Читать книгу Tina Turner - Die Biografie - Mark Bego - Страница 10

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1956 kam die 16-jährige Anna Mae Bullock in St. Louis, Missouri, an. Dies war nun wirklich die größte Stadt, in der sie je gelebt hatte. St. Louis war zu jener Zeit ein ziemlich ruhiger Ort am Mississippi. Doch auf der anderen Seite des Flusses, hinter der Grenze zum nächsten Bundesstaat, liegt East St. Louis, Illinois. East St. Louis galt wegen der dortigen lauten und rauen Clubs und seines Nachtlebens als ein wildes Pflaster.

Nachdem sie ihr ganzes Leben in einer ländlichen Gegend verbracht hatte, öffnete der Umzug nach St. Louis Anna die Augen für einen völlig neuen Lebensstil. Hier schien es Musik und Party ohne Ende zu geben. Sie mochte an St. Louis zwar die weltgewandte Erhabenheit des Mittleren Westens, aber East St. Louis war eine rauere Gegend und erinnerte sie an den amerikanischen Süden.

Annas Mutter Zelma führte in St. Louis ein nicht ganz so wildes Leben. Sie arbeitete als Hausmädchen und lebte mit einem Mann namens Alex Jupiter zusammen, der LKW-Fahrer war. Alline hatte einen Job bei einem wohlhabenden schwarzen Nachtclubbesitzer ergattert, der Leroy Tyus hieß. In seinem Club „The Tail of the Cock“ verdiente sie gutes Geld.

Alline arbeitete unter der Woche und traf sich nach der Arbeit oft mit Männern, die sie kennengelernt hatte. Doch an den Wochenenden ging sie nach der Arbeit mit ihren Freundinnen aus und zog durch die Nachtlokale.

Anna meldete sich an der Sumner High School in St. Louis an. Auf der Schule waren nur Schwarze, aber ihre Klassenkameraden waren ganz andere Leute als die, deren Umgang sie gewohnt war. Es waren die Söhne und Töchter von Ärzten und anderen beruflich erfolgreichen Schwarzen. Sie fühlte, dass sie gesellschaftlich deutlich unter ihnen stand, und kam sich vor wie eine Landpomeranze, die plötzlich in der Großstadt gelandet war.

Die kleine Anna war erstaunt, wie sehr sich Alline verwandelt hatte, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Ihre ältere Schwester kleidete sich nun elegant und stilsicher. Sie trug Stöckelschuhe und Nylonstrumpfhosen und Tina erinnert sich noch an einen ganz bestimmten, mit Samtstreifen besetzten Wollmantel, der Alline gehörte. Alline zog den Mantel nicht wirklich an, sondern drapierte ihn über ihre Schultern, so dass sie, überall wo sie hinkam, gleich einen schwungvollen Auftritt landete.

An einem Samstagabend lud Alline Anna ein, sie und ihre Freundinnen auf eine Tour durch die Clubs zu begleiten. Zelma willigte ein, auch wenn es etwas zweifelhaft war, ob die 16-jährige Anna sich erfolgreich als 21-jährige Frau verkleiden konnte und so überhaupt in die Clubs hineingelassen werden würde.

Anna zog einige von Allines Kleidungsstücken an und trug Lippenstift und Make-up auf ihr jugendliches Gesicht auf, um fraulicher zu wirken. Alline informierte Anna darüber, dass sie genau an jenem Abend zu einem Konzert von einer lokal sehr angesagten Band gehen würden, die den Ruf hatte, den heißesten Sound in ganz St. Louis zu produzieren. Der Name der Band war Ike Turner & The Kings of Rhythm. Für Anna klang das alles nach einem aufregenden Abend, ganz egal, was genau auf dem Programm stand.

Die Kings of Rhythm erfreuten sich in der Gegend einer solch großen Beliebtheit, dass sie im Club „D’Lisa“ in St. Louis Missouri, spielten, bis dieser Club dann nachts schloss, und danach auf die andere Seite des Flusses nach East St. Louis wechselten, um dort von 2 Uhr morgens an im Club „Manhattan“ bis in die frühen Morgenstunden aufzutreten.

Alline erzählte ihrer kleinen Schwester Anna, dass sie an diesem Abend vorhatten, direkt auf die andere Seite des Mississippis in den Club „Manhattan“ zu gehen. Es klang aufregend und auch ein wenig „tabu“. Wie geplant erfüllten ihr Make-up und die Tatsache, dass sie Allines fraulichere Kleidung trug, ihren Zweck: Sie sah alt genug aus, um in das Nachtlokal hineingelassen zu werden.

