habe vermutet, dass sie unsere Sprache nicht verstehen.“
„Mit mir hat sie gesprochen“, antwortete Kellen. „Allerdings kann ich nicht behaupten, dass ich sehr viel mehr weiß als ihr.“ Der Häuptling berichtete in kurzen Worten, was er erfahren hatte.
Morcant drehte sich wieder zur Brüstung um und sah hinab in den Gartenhof. Kellen stellte sich neben ihn. Ein paar Lichtwesen spazierten durch die Anlage, zwei saßen auf dem Rasen zwischen zwei Blumenbüschen. Einer hatte im Pavillon auf dem Hügel Platz genommen. Der Anblick war so friedlich, wie er nur sein könnte.
Domhnall allerdings war davon weiter unbeeindruckt. Nachdenklich lief er auf der Galerie auf und ab, als würde ihn die Strecke, die er zurücklegte, den Antworten näher bringen.
„Mir gefällt das nicht. Was wollen diese Wesen von uns? Sie haben uns doch nicht ohne Grund hierher gebracht.“
„Beruhige dich Domhnall. Bisher haben sie uns nichts Böses getan“, sagte Kellen. „Außer uns das Leben zu retten.“
„Es soll Völker geben, die Fremde wie Könige behandeln - nur, um sie kurz darauf grausam ihren Göttern zu opfern. Wir sollten von hier verschwinden.“
Unsinn, dachte Kellen. Eine laute Stimme tief in seinem Inneren sagte, dass das nicht wahr war. Etwas würde passieren, da war er sich sicher. Aber, was auch immer es war - ihnen drohte keine Gefahr, noch nicht, nicht jetzt und nicht hier. Der Häuptling dachte an Larinils Augen. Schönheit, Stolz, Vertrauen lagen in ihnen. Aber keine Bosheit und keine Niedertracht.
„Diese Lichtwesen werden uns nicht töten“, sagte Fürst Morcant mit ruhiger Stimme.
„Verzeih, Fürst! Aber wie kannst du da so sicher sein?“, wollte Domhnall wissen. Seine Angst vor den Lichtwesen war größer als die vor dem Zorn des Fürsten. Kellen konnte ihm das nicht verdenken.
Morcant drehte sich um und sah seinem Krieger fest in die Augen - allerdings nicht feindselig und nicht tadelnd.
„Sie haben uns lange beobachtet und uns schließlich das Leben gerettet, als wir in Not gerieten. Opfertiere hätten sie einfacher haben können.“ Morcant schüttelte langsam den Kopf und wandte sich wieder dem Gartenhof zu. Dann sagte er leise: „Ich glaube, die Alben wollen unsere Hilfe.“
Domhnall fuhr herum: „Alben?“, rief er mit einer Mischung aus Entsetzen und Ekel.
Auch Kellen war überrascht. Alben, das waren Geisterwesen aus der Anderswelt! Manche fürchteten sie, andere beteten sie an. Die Druiden brachten ihnen Opfer. Aber Kellen kannte niemanden, der je einen Alben gesehen hatte. Es gab sie nicht wirklich. Sie standen für all das, was nicht erklärt werden konnte. Für heimtückische Krankheiten, manchmal auch für glückliche Fügungen. Kellen hatte nie an sie geglaubt.
Andererseits: Nach allem, was Kellen hier in Galandwyn erlebt und gesehen hatte, hielt er auch Alben nicht mehr für völlig unmöglich.
Morcant fuhr fort: „Lichtwesen oder Alben. Beides hat dieselbe Bedeutung. Aber es ist auch nicht wichtig, wie wir sie nennen. Wichtig ist, dass sie unsere Freundschaft suchen. Das ist offensichtlich. Bei den Göttern! Wer möchte auf solche mächtigen Verbündeten verzichten.“
Domhnall schnaufte. Es fiel ihm schwer, sein Unbehagen zu verbergen. Ihm war offenbar wichtig, mit wem er es hier zu tun hatte, dachte Kellen. Domhnall war ein Krieger - sicherlich schlauer als Murddin oder Breac - aber trotzdem noch ein Krieger. Und als solcher mochte er vermutlich keine Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten und Absichten, die im Dunkeln lagen. Kellen konnte das ein gutes Stück weit nachvollziehen. Auch sein Verstand riet ihm zur Vorsicht.
Sein Herz aber war zugleich fasziniert von der Schönheit Larinils, von dieser unglaublichen Burg und von der Rätselhaftigkeit der Alben. Seine Neugier war groß. Er wollte mehr wissen und mehr sehen. Es war ein Drang, den er nicht unterdrücken konnte. Allein das sprach eindeutig gegen Domhnalls Rat, zu fliehen.
Fürst Morcant legte die Hand auf die Schulter des Kriegers und sah ihn ernst an. „Ich kann von dir nicht verlangen, auf mein Urteil zu vertrauen, Domhnall. Vor zwei Tagen lag ich so falsch, dass es Murddin und Ardric den Tod gebracht hat. Und auch wir wären fast getötet worden.“
Er schluckte. Und wieder war da diese Traurigkeit in seinen Augen. „Ich verlange es von dir nicht als Fürst. Aber ich bitte dich als Freund: Glaube mir! Die Alben wollen nichts Böses. Ich weiß das, weil ich ihnen schon begegnet bin.“
Kellen lag an diesem Abend lange wach. Seine Gedanken kreisten um Morcant. Was war mit dem Fürsten geschehen? Seit er auf der Albenburg war, schien es, als wäre eine Blockade in seinem Herzen gebrochen. Da war ein Hauch Wärme, wo sonst nur Kälte Platz hatte. Da war Glut in den sonst so eiskalten Augen. Kellen ahnte, warum: Morcant malte sich in glanzvollen Bildern aus, was seinem Stamm ein Bündnis mit den Alben bringen könnte. Sichere Handelsrouten in den Süden. Deshalb noch mehr Wohlstand, Macht und das, was er am meisten suchte: Ordnung. Möglicherweise träumte der Fürst sogar von einem keltischen Reich unter seiner Herrschaft, das sich sogar mit den Etruskern vergleichen konnte. Das war es wohl. So schloss sich der Kreis.
Morcant hatte auf der Galerie im Gartenhof seine Geschichte erzählt: Als junger Fürstensohn - er war nur dritter in der Rangfolge - reiste er mit einer Gruppe Händlern über die Großen Berge in das warme, fruchtbare und wohlhabende Land der Etrusker. Die Städte, die Kunst, das Essen und ein ausgeprägter Sinn für Ordnung im Chaos des menschlichen Lebens verfehlten nicht ihre Wirkung. Morcant war beeindruckt von einer Zivilisation, die der seines eigenen Volkes haushoch überlegen war. Von Festungen aus Stein, die mehrere Stockwerke hoch waren und von ganzen Dörfern am Meer, die nur zu einem Zweck gebaut worden waren: zur Verhüttung von Eisen. Er rang mit sich: Sollte er bleiben und Teil dieses großartigen Volkes werden? Oder war es seine Aufgabe, etwas von dieser Ordnung mit nach Hause zu nehmen, um dort, nördlich der Großen Berge, eine Pflanze zu säen, die eines Tages großartige Früchte tragen könnte? Die Entscheidung nahm ihm eine junge Etruskerin ab, in die er sich verliebte und die er heiratete. Sie siedelten am Ufer eines Flusses. Als geschickter Vermittler von Geschäften zwischen etruskischen und griechischen Händlern auf der einen und keltischen und germanischen Händlern auf der anderen Seite, brachte er es zu Wohlstand. Das Paar bekam einen Sohn. Morcant war glücklich.
Dann aber kam es zur Katastrophe. Die Streitigkeiten der Etrusker mit dem Volk der Latiner im Süden eskalierten. Soldaten fielen ins Land ein und töteten, was ihnen vor die Schwertspitze kam. Morcants Frau und Sohn gehörten zu den Opfern, sein Hof wurde niedergebrannt. Morcant war zu dieser Zeit auf Reisen an der Ostküste und kehrte erst Tage später zur verkohlten Ruine seines Hauses zurück. Und zu zwei frischen Gräbern.
Von Zorn, Trauer und Schuldgefühlen fast wahnsinnig, brach er in Richtung Norden auf. Ihm war nichts mehr geblieben, für das es sich zu leben lohnte. Allein die alte Heimat jenseits der hohen Gipfel hatten noch eine Bedeutung für ihn - ein verschwommenes Ziel, auf das er sich zubewegen konnte. Aber die Wahrheit war, dass er es gar nicht erreichen wollte. Was er wirklich suchte, das war der Tod. Er trug nur leichte etruskische Kleidung, ein feingliedriges Kettenhemd und ein Schwert, als er in die Berge vordrang und schließlich den ersten Pass im Süden erreichte. Seine Vorräte waren bald ebenso aufgezehrt wie seine Kräfte. Er war dem Tode nahe, als ihn eine Gruppe Alben fand - angeführt von einem älteren Mann, der über heilende Kräfte verfügte. Die Alben stellten ihm Fragen, wollten wissen, was ihn bewege, mit welchen inneren Dämonen er kämpfe. Aus einem seltsamen Grunde waren sie interessiert an diesem verzweifelten Fürsten. Schließlich kümmerten sie sich um ihn, statteten ihn mit einem kräftigen Pferd und Verpflegung aus und ließen ihn ziehen.
Für Morcant änderte das alles. Er hatte damals die Dunkelheit gesucht, wollte sterben. Und dann waren da plötzlich diese übermenschlichen Lichtwesen, die den ersehnten Tod nicht zuließen. Boten der Götter, anders konnte es nicht sein. Morcant hatte in dieser Welt eine Aufgabe zu erfüllen, eine Aufgabe, die ihm die Götter aufgetragen hatten. Alles passte zusammen. Göttliche Ordnung, Blüte, Macht - all das hatte er seinem Volk bringen wollen, als er Jahre davor losgezogen war. Von Anfang an war das seine Bestimmung gewesen. Die Alben hatten ihn auf den richtigen Pfad zurückgeführt.
Und tatsächlich erreichte er seinen Stamm - nur wenige Tage, nachdem der Fürst, sein älterer Bruder, an einer schweren Krankheit gestorben war. Da ein weiterer Bruder bereits Jahre zuvor in einem Kampf gefallen war, erhielt nun Morcant die Fürstenwürde. Nun konnte er sie erfüllen, seine göttliche Aufgabe - mit aller Hingabe und Kraft.
Kellen konnte sich vorstellen, was nun in Morcant vor sich gehen musste. Die Alben hatten ihn ein weiteres Mal gerettet und sogar mit in ihre Burg genommen - ein Bauwerk, das sogar die der etruskischen Städte an Größe und Schönheit in den Schatten stellte. Für Morcant konnte es keinen Zweifel geben: Die Götter hatten Großes mit ihm und seinem Volk vor.
Kellen dagegen war sich da nicht so sicher. Die Alben waren keine Götter. Sie machten Fehler. Larinil hatte erzählt, dass sie Morcant, ihn und die anderen aus den Augen verloren hatte. Und, dass sie ihn nur mit viel Glück hatte retten können. Und warum nannten sie ihre Burg Galandwyn, die Zuflucht? Etwas bedrohte sie. Wie mächtig musste diese Bedrohung sein, dass sich sogar Wesen wie die Alben in einer Gebirgsschlucht verschanzten?
Da war ein Geräusch an der Tür. Kellen erstarrte. Es war spät. Draußen war es stockdunkel und Larinil wollte erst am folgenden Tag wieder zu ihm kommen. Schnell griff er zu seinem Schwert, das er neben seinem Lager gegen den kleinen Tisch gelehnt hatte. Dann schob er die Decke beiseite und erhob sich vorsichtig.
Die Tür öffnete sich - langsam, nur einen Spalt breit. Es war totenstill. Kellen wagte kaum, zu atmen. Wer auch immer da an der Tür war, er wartete ab, lauschte und spähte ins Dunkle. Hatte er bemerkt, dass der Häuptling bereits auf den Beinen und bewaffnet war? Wohl kaum. Sonst wäre er bereits geflohen oder zum Angriff übergegangen. Kellen entschied, stillzuhalten.
Ein leises Knarren. Die Tür ging weiter auf. Kellen erkannte die Umrisse einer großen Gestalt. Ein massiger Kopf schob sich unter den Türrahmen. Jetzt! Kellen sprang vor und warf sich gegen die Tür. Das feste Holz traf die Gestalt mit voller Wucht. Der Häuptling hörte, wie jemand stöhnend zu Boden ging. Dann riss er die Tür auf und war im nächsten Moment mit gestreckter Schwerthand über seinem Gegner. Fahles Mondlicht fiel auf das schmerzverzerrte Gesicht von ...
„Domhnall! Bei den Ahnen. Warum schleichst du dich wie ein Dieb in mein Zimmer?“
Der große Krieger unterdrückte ein Husten, dann antwortete er keuchend: „Nicht wie ein Dieb. Wie einer, der eigentlich keinen Lärm machen will.“
Kellen reichte ihm die Hand und half ihm auf. Er sah sich um und lauschte. Es war ruhig. Zum Glück war um diese Zeit niemand mehr im Wohntrakt unterwegs. Dann winkte Kellen Domhnall in sein Zimmer und schloss die Tür.