Der Club „Manhattan“ wurde dem Ruf, der ihm anhing, völlig gerecht und erinnerte Anna an einige Clubs, die sie in den „The Hole“ genannten Vierteln von Ripley und Brownsville gesehen hatte. Im Lokal fanden 250 Leute Platz. Die Bühne stand in der Mitte des Raumes und war von Tischen und Stühlen umgeben. Tina weiß noch, dass an der einen Wandseite des Clubs ein Gemälde hing, auf dem Ike Turner & The Kings of Rhythm abgebildet waren.

Anfangs war Anna noch nicht allzu begeistert von dem, was sie dort erlebte. Die Kings of Rhythm waren bereits auf der Bühne und spielten ein paar Stücke zum Aufwärmen, bis dann der berühmte Chef der Band erschien. Gemeinsam mit Alline und ihren Freundinnen saß sie ruhig da und wartete darauf, dass etwas passierte. Und es geschah tatsächlich etwas: Der beliebte Ike Turner kam auf die Bühne und sofort ging eine Welle der Aufregung durch den Club.

„Hi, Ike“, rief ihm jemand aus der Menge zu. Er schüttelte mehreren Leuten die Hände und ging noch ein paar Schritte weiter. „Wie geht’s dir, Ike?“, brüllte irgendjemand anderes. Anna bekam zum ersten Mal mit, wie es ist, wenn eine Berühmtheit den Raum betritt. Irgendwie schienen alle Augen auf Ike Turner gerichtet.

Anna bemerkte auch, dass das Publikum vor allem aus Frauen bestand, die ganz offensichtlich gekommen waren, um sich dieses lokale „Sexsymbol“ anzuschauen. Anna weiß noch, wie sie genau dort an Ort und Stelle dachte, dass sie es zwar interessant fand, Ike zuzusehen, er aber definitiv – und zwar nicht im geringsten – zu der Sorte Mann gehörte, die sie anziehend fand.

Später erzählte sie: „Was für ein tadellos aussehender schwarzer Mann. Aber er war einfach nicht mein Typ – überhaupt nicht. Seine Zähne sahen so komisch aus und seine Frisur auch – so eine geglättete Frisur mit ein paar Wellen, die angeklatscht auf seiner Stirn lagen. Es sah aus wie eine angeklebte Perücke. Als er näher kam, dachte ich: ‚Oh Gott, ist der hässlich.‘“ (4)

Doch als er dann die Bühne betrat und anfing, Gitarre zu spielen, schaltete er irgendwie sein Charisma ein. Auf einmal schien der ganze Club in Bewegung, alle tanzten und wiegten sich zur Musik, machten Party. Tina erinnert sich, dass sie an jenem Abend fast in eine Art Trance verfiel, als sie diese Musik hörte. Obwohl sie ihn rein von seiner körperlichen Erscheinung her nicht attraktiv fand, hatte er doch das gewisse Etwas. Die Art, wie er sich auf der Bühne bewegte, und die Energie, die von ihm ausging, wirkten hypnotisierend auf sie.

Ike Turner war jemand, der an seiner Musik und seiner erotischen Ausstrahlung lange Zeit gefeilt hatte. Er hatte bereits ein paar kleinere Erfolge im Plattengeschäft erzielt, hatte aber Probleme damit, Sänger, die bei ihm einen Hauptpart übernahmen, in seiner Band zu halten. Es schien, als ob jedes Mal, wenn er auf dem Markt einen Hit landete, der Sänger plötzlich die Band verließ, weil er von einer Karriere als Solo-Künstler träumte. Bisher hatte er seinen größten Erfolg mit dem Lied „Rocket 88“ erzielt, aber als es herauskam, wurden Jackie Brenston & The Delta Cats als Autoren des Songs genannt. Doch Ike Turner verlor den Durchbruch nicht aus den Augen. Irgendwann würde er es schon schaffen, einen Sänger in seiner Band zu halten, einen, bei dem die Chemie zwischen ihnen stimmen würde. Doch bis dahin war er erst einmal ein großer Star der Nachtclubszene von St. Louis.

Ike wurde am 5. November 1931 als Izear Luster Turner Jr. in Clarksdale, Mississippi, geboren. Sein Vater war Baptistenpfarrer und seine Mutter Beatrice Schneiderin. Beatrice gab ihm den Kosenamen „Sonny“ und nannte ihn sein ganzes Leben so. Er hatte nur eine Schwester, Lee Ethel, die zehn Jahre älter war als er.

Er verlor seinen Vater schon sehr früh. Anders als Annas Vater, der sich plötzlich einfach davonmachte, starb Ikes Vater, nachdem er übel zusammengeschlagen worden war. Ike Senior hatte anscheinend die Frau eines weißen Anwohners nicht nur religiös „betreut“. Ike erinnerte sich noch daran, wie eine wütende Gruppe weißer Männer zu den Turners nach Hause kam und Ike Senior vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder aus dem Haus zerrte. Stunden später wurde er wieder – zusammengeschlagen und mit diversen Verletzungen – auf seinem Grundstück abgeladen. Als ein örtliches Krankenhaus für Weiße ihn nicht aufnehmen wollte, behandelte man ihn in einem speziellen Zelt, das bei den Turners im Vorgarten aufgebaut wurde. Obwohl sein Vater noch drei Jahre weiterlebte, verließ er sein Krankenbett nie mehr.

Ike Turners Karriere begann schon sehr früh und sein Sexualleben sogar noch früher. „Ich begann mit sechs Jahren, Sex zu haben. Ja, wirklich. Die Frau war 45 oder 50 und hieß Miss Boozie. Sie setzte mich immer auf sich oben drauf und zeigte mir, wie man sich bewegte … Na ja, heute nennt man so etwas ‚Kindesmissbrauch‘. Ich hatte einfach nur meinen Spaß.“ (13)

Seinen ersten Job bekam er im Alcazar Hotel in der Innenstadt von Clarksdale. Zuerst war er im Hotel der Liftboy und arbeitete dann bei dem Radiosender WROX, der sich im gleichen Gebäude befand. Ike entsann sich: „Ich bekam einen Job im Alcazar, da musste ich immer den Fahrstuhl hoch- und runterfahren. Der Radiosender war im zweiten Stock. Für mich war das etwas sehr Aufregendes, so ein Radiosender. Ich lief dann immer hoch in den zweiten Stock und lugte durch das Fenster, wo ich einem Typen dabei zusah, wie er die Platten abspielte. Er sah mich und sagte, ich solle reinkommen. Dann zeigte er mir, wie man ‚eine Platte hält‘. Ich saß da und hielt sie fest, bis die, die gerade abgespielt wurde, zu Ende war. Dann drückte ich einen Knopf und die, die ich festgehalten hatte, wurde ebenfalls abgespielt. Kaum dass ich mich versah, ging er auf die andere Straßenseite, um sich einen Kaffee zu holen, und ließ mich da drin allein. Ich war erst acht. Da begann ich mich mit Musik zu beschäftigen.“ (14)

Als Kind konnte er viel Zeit in einem der örtlichen Clubs verbringen, weil dieser der Mutter seines Freundes Raymond Hill gehörte. Unter den Leuten, die dort regelmäßig auftraten, waren Robert Nighthawk und der Harmonikaspieler Sonny Boy Williamson.

Ikes Liebe zur Musik setzte sich kontinuierlich fort. Plötzlich faszinierte ihn die Idee, Klavier spielen zu können. „Als Kind, wenn man da in der Kirche ein Klavier sieht, dann bemerkt man es nicht – ich zumindest nicht“, sagte Ike. „Aber eines Tages ging ich von der Schule nach Hause und kam am Elternhaus von Ernest Lane (einem Freund aus Kindheitstagen) vorbei. Da hörte ich diese Musik! Pinetop Perkins haute wie wild in die Tasten. Lane und ich begannen ihn durchs Fenster hindurch zu beobachten und waren dann sofort im Haus und schauten ihm, an der einen Ecke des Klaviers stehend, zu. Ich rannte nach Hause und sagte zu meiner Mutter: ‚Mama, ich möchte ein Klavier!‘ Sie antwortete mir: ‚Mach die dritte Klasse zu Ende und bring mir ein gutes Zeugnis nach Hause – dann besorge ich dir eines.‘ Als ich mit meinem Zeugnis aus der Schule kam, hatte ich mein verfluchtes Klavier.“ (14)

Ike verbrachte seine Zeit liebend gern in Billardhallen – sogar schon als Junge. Er ging mit seinem Freund Ernest dahin. Da hörte er zum ersten Mal Joe Willie „Pinetop“ Perkins auf dem Klavier Boogie-Woogie spielen. Es war nicht gerade schwer, Ike davon zu überzeugen, dass es sicherlich viel mehr Spaß machte, heiße Jazz-Musik zu spielen als die klassischen Klavierstücke, die ihm sein Klavierlehrer beibrachte. Ike erinnerte sich: „Pinetop brachte sowohl mir als auch Ernest das Spielen bei.“ (14)

Bald machte Ike bei seiner ersten Band mit, den High Hatters. Der Star ihrer Show war ein Posaune spielender Zahnarzt namens Dr. E.G. Mason. Sie spielten in Bars, Juke Joints, auf Partys und örtlichen Tanzveranstaltungen. Um 1948 herum, als sich die High Hatters trennten, gründeten die Musiker, die professioneller waren und auch Noten lesen konnten, ihre eigene Band mit dem Namen The Dukes of Swing. Die weniger professionellen, aber jüngeren und energie­geladeneren Jungs fanden sich ebenfalls als eigene Band zusammen und nannten sich The Kings of Rhythm.