Der Krieger fluchte leise und wischte sich mit dem Ärmel Blut von der Lippe.
„Offenbar sind die Alben nicht die Einzigen, die ich fürchten muss“, brummte er.
„Wenn du statt Prügel Gastfreundschaft willst, dann klopf beim nächsten Mal an die Tür - so wie es dir deine Mutter beigebracht hat. Was ist mit dir los, bei den Göttern?“
Domhnall knurrte mürrisch.
„Wir müssen reden, Kellen.“ Der Krieger sah ihn eindringlich an. „Der Fürst ist nicht mehr der, der er war. Vier Stunden lang ist er heute mit mir durch den Gartenhof gewandelt, hat sich Blumen angesehen, Alben zugenickt, als wären sie Fürsten und nicht er. Und sein Gesicht hättest du sehen sollen.“
„Auf mich hat Morcant gewirkt, als wäre er mehr denn je mit sich im Reinen“, entgegnete Kellen.
„Aber ja. Das ist es ja, was mich beunruhigt. Die Alben haben ihn verflucht. Er traut ihnen. Er bewundert sie und glaubt, dass er hier ist, weil sie mit ihm ein mächtiges Bündnis schmieden wollen - ausgerechnet mit ihm. Aber Morcant irrt sich. Diese Wesen haben andere Pläne.“
Der Häuptling nickte. „Ja, das glaube ich auch.“
Domhnall sah ihn überrascht an. Offenbar hatte er mit Widerspruch gerechnet.
„Dann zweifelst auch du daran, dass sie es gut mit uns meinen?“
Kellen zuckte mit den Schultern. „Wenn du fragst, ob ich Ihnen blind vertraue: Nein, das tue ich nicht. Wenn du aber gekommen bist, um mich zur Flucht zu überreden, dann muss ich dich enttäuschen. Die Alben könnten uns ohne Mühe töten, wenn sie das nur wollten, Domhnall. Jederzeit und auch dann, wenn wir versuchen, von hier wegzulaufen. Eine Flucht macht keinen Sinn, ganz egal, ob sie Gutes oder Böses im Schilde führen. Vielleicht sollten wir einfach ein wenig Geduld haben.“ Kellen dachte wieder an den Bach und den Wasserfall. Einen Moment lang überlegte er, ob er dem Krieger davon erzählen sollte, hielt es dann aber für klüger, es nicht zu tun.
Domhnall lachte kurz auf. „Du hast gedacht, ich bin gekommen, um dich zur Flucht zu überreden?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Eher kommt der mächtige Belen aus dem Götterreich zu uns herab und hilft meiner Schwester bei der Wäsche, als dass ich dir Vernunft beibringen könnte. Diese Albin hat dir schöne Augen gemacht. Und du hast im ganzen Keltenland den Ruf so neugierig zu sein wie eine Katze. Nichts bringt dich von hier weg. Und auch wenn es dumm ist und mir den Tod bringen wird: Ich lasse dich und den Fürsten nicht einfach hier und laufe davon wie ein Feigling.“
Kellen war erleichtert. Und er war Domhnall dankbar. Der Krieger sah die Dinge so einfach und schlicht, wie sie nun mal waren. Ihn hier zu haben war ein Segen. Er war derjenige, der Morcants Starrsinn und Kellens Neugier bremsen konnte, wenn es nötig war.
Der Häuptling musste daran denken, dass Larinil davon gesprochen hatte, dass sie nur Kellen und den Fürsten heil hierher bringen sollte. Von Domhnall hatte sie nichts gesagt. Was auch immer geschehen sollte: Dieser Krieger hatte Kellens Freundschaft verdient. Mehr noch: Er hatte ein Recht darauf.
„Verzeih mir, Domhnall! Ich hätte wissen müssen, dass in deinem großen Herzen für nichts außer Mut und Ehre Platz ist. Und es ist schlau von dir, vorsichtig zu sein.“
Der Krieger nickte heftig. „Ja, das ist es allerdings. Und deshalb sollten wir den Schutz der Nacht nutzen.“
„Wozu?“
„Um mehr über die Alben herauszufinden.“
Kellen seufzte. „Das halte ich nicht für eine gute Idee. Wir sollten sie nicht unnötig gegen uns aufbringen.“
„Aber warum? Hat die Albin dir nicht gesagt, dass wir hier Gäste sind und uns frei bewegen können?“
Der Häuptling nickte.
„Nun, wir sind keine Gefangenen. Was also kann sie gegen einen nächtlichen Spaziergang haben?“ Domhnall lächelte wie ein frecher Junge, der mit seinen Eltern über eine süße Frucht verhandelte, die er unbedingt haben wollte.
Kellen gab nach. Er hatte das Gefühl, es Domhnall schuldig zu sein. Außerdem war er natürlich neugierig. Er ahnte, dass es dem Krieger nicht bloß um einen Spaziergang ging.
„Was ist mit Fürst Morcant?“, fragte der Häuptling.
„Was soll mit ihm sein? Er träumt von blühenden Städten, Soldaten in goldenen Rüstungen und einem Palast, auf dessen Thron er selbst sitzt - auf Wunsch der Götter natürlich. Lassen wir ihn weiter träumen.“
Eines jedenfalls hatten die Alben mit den Menschen gemeinsam: Sie schliefen in der Nacht. Der Wohntrakt und auch der Hof waren ruhig und leer. Kellen vermutete allerdings, dass sich im vorderen Teil der Burg - dem Verteidigungstrakt - Wachen befanden, die sofort Alarm schlugen, sollten sich Feinde nähern. Keine gute Idee, dort hinzugehen. Zum Glück sah das auch Domhnall so. Sie durchschritten den Wohnhof und tasteten sich durch das dunkle Gewölbe vor bis zu dem wuchtigen Tor, das den Wohntrakt vom Gartenhof trennte. Anders als am Tag stand es nicht offen. Kellen fasste die massiven Eisenverschläge an. Sie waren kalt, sogar noch etwas kühler als die dicken Holzsparren, aus denen das Tor gemacht war. Er griff nach dem Riegel und zog leicht daran. Er bewegte sich nicht.
„Es ist zu“, sagte er zu Domhnall, den er in der Dunkelheit kaum erkennen konnte.