Ike erinnerte sich an die langen und ausgiebigen Konzerte, die sie gaben: „Wir spielten in den Juke Joints“, sagte er. „Wir fingen um acht Uhr abends an und spielten bis acht Uhr morgens – ohne Pause. Und wenn man auf die Toilette musste? Tja, auf diese Weise lernte ich Schlagzeug und Gitarre spielen: Wenn jemand austreten musste, dann musste irgendjemand anderes seinen Platz einnehmen.“ (14)

Ike träumte oft davon, eines Tages groß herauszukommen. Beim Spielen in diesen Nachtlokalen sah er, dass ganz unterschiedliche Leute gekommen waren, um sich seine Musik anzuhören: „Ich sah, wie weiße Typen mit ihren kleinen weißen Mädels, die eine Nerzstola trugen, im Auto ihres Vaters angefahren kamen, und sagte mir: ‚Oh, Mann, irgendwann werde ich auch mal so sein wie die.‘“ (5)

Eines Abends gingen die Kings of Rhythm in einen Bluesclub in Chambers, Mississippi, wo der Star des Abends B.B. King war. Er war sechs Jahre älter als Ike und auch eine lokale Berühmtheit. Da er bereits Platten herausgebracht hatte, verfügte er über eine beträchtliche Anhängerschaft. Nachdem King sein Programm vorgetragen hatte, forderten die Clubbetreiber Ike und die Kings of Rhythm auf, doch auch ein paar von ihren Songs zu spielen. Als sie damit fertig waren, sagte B.B. King zu Ike, er habe eine tolle Band und solle doch mal damit anfangen, Aufnahmen zu machen.

Es dauerte nicht lange, bis sie das auch wirklich taten. Ike ging nach Memphis und bezahlte Sam Phillips, den Gründer von Sun Records dafür, dass dieser Aufnahmen von seiner Band machte. Drei Jahre später kam auch ein junger LKW-Fahrer namens Elvis Presley zu Phillips, um für seine Mutter ein Geburtstagsständchen aufzunehmen – und so begann eine der größten Erfogsstorys der gesamten Musikgeschichte. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Bei dem Song, den Ikes Band an jenem Tag aufnahm, handelte es sich um „Rocket 88“, den Turner mit dem Mann zusammen schrieb, der damals bei der Band sang: Jackie Brenston. Ursprünglich versuchte sich Ike als Leadsänger, doch das Ergebnis war alles andere als erfolgreich.

Sam Phillips erinnert sich: „Ich hörte Ike im Studio singen und sagte ihm unmissverständlich, dass ich ihn einfach nicht als Sänger sah: Intonation und Phrasierung – beides fehlte. Aber er war ein verdammt guter Musiker – einer der besten Pianisten, die ich bis dato gehört hatte. Daraufhin sagte er mir, dass Jackie singen könnte, und da nahmen wir dann ‚Rocket 88‘ auf.“ (4)

Später beschwerte sich Ike: „Sam Phillips schrieb Jackie Brenstons Namen darauf, meinen aber nicht, mit der Ausrede, er könne nicht zwei Platten herausbringen, auf denen der Name Ike Turner stand.“ (15)

Als „Rocket 88“ 1951 bei Chess Records herauskam, versehen mit der Angabe, das Stück sei von „Jackie Brenston & The Dixie Cats“, wurde es zu einem Nummer Eins-Hit der US-amerikanischen Rhythm & Blues-Charts. Es wird sogar oft als die erste echte Rock & Roll-Platte bezeichnet.

Auf seine eigene, etwas raue Art versuchte Ike zu erklären, was den besonderen Sound des Liedes ausmachte: „Ich ging da nicht rein, um irgendwas völlig Neuartiges aufzunehmen. Für mich ist ‚Rocket 88‘ eine Mischung aus Rhythm & Blues und Boogie-Woogie.“ (15)

Jackie Brenston war überzeugt davon, es nun zum großen Gesangsstar gebracht zu haben, und verließ die Kings of Rhythm auf der Stelle. Bei einer Aufnahmesession von B.B. King wurde Ike zufällig einem Mann namens Joe Bahari vorgestellt, dem die Plattenfirma Modern/RPM Records gehörte. Bald darauf arbeitete Turner für Bahari. Er war damit betraut, neue Blues-Talente zu entdecken, die dann bei Baharis Label Aufnahmen machen sollten.

Parallel dazu arbeitete Ike weiterhin mit den Kings of Rhythm zusammen. Mit der Single „My Heart Belongs To You“, auf der außerdem das Lied „Looking For My Baby“ zu hören war und die 1952 herauskam, stellte Turner die Weichen für die Band, die später unter dem Namen „The Ike & Tina Turner Revue“ bekannt werden sollte. Als Sänger waren darauf „Bonnie und Ike Turner“ angegeben. Im darauffolgenden Jahr wurden vier weitere Stücke von „Ike & ­Bonnie Turner“ aufgenommen. Doch die Aufnahmen hatten überhaupt keinen Erfolg. Ike schien ein großartiger Musiker zu sein, doch niemand mochte wirklich seinen Gesang.

Ikes Gesangsstimme, wie sie auf einigen der späteren Ike & Tina-Alben zu hören war, klingt in keiner Weise markant oder auch nur angenehm. Stattdessen ist sie flach, dünn und besitzt überhaupt keine Klangtiefe. Ike schrieb und machte großartige Musik, konnte aber schlicht und einfach nicht singen.

1953 waren die Pianistin Bonnie Mae Wilson und ein Sänger namens Johnny O’Neal Teil der neuesten Bandzusammensetzung. Nach einem Muster, das sich später bei ihm wiederholen sollte, heiratete er Bonnie und sie machten weiterhin zusammen Musik. Doch es dauerte nicht lange, bis sich Bonnie von der Bühne zurückzog und im Rahmen von Ikes florierenden musikalischen Aktivitäten im Businessbereich arbeitete. Allerdings endete ihre Ehe kurze Zeit später.

In den nächsten drei Jahren hatten Ike und seine Kings of Rhythm gut zu tun und brachten Dutzende von Singles bei den Plattenfirmen Sun, Modern, RPM und Federal Records heraus.

1956 dann hatte Ike einen Mann namens Billy Gayle als Leadsänger in seiner Band. Sie nahmen einen Hit bei Federal Records auf, der den Titel „I’m Tore Up“ trug. Wieder war es so, dass, sobald die Platte sich als Hit herausstellte, Gayle ebenfalls die Band verließ. Irgendwie schien sich in den Ablauf der Dinge schon ein gewisses Muster eingeschliffen zu haben. Ike hoffte verzweifelt darauf, einen Sänger zu finden, der bei ihm bleiben würde.

An dem Abend, an dem sich Anna Mae Bullock Ikes Konzert anschaute, war sie völlig gebannt von dem, was sie auf der Bühne sah und hörte. Bei seiner Bühnenshow hatte Ike schon seinen festen Ablauf: Er bat hübsche Frauen aus dem Publikum auf die Bühne, die dann mit seiner Band zusammen singen durften. Es wurde ein mit einem langen Kabel versehenes Mikrofon herumgereicht. Natürlich war es so, dass einige Frauen tolle Stimmen besaßen, während andere keinen einzigen Ton trafen. Als Anna sich das Konzert an jenem Abend anschaute, wusste sie, dass sie mit ihrem Gesang alle anderen Frauen, die sie an jenem Abend hörte, in den Schatten stellen konnte, und sehnte sich danach, ihre Sangeskünste einmal unter Beweis stellen zu können.

Tina erzählt: „Ich hörte Ike Turner zum ersten Mal und ich sah Ike Turner auch zum ersten Mal. Und wollte wirklich lange mit ihm singen, aber ich sah einfach nicht danach aus.“ (16)

Ike Turner hatte nicht nur den Ruf, ein großartiger Musiker und ein versierter Talentscout zu sein, er war auch für seine notorischen Gewaltausbrüche und sein leicht erregbares Temperament bekannt. „Er hatte einen schlechten Ruf und war als ‚der pistolenschwingende Ike Turner‘ bekannt“, so Tina. (5)

Doch das schreckte sie nicht ab. „Ich war ein Fan. Oder, na ja, wurde zu einem, nachdem ich seine Show und seine großartigen Musiker gesehen hatte. Sie brachten die Bude echt zum Toben. Es war unglaublich“, verrät sie. (16)

Als sie diesen Möchtegern-Sängerinnen dabei zuschaute, wie sie ihren kurzen Moment der Berühmtheit beim Singen im Scheinwerferlicht erlebten, brachte dies Anna dazu, sich nach einer Gelegenheit zu sehnen, Ike Turner zu zeigen, wie gut sie singen konnte. „Ich wollte nach oben zu diesen Typen“, erinnert sie sich lebhaft. „Sie brachten die Leute zum Tanzen. In dem Club war die Hölle los. Mit dieser Energie musste ich da rauf.“ (5)

Anna war sofort ein begeisterter Fan von Ike Turner & The Rhythm Kings, und fast jeden Samstagabend gingen sie, Alline und ihre Freundinnen zuerst in den Club „D’Lisa“ und danach in den Club „Manhattan“. Sie besuchten so viele Konzerte, dass sich die beiden Bullock-Schwestern mit einigen Mitgliedern der Band anfreundeten. Alline begann sogar irgendwann eine Beziehung mit Gene Armstrong, dem Schlagzeuger der Band.