„Zu, aber nicht verschlossen“, antwortete der Krieger und versuchte nun seinerseits, den Riegel zu öffnen. Mit einem jammernden Quietschen, das Kellen erbärmlich laut vorkam, gelang es ihm. Er musste vor lauter Anstrengung nun auch noch husten und hielt sich den Ärmel vor den Mund.
Kellen schüttelte den Kopf. „Wenn das, was wir hier tun, verboten ist, dann haben wir eine zusätzliche Strafe für unsere Dummheit verdient.“
„Wenn das, was wir hier tun, verboten ist, dann wären wir vermutlich gar nicht so weit gekommen“, entgegnete Domhnall mürrisch. „Und wenn wir dafür bestraft werden sollen, dass wir unser Schicksal nicht hinnehmen wie Schlachtvieh, dann werde ich die Strafe ertragen wie ein Krieger.“
Er packte den Eisen-Griff an der rechten Torseite und zog daran. Wieder tat sich gar nichts. Kellen half ihm. Erst jetzt öffnete sich das schwere Tor ein paar Fingerbreit.
Domhnall fluchte. „Bei den Ahnen. Dieses Tor ist auch ohne Schloss kaum zu öffnen.“
Noch einmal zogen sie mit aller Kraft - bis der Spalt breit genug war, dass ein Mann hindurchschlüpfen konnte. Ein normaler Mann, denn er war breit genug für Kellen, nicht aber für den mächtigen Domhnall. Er blieb auf halbem Weg stecken. Der Häuptling lachte leise, sagte aber nichts, sondern zog stattdessen von innen. Endlich stolperte auch der Krieger in den Gartenhof.
Es war still, kühl und unsagbar dunkel. Das Mondlicht fiel fahl auf die linksseitige Felswand der Schlucht - bis hinab in den Garten kam es nicht, sodass jeder blühende Strauch, jeder Baum und jede Erhebung wie eine schwarze, bedrohliche Gestalt wirkte. Kellen lauschte. Hier und da war das Kreischen eines Greifvogels zu hören. Der Wind strich raschelnd durch die Äste der Kiefern und Tannen.
„Domhnall, was machen wir hier?“, fragte Kellen geradeheraus. Der nächtliche Ausflug kam ihm jetzt noch sinnloser vor als zuvor. „Hier ist niemand.“
„Ich habe ja bereits erzählt, dass ich mit Morcant hier stundenlang Blumen bestaunen musste.“ Wieder unterdrückte er ein Husten. „Dabei ist mir aufgefallen, dass die Alben hier nicht ziellos herumgeschlichen sind.“
„Was meinst du damit?“
„Sie waren nicht zur Erholung hier. Sie kamen aus einem ganz bestimmten Grund hierher.“
„Und der wäre?“ Kellen konnte es nicht vermeiden, etwas genervt zu klingen. Domhnall zuckte mit den Achseln.
„Das weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es einen gibt. Viele von den Alben sind in den Wald geschlichen. Mindestens vierzig waren es, die geradlinig auf die Bäume zuschritten und zwischen ihnen verschwanden. Und, bei Belen, solange wir hier waren, kamen sie nicht wieder heraus. Ich schwöre es.“
Kellen verschränkte die Arme. Ihm war nicht wohl bei der Sache. Zugegeben: Ihn interessierte auch, ob sich im Wald etwas verbarg. Aber letztlich war es allein Sache der Alben, was sie da taten. Er konnte genauso gut Larinil bei nächster Gelegenheit danach fragen, anstatt nachts hier draußen herumzuschleichen.
Für Domhnall war die Lage natürlich anders. Einfach nachfragen - das war für ihn keine echte Möglichkeit. Sein Misstrauen gegen das Albenvolk war groß. Der Häuptling hatte keine Wahl.
„Also los. Dann lass uns nachsehen. Damit du wenigstens den Rest der Nacht ruhig schlafen kannst.“
Domhnall schüttelte den Kopf. „Nicht in diesen Wolkenbetten. Bei Teutatis, ich bin ein Krieger, keine verwöhnte Fürstentochter.“
Trotz der Finsternis kamen sie gut voran. Ein kleiner Pfad führte in das Wäldchen hinein. Domhnall war davon überzeugt, dass dies der Weg war, den die Alben genommen hatten. Je tiefer sie vordrangen, desto dichter standen die Nadelbäume. Kellen stolperte über eine Wurzel und wäre beinahe der Länge nach hingefallen.
„Du hattest recht, Domhnall. Dieser Wald ist heimtückisch.“
Der Krieger brummte missmutig - offenbar weniger wegen Kellens Bemerkung, sondern eher deshalb, weil von dem Pfad nun nichts Erkennbares mehr übrig geblieben war. Fluchend schob er einen dicht bewachsenen Kiefernadelast beiseite. Weiter und weiter kämpften sie sich durch das Dickicht, bis sie nach einer Weile die steil emporschießende, schwarze Felswand erreichten, die ihnen brutal den Weg abschnitt.
„Hier endet unsere nächtliche Wanderung, Domhnall.“ Kellen war beinahe etwas erleichtert. „Aber wir haben immerhin etwas herausgefunden.“
Der Krieger sah ihn fragend an. „Was?“
„Dass die Alben gerne im Wald spazieren gehen. Ich bin sicher, dass es hier sehr schön ist - bei Tageslicht.“
Kellen war davon überzeugt, dass Domhnalls Blick tödlich gewesen wäre, wenn er sein Gesicht nur hätte erkennen können. Trotzig untersuchte der Krieger eine Weile lang die Felswand - wohl in der Hoffnung, eine Höhle oder einen geheimen Eingang zu finden. Aber da war nichts.
Schließlich gab auch er sich geschlagen. „Was auch immer die Alben im Wald gesucht haben: Hier ist es jedenfalls nicht.“
Der Rückweg war noch beschwerlicher, denn ohne einen erkennbaren Pfad konnten sie nur die grobe Richtung annehmen, aus der sie gekommen waren. Außerdem verbargen nun schwere Wolken den Mond, so dass es noch etwas dunkler war als vorher. Kellen konnte nicht mal seine eigenen Arme sehen. Dafür spürte er sie umso mehr, denn die spitzen, harten Kiefernnadeln hatten ein paar tiefe Kratzer auf ihnen hinterlassen. Sie taten weh. Trotzdem waren sie das Einzige, womit er sein Gesicht vor den tückischen Nadeln schützen konnte.