An einem schicksalhaften Abend war es dann soweit: Anna Mae Bullock durfte ans Mikrofon treten. Tina erzählt: „Es ist die Geschichte, wie Ike ein Talent entdeckte. Ich hatte schon vorher zu ihm auf die Bühne gewollt – wollte immer noch unbedingt da rauf, da die musikalische Anziehungskraft einfach zu groß war. Aber ich war eben immer ein sehr dürres Mädchen und passte da nicht so hin, weswegen man mich nie auf die Bühne holte. Und dann war meine Schwester schließlich mit diesem Schlagzeuger zusammen, der sie damit aufzog, dass sie nicht singen konnte. Er gab ihr das Mikrofon und sie reichte es an mich weiter und ich fing an zu singen … und zwar einen Song von B.B. King. Und da erkannte Ike, was in mir steckte.“ (7)

Bei dem Lied, das sie sang, handelte es sich um das aktuelle „You Know I Love You“ von B.B. King. Nachdem er Annas Stimme gehört hatte, war Ike Turner völlig hin und weg. Er war so verblüfft, dass er aufhörte, Orgel zu spielen, von der Bühne ging, zu Anna herüberkam und sie hoch in die Luft hob.

Tina erzählt: „Alle kamen hereingerannt, um nachzuschauen, wer denn das Mädchen war, das da sang. Dann stieg Ike von der Bühne herunter. Er war richtig schüchtern und sagte: ,Ich wusste nicht, dass du wirklich singen kannst!‘“ (6) Dann fragte er sie, welche anderen Lieder sie noch kenne.

Anna sagte ihm, sie beherrsche alle Songs von Willie John und noch einige andere Titel, die gerade im Radio gespielt wurden. Ike nahm Anna mit auf die Bühne und ließ sie einen Song nach dem anderen für sich und das Publikum singen.

„Ich ging zu Ike auf die Bühne und war natürlich sehr aufgeregt. Aber ich bekam das sehr gut hin, denn ich war ja mein ganzes Leben lang Sängerin gewesen“, erinnert sich Tina. (7)

Als Ike sie nach ihrem Namen fragte, antwortete sie: „Anna.“ Da sie so jung und so dürr war, nannte er sie „Little Ann“. Nach dem Konzert, erzählte Ike Anna alles über seine Band und die Probleme, die er mit den Sängern hatte, die die Band verließen, sobald ihre Platten zu Hits wurden. „Mein Problem, little Ann, besteht darin, dass mir die Leute immer meine Songs weggenommen haben“, behauptete er. Von Annas Gesangsstimme war er so beeindruckt, dass er sie darum bat, in relativ regelmäßigen Abständen mit seiner Band zusammen zu singen. Sie war außer sich vor Freude. Dass sie schnell auf der Bühne landete, erklärt sie folgendermaßen: „Ike stand, als ich kam, richtiggehend unter Schock und ließ mich von da an nie wieder los.“ (5)

Warum schnappte gerade Anna sich an jenem Abend so zielstrebig das Mikrofon und wieso war Alline froh, dass sie es weitergeben konnte? Weshalb sang Alline nicht selbst? Als Schwestern hatten sie doch sicherlich ähnliche Stimmen. Tina zufolge hatte sie schon immer dieses Feuer in sich und bei Alline war das eben einfach nicht der Fall. „Manche Menschen haben das von Natur aus und müssen nicht viel dafür tun, aber ich schon, und ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Meine Schwester und ich waren total verschieden. Sie war sehr langsam und ich dagegen immer sehr schnell.“ (12) Annas eigenes Talent war etwas, das tief in ihrem Innern steckte, und es war einzigartig. „Ich begann dann, an den Wochenenden regelmäßig mit ihnen zu singen. Da ging ich noch zur High School“, erzählt Tina. (7)

Jedoch war das alles nicht ganz so einfach. Natürlich nahm Anna sein Angebot an, wusste aber, dass ihre Mutter ausrasten würde, wenn sie erfuhr, dass ihre Tochter mit dem berüchtigtsten, als Weiberheld verschrieenen Musiker in ganz East St. Louis zusammen sang. Eine kurze Zeitlang schaffte Anna es, das alles vor ihrer Mutter geheim zu halten.

Doch dann parkte eines Nachmittags ein großer Cadillac vor dem Haus, in dem Anna wohnte, und eine Frau namens Annie Mae Wilson stieg aus. Sie klopfte an die Tür und Zelma machte auf. Annie fragte, wo Anna sei, und erklärte, sie sei spät dran und müsse zur Probe. Da war es raus. Als Anna Mae nach Hause kam – sie war mit einer Freundin schwimmen gewesen –, konfrontierte ihre Mutter sie mit dem, was sie gerade zu hören bekommen hatte: Dass Anna bei Ike Turner in der Band mitsang. Sie schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht und fragte sie, ob sie in Nachtclubs gesungen habe. Schließlich war sie erst siebzehn. Anna gab alles zu.

Daraufhin sagte ihre Mutter zu ihr, dass sie gedacht habe, Anna würde Krankenschwester werden und nicht Nachtclubsängerin – vor allem nicht eine, die mit Ike Turner zusammen auftrat. Anna Mae antwortete, dass sie viel lieber Sängerin werden würde. Ihre Mutter erwiderte: „Jetzt hat es sich ausgesungen – ich will nichts mehr davon hören.“ (1)

Eine Weile galt dies als ehernes Gesetz. Doch es dauerte nicht allzu lange, bis Ike Turner – höchstpersönlich – bei ihnen zu Hause auftauchte und mit Zelma sprechen wollte. Anscheinend saß er gerade wieder in der Klemme und brauchte unbedingt einen Sänger für seine Band. Er hatte sich fein gemacht und trug ein schickes Banlon-Hemd und Hosen aus Gabardine-Stoff. Als er mit seinen Erklärungen fertig war, hatte er Annas Mutter total um den Finger gewickelt. Er versprach, dass er persönlich auf Little Ann aufpassen und sicherstellen würde, dass ihr nichts passierte. So begann Anna Mae also offiziell mit den Kings of Rhythm zu singen.

Zweifelsohne besaß Anna Mae Bullock bereits damals eine wundervolle, sehr ungewöhnliche Stimme. Tina erklärt: „Als ich begann, mit Ike zusammen zu singen, richtete ich mich nach den männlichen Sängern, die so um mich herum waren, wie Ray Charles und Sam Cooke. Als ich mit dem Singen anfing, gab es mehr Sänger als Sängerinnen. Ich glaube, dass ich so eine schwere, tiefe Stimme habe, weil auch die Stimme meiner Mutter so tief ist – und die meiner Schwester ebenfalls. Ich glaube, das Raue in meiner Stimme ist einfach ihr natürlicher Klang. Aber mein Stil rührte eigentlich daher, dass ich das, was ich in meiner Umgebung so hörte, imitierte und kopierte. Ich habe keine schöne Stimme. Sie klingt sogar manchmal ziemlich hässlich. Das, was man eigentlich unter „Singen“ versteht, mache ich nicht so gern. Hübsch zu singen, war nie mein Stil. Ich finde keinen Gefallen daran, hübsche Liedchen zu trällern. Aber mir gefällt es, wenn die Songs rau und rockig klingen. Ich mag Rock & Roll-Songs, weil das eben zu meiner Stimme passt.“ (10)

Für eine gewisse Zeit hatte Anna Mae das Gefühl, sie sei urplötzlich zu einer Art Aschenputtel geworden. Es war einfach zu aufregend, auf einmal im Rampenlicht zu stehen. „Ich wurde zu einer Art Star und fühlte mich wie etwas Besonderes. Ike ging los und kaufte mir Kleidung für meine Bühnenauftritte – einen Pelz, Handschuhe, die bis hier oben reichten, Modeschmuck und Pumps, die hinten offen waren und glitzerten, außerdem noch lange Ohrringe und modische, figurbetonte Kleider. Und ich trug einen gepolsterten BH. Ich fand mich so toll. Und dann auch noch in diesem Cadillac zu sitzen, den Ike damals hatte – es war ein pinker Fleetwood mit Heckflossen. Ich fühlte mich echt wie so eine Reiche! Und das war ein gutes Gefühl.“ (6)

Ike fing an, Anna in die Art von Star zu verwandeln, von dem er wusste, dass sie so einer sein konnte. Er bezahlte ihre Zahnarztbesuche, um ihre lange vernachlässigten Zähne in Ordnung zu bringen. Er kaufte ihr sogar einen Goldzahn, wodurch sie sich plötzlich wie jemand Besonderes fühlte. „Ich hatte ein Problem mit meinen Zähnen und meine Mutter hatte zu jenem Zeitpunkt kein Geld, um für Zahnarztkosten aufzukommen. Er sorgte dafür, dass das alles gemacht wurde. In seiner Gegenwart war ich ein kleiner Star. Ich verhielt mich diesem Mann gegenüber loyal. Er behandelte mich gut“, sagt Tina. (5)