Dann plötzlich fassten sie ins Leere. Das Dickicht hörte auf. Kellen spürte kühle klare Luft. Er atmete tief ein. Hatten sie das Ende des Waldes schon erreicht? Unmöglich. Nach Kellens Schätzung hatten sie höchstens die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Angestrengt sah der Häuptling in die Finsternis. Da war etwas. Kellen erkannte einen großen spitz nach oben zulaufenden Umriss inmitten einer kreisförmigen Lichtung. Ein Gebäude musste das sein - drei Mannslängen hoch mindestens. Vielleicht eine Schutzhütte oder ein Pavillon. Die beiden gingen näher heran. Die Wolken hatten sich wieder verzogen und Kellen konnte nun auch die Konturen klarer erkennen. In halbkreisförmigen Wölbungen schlängelten sich die Wände nach oben, bis sie sich zu einem Dach verjüngten und schließlich in einer Spitze endeten. Kellen erinnerte der kleine Turm an ein Schneckenhaus. Es hatte keine Fenster und zumindest auf dieser Seite keinen Eingang. Kellen konnte sich keinen Reim darauf machen, wozu es gut sein sollte. Vielleicht aber hatte das Schneckenhaus auch gar keinen echten Nutzen, sondern war wieder einfach nur da, weil es den Alben so gefiel. Schönheit hatte bei diesem ungewöhnlichen Volk einen ebenso hohen Stellenwert wie Zweckmäßigkeit - so viel hatte der Häuptling bereits gelernt.
„Vierzig Alben passen hier nicht rein, das steht fest“, bemerkte Domhnall. „Aber immerhin haben wir jetzt etwas gefunden.“
„Ein Schneckenhaus ohne Tür und Fenster. Ich beglückwünsche dich. Du hast das Geheimnis der Alben gelüftet, großer Krieger.“ Kellen lachte spöttisch.
Domhnall antwortete nicht. Stattdessen näherte er sich dem Turm und umrundete ihn zur Hälfte.
„Falsch, großer Häuptling. Hier ist ein Eingang.“ Seine Stimme klang triumphierend. „Und eine Treppe, die unter die Erde führt. So, wie es Wesen aus der dunklen Welt gerne haben.“
Kellen folgte ihm. Tatsächlich. Eine spitz zulaufende Pforte gab den Weg frei zu einer engen Rundtreppe, die tief hinab in die Dunkelheit führte. Das Schneckenhaus war ein Eingang. Domhnall hatte also recht gehabt. Die Alben hatten ein Ziel gehabt. Es gab hier einen verborgenen Ort. Möglicherweise ein Heiligtum. Auch die Druiden seines Volkes trafen sich an geweihten Orten tief in den Wäldern. Diese Treffpunkte waren geheim. So war es schon immer und so sollte es auf ewig bleiben. Es gehörte zu den Gesetzen seines Volkes. Etwas in Kellen sagte ihm, dass auch diese Treppe zu einem verbotenen Ort führte. Zu einem Geheimnis, das nicht enthüllt werden durfte. Dem Häuptling kam es auf einmal so vor, als versperre eine unsichtbare Tür den Eingang des Schneckenhauses.
Domhnall hatte diese Bedenken nicht. „Hier muss sich doch etwas finden lassen, woraus sich eine Fackel machen lässt“, sagte er und sah sich um.
Kellen wollte widersprechen. Aber dazu kam er nicht mehr. Denn es geschah, was er hätte vorhersehen müssen. Wie töricht es gewesen war zu glauben, dass die Alben ihren Nachtausflug nicht bemerken würden.
Zwei grelle weise Lichtpunkte blitzten aus dem Nichts auf. Schwebend verharrten sie über der Lichtung und wuchsen zur Größe eines Kopfes heran. Jetzt tauchten sie die beiden Menschen und das Schneckenhaus in ockerfarbenes Licht. Kellen sah, dass Domhnall sein Schwert zog. Ein Fehler, schoss es dem Häuptling durch den Kopf. Ein Lufthauch, ein Schatten huschte über die Lichtung. Mit einem Schrei ließ Domhnall das Schwert fallen. Augenblicke später traf ihn ein wuchtiger Schlag. Der mächtige Krieger wurde ins Gras geschleudert, als wäre er eine dieser Puppen aus Holz und Stroh, mit der Krieger den Schwertkampf übten.
Fluchend rieb sich Domhnall den Bauch, dann schüttelte ihn abermals ein Hustenanfall. Den Ahnen sei Dank, dachte Kellen, sie hatten ihn nicht getötet. Der Häuptling hob seine Hände - als Zeichen dafür, dass er nicht kämpfen wollte.
Als hätte ihn die Luft aus dem Nichts geformt, stand plötzlich ein schmaler Albe vor Kellen und musterte ihn abschätzig. Zornesfalten standen zwischen seinen Augen. Er hatte lange, hellblonde Haare, die er streng nach hinten gekämmt hatte. Gekleidet war er in ein weites, weißes Hemd und ein dunkelgrünes Lederwams. Die dürren Beine steckten in ebenso dunkelgrünen, engen Hosen und in zwei braunen Lederstiefeln. Verächtlich zog der Albe für einen kurzen Moment den Mundwinkel hoch. Er war einen halben Kopf kleiner als Kellen. Trotzdem war dem Häuptling klar, dass es dem Kerl keinerlei Mühe bereiten würde, ihn in Stücke zu schlagen. Und dem Gesichtsausdruck nach würde es ihm vermutlich auch noch Freude machen.
Mit einer schnellen Bewegung zog der Albe Kellens Schwert aus der Scheide und warf es gegen einen vier Pferdelängen entfernten Baum, wo es zitternd stecken blieb.
„Die Dreistigkeit, mit der ihr die Vollkommenheit dieses Ortes stört, wird nur noch übertroffen durch den Gestank, der eurer Art eigen ist. Du stehst unter dem Schutz von Großmeister Geysbin, Menschling. Aber dein Freund muss für diesen Frevel sterben.“ Der Albe spuckte die Worte aus, als wären sie Dreck.
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Kellen. Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte. „Wenn du dir sicher wärst, dann hättest du ihn bereits getötet. Du siehst nicht aus wie jemand, der seinen Feinden ohne Grund Gnade gewährt.“
Das Gesicht des Alben verzog sich zu einem spöttischen Grinsen.
„Du wählst deine Worte klug - für einen Menschling, dem klar sein muss, dass ihm in dieser Lage nicht einmal seine eigenen schwächlichen Götter beistehen könnten. Und du hast sogar recht, in beiden Punkten. Es ist nicht an mir über euch zu richten, was ich sehr bedaure. Also. Was kann ich tun, außer euch dem Urteil und der Weisheit der Großmeister zu überantworten? Ich kann warten und voller Genuss zusehen, wie eure erbärmliche Lebenskraft dahinwelkt und ihr im Staub jämmerlich verreckt, so wie es alle Menschlinge eher früher als später tun.“
Kellen sah dem Alben an, dass es nicht gut war, ihn weiter zu reizen. Es kostete ihn alle Mühe, seinen Zorn im Zaum zu halten. Und der Kerl hatte ganz offenbar noch nicht alle giftigen Pfeile verschossen.