Sie erinnert sich: „Es gab drei Kleider, die Handschuhe, die Pumps mit den offenen Hacken und die Strümpfe, bei denen die Naht hinten verlief. Das war so richtige Erwachsenenkleidung, wissen Sie. Und ich fand es so wahnsinnig aufregend, in einem pinken Cadillac zu sitzen. Ich war immer total begeistert von diesen ganzen Filmstars. Jetzt fühlte ich mich wie Bette Davis oder irgendsojemand. Ich trug die Nase ganz schön hoch. Aber diese Phase war bei mir ziemlich schnell wieder vorbei.“ (7)

Mit Ike und seiner Band zu arbeiten, war wie die Erfüllung eines Wunschtraumes. „Ike hatte von Natur aus irgendetwas an sich, so dass man gar nicht anders konnte, als ihn gern zu haben. Und wenn er dich mochte, tat er sozusagen alles für dich. Ich war da, weil ich es wollte. Ike Turner gab mir die Möglichkeit zu singen. Ich war bloß so ein kleines Mädchen vom Lande, aus Tennessee. Dieser Mann aber hatte ein großes Haus in St. Louis und einen Cadillac, Geld, Diamanten, Schuhe, all das, was Schwarze aus einer anderen Schicht bewunderten.“ (5)

Von Annas Talent war Ike einfach überwältigt. „Ich konnte seine Songs genau so singen, wie er sie sich in seinem Kopf vorstellte“, behauptet sie. (1) „Ich war Sängerin, Ike konnte nicht singen. Ich spürte, dass ihm das wehtat – weil er es sich eben so sehr gewünscht hatte, ein Star zu werden.“ (12) Aber sie bekam auch einen sehr guten Einblick in sein Privatleben.

Sie wusste sofort, dass Ike so ein Frauenheld war, wie es ihm immer nachgesagt wurde: „Oh Gott, ich weiß noch, wie er an manchen Abenden vielleicht so sechs Freundinnen im Haus hatte, und er blieb dann dort und rief seine Frau an, sie solle am selben Abend in den Club kommen – das war seine einzige Rettung.“ (6)

Anna war überhaupt nicht auf Ike Turner als Mann aus. Sie hatte dahingehend kein Interesse an ihm. Er war schließlich offiziell immer noch verheiratet, mit einer Frau eng verbandelt und hatte nebenher noch eine ganze Reihe von anderen Freundinnen. Anna wollte in das Ganze nicht mit hineingezogen werden. Sie war eine Sängerin, er der Bandleader und beide waren sie sehr gute Freunde. Er konnte sich ihr wie einem Kumpel oder einer Schwester anvertrauen. Sie war glücklich damit, ihr Verhältnis auf dieser Ebene zu halten.

Tina sah das so: „Ike behandelte mich zu Beginn meiner Karriere sehr gut. Ich ging zur High School und fing an, an den Wochen­enden mit ihm zusammen zu singen. Wir waren eng befreundet. Unser Leben war eigentlich sehr nett.“ (16)

Ike klagte Anna oft sein Leid und erzählte ihr, er habe das Gefühl, dass alle ihn genau dann verließen, wenn er kurz vor dem großen Durchbruch stand. Mit dem Verlassenwerden kannte Anna sich sehr gut aus. Sie konnte es ihm perfekt nachfühlen. „Er war untröstlich darüber, dass jedes Mal, wenn er mit jemandem gemeinsam einen Plattenhit landete, diese Person natürlich unbedingt der Star sein wollte“, erinnert sie sich. „Er war mir gegenüber sehr freundlich und sehr großzügig. Schon lange vor dem Beginn unserer Beziehung. Ich versprach ihm, dass ich ihn nicht verlassen würde.“ (8)

In den 1960ern sollte sie Kompositionen von Ike Turner wie „Tina’s Prayer“ und „A Letter From Tina“ aufnehmen. Über ihr erstes Jahr bei Ike und den Kings of Rhythm hätte man ein weiteres Lied dieser Art schreiben können – und zwar mit dem Titel „Tina’s Promise“. Denn sie hatte vor, das Versprechen – ihn nicht zu verlassen – auch wirklich zu halten. Dies war etwas, das ihr selbst in ihrem jungen Leben noch niemand geschworen hatte. Etwas, das sie auch Jahre später noch quälend verfolgen sollte.

Aber vorerst war Anna Mae Bullock aus Nutbush, Tennessee, ein echter Gesangsstar. Und dabei ging sie noch zur High School! Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie endlich einmal das Gefühl, jemand zu sein. Sie hatte einen Ort, wo sie sich heimisch fühlte, Menschen, denen sie als Freundin wichtig war, und einen Job, von dem sie bisher nur zu träumen gewagt hatte. Mit einem Schlag hatte sich ihr furchtbares Leben in ein wundervolles verwandelt. Momentan – als Siebzehnjährige – lebte sie erst einmal „Little Anns“ Traum.

Tina Turner - Die Biografie

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