„Ihr habt hier nichts verloren, Menschlinge. Nicht in Galandwyn, nicht in Jolywan und ganz gewiss nicht an diesem Ort. Es gibt dunkle Kammern, tief unter dieser Burg, die mehr als angemessen sind für euch. Dort werdet ihr warten, bis Geysbin euch die Gnade gewährt, zu euch zu sprechen.“
Wieder schnaubte der Albe verächtlich. Dann sah er Kellen herausfordernd an.
„Warum, glaubt ihr, seid ihr hier? Ist es, weil wir ein gastfreundliches Volk sind, das stets selbst die Niedersten bei sich aufnimmt, verköstigt und wie Ihresgleichen behandelt? Oder redet ihr euch ein, wir tun es aus Berechnung, um eure Freundschaft und eure Unterstützung zu gewinnen?“
Er schüttelte den Kopf. „Wie abgrundtief dumm ihr seid. Niemand braucht eure Hilfe. Ihr seid für uns so nutzlos wie Würmer.“ Er rümpfte die Nase, als hätte er etwas besonders Unangenehmes gerochen.
Der vernünftige Teil in Kellen sagte ihm, dass es besser war, weiter stillzuhalten und zu schweigen. Der andere allerdings, der für Dinge wie Stolz und Selbstachtung zuständig war, hatte seine Grenzen. Der Häuptling spürte heißen Zorn.
„Töte uns, wenn du willst, du gottgleiches Geschöpf. Und wenn du feige genug bist. Niemand hat euch gebeten, uns hier herzubringen.“
Der Albe lachte.
„Ihr wärt tot, hätten wir es nicht getan.“
„Ein Kelte stirbt im Kampf und steigt dafür ins Reich der Götter auf. Ich kann mir Schlimmeres vorstellen.“
Kellen glaubte selbst nicht, was er da sagte. Es war einer der Sprüche, mit denen sich einfältige Krieger Mut machten, bevor es in eine Schlacht ging. Er hatte das immer gehasst, weil es keinen Sinn machte. Warum sollte es jemandem nach dem Tod besser gehen, nur, weil er sich von einem anderen einfältigen Krieger den Kopf hatte abschlagen lassen? Die Familien der Krieger tröstete dieser Gedanke jedenfalls nicht. Sie mussten von da an ihre Felder alleine bestellen und verloren sie oft genug, weil sie es nicht schafften.
Den Alben aber schien dieser Unsinn zu beeindrucken.
„Sieh an, ein furchtloser Menschling. Und ein undankbarer Menschling. Aber du hast natürlich schon wieder recht: Der Gedanke, dass es Schlimmeres als den Tod gibt, hat tatsächlich etwas für sich.“
Mit einer blitzschnellen Bewegung riss er Kellen die Beine weg und versetzte ihm einen schmerzhaften Hieb in die Magengrube. Dem Häuptling blieb einem Moment lang der Atem weg. Keuchend versuchte er wieder hochzukommen, aber schon traf ihn ein heftiger Tritt an der Stirn. Unfähig, auch nur irgendein Körperteil zu bewegen, kippte er rücklings in Gras.
„Anwindar, ischa´nar hewei!“
Larinil? Das war ihre Stimme. Diesmal nicht schön und melodiös, sondern hart und scharf wie ein Schwert.
Mit viel Mühe hob Kellen den Kopf. Tatsächlich! Die Albin stand ein paar Schritte entfernt auf der Lichtung und funkelte den anderen Alben zornig an. Sofort ließ der von Kellen ab und ging auf Larinil zu. Seine Hände öffneten sich - eine bittende Geste. Er sagte etwas auf Albisch. Es klang nun sanft und friedfertig. Larinils Stimme aber blieb tadelnd. Wieder entgegnete der Albe etwas, diesmal lag Trotz in seiner Stimme. Energisch schnitt ihm die Albin das Wort ab. Die Diskussion war damit unmissverständlich beendet. Der Blonde senkte kurz den Kopf. Dann packte er Kellen unsanft an den Armen und stellte ihn zurück auf die Beine. Dem Häuptling war noch schwindelig und die Stirn tat weh. Kellen spürte die Wölbung einer Beule. Aber immerhin blutete er nicht. Der blonde Albe hatte ihn nicht schwer verletzt - dafür aber klar gemacht, wozu er fähig war.
Larinil beugte sich zu Domhnall hinab und legte ihm die Hand auf die Brust. Nur kurz, denn gleich darauf fegte sie der Krieger mit einer ruppigen Bewegung beiseite und rappelte sich stöhnend auf. „Bleibt bloß weg von mir“, schimpfte er. Larinil stutzte und sah ihn mit einem überraschten Gesichtsausdruck an.
Dann wandte sie sich Kellen zu.
„Wir bringen euch zurück in den Wohntrakt.“ Ein Lächeln. „Ich denke, für heute haben wir alle genug erlebt.“
Zwei Tage waren vergangen und Kellen war guter Dinge. Er hatte das Gefühl von Klarheit. Es war nicht so, dass all die bohrenden Fragen, die er hatte, beantwortet waren. Aber da war jetzt Ordnung in seinem Verstand, wo vorher ein Durcheinander tobte. Er fühlte sich wie ein Schmied, der seine Arbeitsstätte aufgeräumt hatte, und nun endlich mit der Arbeit anfangen konnte, weil er wusste, wo sich seine Werkzeuge befanden.
Zwei Tage, die Larinil erbeten hatte. Es war eine Art Waffenstillstand, eine Zeit, in der all das, was zwischen ihnen stand, vergessen werden sollte.
In jener Nacht hatten ihn Larinils hellblaue Augen flehend angeblickt.
„Deine ungeduldige Neugier macht mir Sorgen, Kellen. Ebenso wie das tiefe Misstrauen Domhnalls und der unstillbare Zorn Anwindars.“ Kellens Herz hatte schneller geschlagen, als sie den Kopf zur Seite geneigt hatte. „Es sind große Hindernisse auf einem Weg, der Zeit braucht.“
Zwei Tage. Das war keine große Bitte. Sogar Domhnall willigte murrend ein. Er hatte damit gerechnet, bestraft, verjagt oder sogar getötet zu werden. Dass Larinil nichts dergleichen tat, war verwirrend für ihn.
„Und was ist mit dem blonden, dürren Alb? Wird auch er uns in Ruhe lassen?“, hatte der Krieger wissen wollen.
„Ja. Anwindar ist meinem Wunsch verpflichtet.“
„Das fällt mir schwer, zu glauben. In seinen Augen lodert Hass. Er will uns töten.“
Larinil hatte genickt.
„Ja. Und doch kam der Pfeil, der Kellen am Bachufer rettete, von seinem Bogen. Er schoss ihn ab, weil es seine Aufgabe war. Aus dem gleichen Grund wird er euch am Leben lassen.“
Jetzt, zwei Tage später, fasste sich Kellen an die Stirn. Die Beule war nicht mehr zu spüren. Der Häuptling war dankbar, dass er Anwindar, dem zornigen Alb, seitdem nicht mehr begegnet war.
„Ich kann warten und voller Genuss zusehen, wie eure erbärmliche Lebenskraft dahinwelkt und ihr im Staub jämmerlich verreckt, so wie es alle Menschlinge eher früher als später tun.“
Bei den Göttern! Glaubte dieser Alb unsterblich zu sein? Kellen hatte kein Bedürfnis, das mit ihm weiter zu besprechen. Und er war dankbar dafür, dass ihnen die übrigen Alben mit mehr Respekt begegneten. Sie waren zurückhaltend, aber sie grüßten höflich, wenn man ihnen über den Weg lief. Einer hatte sich sogar zu so etwas wie einem Gespräch verleiten lassen. Es war ein junger Kerl, mit krausen, schwarzen Haaren und einer für Alben ungewöhnlich dicken Nase. Er zog auf einem Karren einen großen, schwarzen, hölzernen Zylinder hinter sich her. Das Gebilde hatte an den Seiten unzählige fingerdicke Löcher. Die Last war sehr schwer - ganz offensichtlich sogar für einen Alben. Kellen bot ihm seine Hilfe an.
Der Albe kicherte. „Das ist sehr höflich von dir. Aber ich schaffe das schon, wenn ich es mir genau überlege.“ Kellen nickte und kratzte sich dann betont ratlos am Kinn. „Das ist ein Stützpfeiler, richtig? Ich vermute, dass du ein sehr großes Haus bauen möchtest.“
Der Albe lachte laut heraus und hielt sich den Bauch. „Nein, das ist doch kein Stützpfeiler!“ Dann beugte er sich zu Kellen vor, sah einmal kurz nach links und nach rechts und sagte mit leiser Stimme: „Das ist eine neue Waffe.“ Stolz schwang in seinen Worten mit. „Eine, mit der wir die Angriffe aus der Luft nicht mehr fürchten müssen.“ Er runzelte die Stirn. „Aber mehr kann ich dir nicht sagen, wenn ich es mir genau überlege. Trotzdem danke für das Angebot.“ Und schon setzte er seine mühevolle Fahrt in Richtung Verteidigungstrakt fort.
Kellen hatte die zwei Tage genutzt, um sich ein Bild von diesem seltsamen Volk zu machen. Zumindest hatte er es versucht, aber nur in einem Punkt war er sich sicher: Die Alben waren anders als die Menschen. Sie waren ihnen in vielerlei Hinsicht überlegen. Alle, sogar der junge Albe mit dem Karren, trugen feine, saubere Kleider - als wären sie ausnahmslos Fürsten. Alle hatten spitze Ohren, meist lange Haare in unterschiedlichen Farben und außergewöhnlich helle Augen. Körper- und Kopfhaltung verrieten Stolz und Würde. Kellen war es nahezu unmöglich, so etwas wie Standes- oder Rangunterschiede zu erkennen. Aber: Da war noch etwas, das dem Häuptling erst bei näherem Hinsehen auffiel. Einige Alben waren anders, ohne dass Kellen zunächst benennen konnte, worin ihre Besonderheit bestand. Er sah es, wenn er ihnen in die Augen schaute. Er sah die Weisheit uralter, kluger Menschen in jungen, ebenmäßigen Gesichtern. Ein bemerkenswerter Kontrast. Und doch täuschte sich Kellen nicht. Einige Male beobachtete er, dass diese Alben mit besonderer Hochachtung behandelt wurden und über mehr Autorität verfügten als die anderen - so wie Larinil, die den zornigen Anwindar in seine Schranken verwiesen hatte.
Die Albin stand aufrecht im Gras auf einem der vielen kleinen Hügel im Gartenhof, den Blick in den Himmel gerichtet. Ihre Arme formten einen nach oben geöffneten Halbkreis. Der milde Wind spielte mit ihren seidig glänzenden Haaren. Der Frühling hatte den Winter vollends besiegt und nun schien die helle Sonne ihre Wärme im Übermaß über die Burg der Alben auszuschütten.
Als sich Kellen näherte, ließ Larinil die Arme sinken und nickte ihm lächelnd und respektvoll zu. Der Häuptling erwiderte den Gruß.
„Störe ich dich beim Gebet?“
„Du bist mir willkommen, Häuptling Kellen. Und ich bete nicht. An Tagen wie diesen ist das Licht besonders machtvoll. Wir nehmen es in uns auf.“
Kellen sah sich um. Erst jetzt bemerkte er, dass ein wenig abseits vier weitere Alben standen - in gleicher Haltung wie eben noch Larinil.
„Das Licht hat viel Kraft, wenn man es zu nutzen weiß“, fuhr Larinil fort.
„Es gibt Völker, die die Sonne anbeten, als Urmutter, als Quelle von Wärme und des Lebens“, entgegnete Kellen.
Die Albin nickte. „Diese Völker haben verstanden, welche Macht das Licht hat, und sie wissen, dass die Sonne davon durchdrungen ist. Dennoch: Die Sonne ist nur ein Werkzeug. Das Licht war der Anfang. Es steht über allem. Es fließt, durchdringt und wirkt.“
Kellen seufzte. „Unsere Druiden würden das als Verhöhnung der Götter verstehen.“
„Weil sie die Wahrheit nicht kennen, Häuptling Kellen. Ich weiß, das klingt anmaßend. Aber gerade du solltest wissen, was ich meine.“
Kellen sah sie fragend an.
Larinil zog amüsiert die Augenbrauen hoch.
„Ich habe dich mit der Kraft des Lichtes geheilt. Ohne das Licht wärst du vergangen.“
„Dann werde ich dem Licht bei nächster Gelegenheit einen Hirsch opfern und mir einen Lobgesang ausdenken. Und ich werde beten, dass mich die Druiden dabei nicht erwischen.“
Larinil lachte. Dann nahm ihr Gesicht wieder ernsthafte Züge an.
„Ich danke dir für deine Geduld. Es waren nur zwei Tage. Aber sie waren wertvoll für uns“, sagte sie.
„Auch ich habe sie genossen“, antwortete Kellen wahrheitsgemäß.
„Und gut genutzt“, ergänzte Larinil. „Ich sehe, dass du deine Fahrt auf den Wogen des Baches beendet hast.“
Kellen zog schmunzelnd die Augenbrauen hoch. „Trotzdem kommt es mir so vor, als hätte ich nicht alle Wasserfälle umfahren können.“ Er dachte an den unglücklichen Ausflug in den Wald.
„Dich trifft keine Schuld, Häuptling Kellen. Für uns Elvan jal'Iniai hat Zeit eine andere Bedeutung als für euch Menschen. Tage sind Wimpernschläge. Geduld ist eine Tugend, die wir schon im Kindesalter beherrschen müssen. Ich kann nicht das Gleiche von euch erwarten.“
Sie machte eine kurze Pause.
„Jede wichtige Entscheidung wird von uns wohl überlegt, beraten, abermals wohl überlegt, nochmals beraten und erst dann getroffen. Es sind zweifellos weise Entscheidungen. Ein Segen, sicher. Aber ein Fluch, wenn wir die Zeit nicht haben, die wir uns nehmen.“
„Für mich hört sich das nicht nach einem Fluch an. Wir Menschen treffen viele Entscheidungen, ohne nachzudenken. Sehr oft sind es falsche Entscheidungen mit schlimmen Folgen.“
Kellen dachte an Breac, Murddin und Bram. „Ich glaube nicht, dass wir ein gutes Beispiel für euch sind.“
Larinil lachte, zeigte mit der Hand in Richtung Wasserfall und bewegte sich mit langsamen Schritten darauf zu. Kellen ging neben ihr her.
„Was glaubst du, Häuptling Kellen? Sind wir Alben göttliche Geschöpfe? Fürst Morcant ist davon überzeugt. Oder sind wir finstere Dunkelwesen? Dein Freund Domhnall vermutet das.“
Kellen stutzte. Erwartete Larinil darauf eine Antwort? Er war dankbar, als sie fortfuhr.
„Anwindar hat seine eigene Meinung dazu, die er mit vielen von uns teilt. Für ihn sind Alben die erwählten Wesen des Lichts. Erleuchtet, überlegen, machtvoll. Menschen sind für ihn wie Tiere - weder gut noch böse, weder Freund noch Feind. Manchmal sind sie nützlich, manchmal stören sie.“
„Und er hasst uns.“
„Nein, er hasst nicht euch. Er hasst es, dass ihr da seid. Er hasst den Grund, aus dem ihr hier seid. Er hasst es, weil ihr ihm seine eigene Unvollkommenheit vor Augen führt.“
Kellen war verunsichert. Und plötzlich auch ein wenig verärgert. War das ein Spiel? Hatten die Alben sie gerettet und hierher gebracht, weil sie sich langweilten? Weil sie ihre Überlegenheit unter Beweis stellen wollten? Waren Morcant, Domhnall und er die Grillen, die Kellen als Junge zerlegt hatte, um herauszufinden, woher das Zirpen kam?
„Du hast mir eine Frage gestellt, Larinil. Obwohl du mir Antworten versprochen hattest.“
„Weil auch eine Frage zur Erkenntnis führen kann.“
Er blieb stehen und sah ihr freundliches, gütiges Gesicht an. Ein Spiel? Dann spielte er eben mit. Vorerst.
„Ich glaube, dass alle drei recht haben: Ihr seid Teil des göttlichen Lebens auf dieser Welt, nicht mehr und nicht weniger. Und wie bei anderen Geschöpfen gibt es auch Finsternis in euren Herzen. Und ihr seid uns überlegen: Ihr seid schneller, stärker, mächtiger als wir und ihr vollbringt Werke, von denen wir Menschen nur träumen können.“
Larinil zog anerkennend und auch ein wenig überrascht die Augenbrauen hoch. Kellen suchte nach Anzeichen von Verärgerung. Aber er fand keine. Die Albin wandte sich ab und beide gingen weiter. Bald erreichten sie das Ufer des kleinen Sees, in den die feine weiße Gischt des Wasserfalls hineinströmte. Der Wind wehte Kellen ein paar der unzähligen kleinen Tröpfchen ins Gesicht.
„Du bist ein Mensch, Kellen“, sagte die Albin.“ Aber es scheint mir, dass du klüger bist als viele Alben. Deine Antwort ist richtig. Wir sind keine Götter und auch, wenn wir die Vollkommenheit anstreben, sind wir weiter von ihr entfernt als jemals zuvor.“
Ihr Lächeln verschwand und ihre Augen glänzten. Sie weinte nicht, aber ihr göttliches Gesicht zeigte die Trauer unendlicher Jahrhunderte. Als müsse Larinil allein das Leid der Ewigkeit tragen.
Sie sah hinab in das tiefe Blau des kleinen Sees. Kellen folgte ihrem Blick. Das Wasser war rein und vollkommen. Der Häuptling erkannte einen Schimmer, ein mattes Glänzen, das vom Grund des Sees kam. Als wäre der Boden über und über mit silbernen Metallspänen bedeckt.
„Ihr Kelten verehrt eure Ahnen. Ich habe gehört, dass es eine Nacht im Jahr gibt, in der ihr Essen und Trinken vor die Türen der Hütten stellt, weil ihr glaubt, dass die Toten zurückkehren.“
„Ein weit verbreiteter Brauch“, entgegnete Kellen. „Aber mir ist nie einer meinen hochverehrten Ahnen begegnet. Ich hätte ihnen gerne ein paar Fragen gestellt.“
Larinil nickte. Aber sie lachte nicht. Ihr Blick ruhte weiter auf dem Grund des Sees.
„Auch unsere Toten kehren nie zurück. Hier an diesem See, erinnern wir uns an sie. Der Glanz, den du durch das Wasser siehst, ist alles, was von ihnen noch erkennbar ist. Sie sind vergangen und Teil des Lichts geworden. Im Licht leben sie fort. Und nur, indem wir die Kraft des Lichts in uns aufnehmen und sie wirken lassen, ehren wir sie. Nur so hatte ihr Tod einen Sinn.“
Sie schluckte und schwieg für einen Moment. Dann sah sie Kellen fast flehend an.
„Unser Volk droht zu vergehen, Häuptling Kellen. Eine Macht will uns vernichten, der wir nicht gewachsen sind. Und deshalb brauchen wir eure Hilfe.“